'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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August 2005
Kerzenschein
von Elsa Rieger

Anna atmete die kühle Nachtluft ein. Im Hospiz schräg gegenüber war alles dunkel. So wie in ihrem Haus. Im Schein der Kerzenlichter, die ihre Nachbarin jeden Abend in die Fenster stellte, raffte sie ein paar Wäschestücke zusammen. Sie musste sich beeilen, wollte sie Fe noch wach erwischen; ein Blick hinüber zeigte ihr, dass die Teelichter am Verlöschen waren. Während sie die Treppe hinunterlief, zog sie die Latexhandschuhe aus, knüllte sie mit der Wäsche unten in die vorbereitete Tasche. Schnell riss Anna im Wohnzimmer einige Bilder von den Wandhaken, legte ein paar Stühle um, zog Schubladen aus den Möbeln und drapierte den Inhalt auf dem Boden. Sie leerte den Schmuck aus der Schatulle dazu, pflückte die paar echten Stücke heraus, packte sie zu den Sparbüchern und dem Bargeld.
Dann demolierte sie das Schloss der Eingangstüre mit einem Schraubenzieher, fuhr mit ihm von außen in den Türspalt, die Holzkante zersplitterte. Sie warf das Werkzeug ins Gepäck, schnappte es und rannte zu Fe hinüber. Läutete Sturm.
„Ja, wer ist da?“
„Ich bin’s, Anna! Lass mich rein, schnell!“, schluchzte sie.
Fe war blass vor Schreck. „Um Himmels Willen, Anna!“
Anna schob sie ins Haus, verriegelte die Tür hinter ihnen.
„Hat er dich wieder ...“
„Ja!“, heulte sie und warf sich in die ausgebreiteten Arme ihrer langjährigen Freundin. Annas Körper zuckte, Fe streichelte ihren Rücken.
„Komm, lass uns Tee trinken“, sagte sie.
Während Fe in die Küche ging, tauschte Anna in fliegender Hast die mittlerweile abgebrannten Kerzen gegen neue aus, zündete sie an. Die leeren Aluminiumbecher stopfte sie in ihre Reisetasche. Anschließend eilte sie in die Küche, goss den Tee auf und öffnete die Packung mit dem englischen Gebäck. Anna trug das Tablett ins Wohnzimmer, Fe hielt sich an ihrer Schulter fest, statt den Stock zu benutzen, ertastete den Sessel und nahm Platz.
„Oh, es tut mir Leid, was du mitmachst“, sagte sie.
Anna reichte ihr den Tee. „Bin nur froh, dass die Mädchen seit gestern bei Mutter sind. Als ob ich’s geahnt hätte. Fe, er war heute derartig besoffen und dermaßen wütend. Warum, kann ich nicht sagen. Er hat mir den Kiefer ausgerenkt.“
Fe schüttelte den Kopf. „Da muss was passieren. Bald. Marion ist sechs, Therese fast vier, du immer als Prellbock dazwischen, damit er wenigstens sie in Ruhe lässt ... das kann so nicht weiter gehen, Anna. Die kriegen das allmählich mit.“
„Der Sauhund bringt mich um, wenn ich von Scheidung rede. Erinnere dich an letztes Jahr!“
Sie tranken Tee. Fe knabberte Kekse.
„Ja, ich weiß noch genau. Du hättest ihn anzeigen müssen. So etwas ist Nötigung, selbst wenn er dein Ehemann ist, Anna. Vergewaltigung ist strafbar. Immer. Und dann die Sache mit dem Haushaltsgeld! Wenn du einen Cent nicht belegen kannst ... ach, ich verstehe dich nur zu gut. Ich war auch feige, als mich meiner damals mit dem Kopf gegen die Bettkante knallte, dass ich bewusstlos war. Er ist dann selbst gegangen. Wer weiß, ob ich mich hätte befreien können. Aber ich war blutjung, weißt du? Ich hatte keine Kinder.“
Anna bewegte den schmerzenden Kiefer.
Fe fragte: „Wie spät ist es eigentlich?“ Sie tastete nach der Uhr, die auf dem Tischchen neben ihr an einem bestimmten Platz lag. Anna war schneller und legte sie in die Tasche.
„Wo ist denn meine Uhr, komisch.“
„Keine Ahnung, Fe. Es ist zehn.“
„Wirklich? Mir war, als hätte ich gerochen, dass meine Kerzen zu Ende gehen.“
„Ach nein! Sie brennen fröhlich, deine Totenlichter“, sagte Anna heiter. „Du musst dich getäuscht haben.“
Fe schnaubte. „Totenlichter! Wegweiser sind das. Jede Seele, die im Hospiz einen Körper verlässt, kann so ihren Weg finden und aufsteigen.“ Anna seufzte. Seit Fe’s sechzigjährige Mutter vor einem Jahr dort drüben von Krebs zerfressen zugrunde gegangen war, zelebrierte sie diese Ritual. Die Teelichter brannten allabendlich von acht bis Mitternacht. Unlogisch, wie Anna fand, denn was geschah in all den kerzenlosen Stunden?
Fe unterbrach ihre Gedanken. „Da sagt man immer, nur die Unterklasse, die sozial Schwachen saufen und prügeln. Dein Mann ist ein hoher Beamter ...“
„Mit einem schweren Knall“, antwortete Anna und goss Tee nach.
„Ich hoffe, er kommt nicht herüber.“ Fe’s Stimme zitterte.
Anna beugte sich vor und tätschelte ihre Hand. „Nein. Nachdem er mich geschlagen hat, ist er ins Bett. Er schläft seinen Rausch aus. Ich bin erst weg, als Ruhe war.“
Fe entzog ihr die Hand.
„Ich halte es nicht mehr aus, sieben Jahre sind genug.“ Ihre Stimme klang rau, Fe lauschte und schwieg. Anna stand auf. „Ich nehme dann das Gästezimmer. Ich bin alle.“
„Schlaf gut, ich trinke den Tee noch aus.“

Dem Lichteinfall nach graute der Morgen, als Anna Stimmengemurmel weckte. Sie schlich zur Treppe und hörte Fe sagen: „Sie ist gegen zweiundzwanzig Uhr gekommen, weil ich sie darum gebeten hatte. Mir ging es nicht gut. Kreislaufprobleme.“
Anna hielt die Luft an. Wieso sagte Fe so etwas?
„Und sie war die ganze Nacht hier? Sind Sie sicher?“, fragte eine Männerstimme.
„Ich bin zwar seit Geburt blind, Herr Kommissar, aber nicht blöd. Ja. Sie schläft. Logisch um die Zeit, nicht wahr? Würde ich auch, hätten Sie nicht geklingelt.“
Nun war der Moment für Annas Auftritt gekommen. Ihr Herz wummerte, als sie die Treppe hinunter ins Wohnzimmer stieg.
„Guten Morgen! Fe, so früh? Geht es dir nicht gut?“, sagte sie besorgt und tat so, als würde sie den Gast erst jetzt entdecken. „Besuch um diese Zeit?“ Sie lächelte überrascht.
Der Kommissar trug eine tragische Miene zur Schau.
„Anna Berg?“
Sie nickte.
„Bei Ihnen wurde heute Nacht eingebrochen. Ein Pfleger vom Hospiz hat es auf dem Nachhauseweg an der offenen Tür bemerkt und uns angerufen.“ Er suchte nach Worten. „Ich muss Ihnen eine schreckliche Mitteilung machen ... Ihr Mann ...“
„Was ist mit Bruno?“ Anna griff sich an den Mund.
Der Kommissar schüttelte den Kopf. „Er ... es war Raubmord.“
Nun brach sie zusammen, saß auf dem Boden, die Hände vor dem Gesicht und legte einen bühnenreifen Weinkrampf hin. Fe kauerte sich neben sie und hielt sie fest.
Nach einer Weile hob Anna das tränenüberströmte Gesicht. „Wie? Wie ist es passiert?“
„Sind Sie wirklich so weit, das zu hören, Frau Berg?“
Der Kommissar half ihr hoch und geleitete sie zur Couch, setzte sich daneben. „Er wurde mit einem Fleischermesser aus Ihrer Küche erstochen. Mitten ins Herz. Es muss gegen Mitternacht passiert sein und er hat geschlafen. Ihr Mann hat nicht gelitten. Vielleicht ist das ein kleiner Trost in Ihrem Schmerz.“
Wieder vergrub Anna ihr Gesicht in den Händen.
Fe fragte: „Raubmord? Fehlt was?“
„Das kann nur Frau Berg feststellen. Jedenfalls ist alles durchwühlt worden.“ Der Kommissar stand auf.
„Das muss bis Morgen warten, sie steht unter Schock.“
Er sagte: „Natürlich. Frau Berg, Sie bleiben erreichbar. Ich muss wieder hinüber, die Spurensicherung ...“
Die Frauen nickten.
Nach dem Frühstück rief Anna ihre Mutter an, erzählte tränenerstickt, was geschehen war und bat sie, die Mädchen ein paar Tage zu versorgen.
Als sie von Telefon im Flur zurückkam, lagen auf dem Tisch zwischen den Kaffeetassen Fe’s Uhr, die Kerzenbecher und die Latexhandschuhe. Den Schraubenzieher hielt ihre Freundin in der Hand.
„Gratuliere, Anna“, sagte sie lächelnd. „Es war eben doch schon Mitternacht, als du gekommen bist. Ich habe es gleich gespürt, als du sagtest, er hätte geschlafen. Das passte nicht zu deinem Zustand. Heute stolperte ich über deine Tasche neben der Couch. Du hättest sie ins Gästezimmer mitnehmen sollen. Wie gesagt: Blind, nicht blöd.“
Anna schlotterte. Sie war geliefert! Schweiß brach ihr aus den Poren, Übelkeit kam wie eine Flutwelle über sie.
Sie krächzte: „Was wirst du tun?“
„Die Aludinger wegwerfen, meine Uhr auf ihren Platz legen.“

Jetzt waren es keine Krokodilstränen, die Anna aus den Augen stürzten und nicht mehr versiegen wollten.

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