Bitte lächeln!
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August 2005
Umnachtet
von Matthias Ziebarth

Ich genieße es, nachts auf Überlandfahrten Radio zu hören. Dann suche ich einen Sender mit Wortprogramm. Eine knuffelige Bassstimme musse es sein, in die sich meine Ohren so richtig hineinkuscheln wollen. Schmiegsame Katzen wie mich bringt das in Stimmung. Wenn dann so ein Kater in tiefsten Tönen schnurrt, spüre ich ein inneres Beben ...

Nur, dass mich in dieser Nacht kein schnurrender Kater zum Beben bachte. Was da im Autoradio brummte und jaulte, beleidigte die anspruchsvolle Katze in mir. Entweder, das Schnurren kam sexy, dann war das Gesülze nicht zum Anhören. Oder, der Text hatte Pfiff, hörte sich aber an wie meine Karre im Winter, wenn sie nicht anspringen will. Ich schaltete das Radio ab. Dann gab ich Gas und fuhr ein tiefes Loch in die Dunkelheit hinein.

Es ging flott voran auf der A3, doch unter 90 Minuten würde ich die Strecke Köln - Frankfurt wohl nicht schaffen. Zuviel Zeit um mich zu langweilen! Zuviel Zeit auch, um mich über die Gluckensprüche meiner Freundin Marga zu ärgern: „Du hast kein inneres Zentrum, darum rundet sich deine Persönlichkeit nicht ... Fahr vorsichtig. Und nimm nicht irgendwelche Anhalter mit!“ Marga konnte so ätzend sein! Den Abschied in Köln hätte ich am liebsten aus der Erinnerung herausgeschnitten. Zum Glück brachte mich die nachtgeschwärzte Autobahnluft auf andere Gedanken. Ich inhalierte tief an der spaltbreit geöffneten Seitenscheibe, dann sah ich den Anhalter und kriegte spontan Lust auf ein Abenteuer.

Er stand an der Auffahrtspur der Raststätte Siegburg, von wo ich gerade vollgetankt auf die A3 zurückfuhr, und hielt den Daumen raus. Als er mich sah, zuckte er zurück. Ein schüchterner junger Mann um die 30, der vielleicht nicht mit einer Fahrerin rechnete? Oder doch ein Wolf im Schafspelz, der auf introvertiert machte? Egal, ich wollte es wissen. Ich wollte es mir in dieser Nacht einfach gönnen, dieses Kribbeln im Bauch, und deshalb musste diesen großen Blonden auf dem Beifahrersitz haben.

„Hallo. Wohin möchten Sie denn?“, fragte ich durch die rechte Seitenscheibe. Ein zierliches, fast feminines Gesicht lächelte mir entgegen. Blonde Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn.
„Nach Frankfurt. Wenn es Ihnen nichts ausmacht - nehmen Sie mich mit?“
„Da will ich auch hin. Wenn Sie auf faule Tricks verzichten und sich wie ein Gentleman benehmen, bringe ich Sie ohne Blessuren dort hin. Okay? Dann steigen Sie ein!“
Meine scherzhaft verpackten Drohungen verfehlten nicht die gewünschte Wirkung. Mein Beifahrer machte große Augen und schluckte, dass sein Kehlkopf hüpfte. Er nickte still, ich öffnete die Tür, er stieg ein, wir fuhren los.

Einige Minuten knisternde Schweigen zwischen uns. Mein Begleiter blickte geradeaus und mich nicht an. Das beruhigte mich nicht gerade, doch redete ich mir ein, dass er mit Gedanken weit weg war und sich nicht einbilden würde, ich sei leicht zu haben, nur weil ich in Shorts und Sommertop einen Fremden mitnahm. Nach weiteren fünf Minuten Schweigefahrt ahnte ich, dass es bis Frankfurt so weiter ginge, wenn ich nicht die Initiative ergreifen würde. Außerdem war ich neugierig: Was hatte der Mann zu erzählen? Wie fühlte sich seine Stimme an?

„Darf ich fragen, von woher Sie gekommen sind? Haben Sie im Rasthof einen Zwischenstopp eingelegt?“
Ich betrachtete sein Profil. Er blickte noch immer geradeaus. Er sei, sagte er mit monotoner Stimme, von Essen aus per Autostopp unterwegs, dann habe er den Fahrer gebeten, in Siegburg anzuhalten, um telefonieren zu können. Als er dann wieder einsteigen wollte, habe er gerade noch die Rücklichter des Wagens, mit dem er hergekommen war, aufblitzen gesehen.
„Der ist einfach so abgebraust? Sie Ärmster, dass Sie an einen so miesen Typen geraten sind!“, bedauerte ich ihn.
„Oh, das wundert mich gar nicht“, versetzte er, „diese Welt ist voll von miesen Typen.“
„Finden Sie? Haben Sie schon oft Erfahrungen dieser Art gemacht?“
„Es kommt halt, wie es kommen muss. Diese Gesellschaft presst den Menschen in die Zwangsjacke aus Karrieresucht, Geldgier, Genusssucht Der Sog des Materialismus reißt alle mit sich. Fast alle. Es gibt ein paar Aufrechte, die sich dem Verderben entgegenstemmen.“

Uff, das kam ja knüppeldick! Mit einer harmlosen Frage hatte ich eine kulturpessimistische Lawine losgetreten. Mit was für einen finsteren Melancholiker hatte ich mich da eingelassen! Ich fühlte mich unbehaglich. Ich gab Gas. Die Scheinwerferlichter von der Gegenspur ließen bunte Lichtflecken über sein starres Gesicht gleiten. Besser, ich redete weiter als zu schweigen und die Beklemmung zu vergrößern.

„Klar, man muss nicht jeden Blödsinn mitmachen. Ich kenne Leute, die auf Karriere und Vermögen pfeifen und gerade soviel verdienen, wie sie zum Leben brauchen.“
Er antwortete nicht gleich. Dann sagte er: „Das bringt diese Leute auch nicht weiter, solange sie mitmachen beim Tanz um das goldene Kalb. Sie dringen nicht vor zur Wurzel des Übels. Sie leben zufrieden vor sich hin und wissen nicht, dass sie ein Teil des um sich greifenden Elends sind.“

Jetzt war ich an der Reihe mit Schweigen. Was bildete sich der Typ eigentlich ein? Urteilte frech über meine Freunde, die er nicht kannte, und dozierte, was sie seiner Meinung nach alles falsch machten! So eine blasierte Selbstgerechtigkeit!

Wütend startete ich ein riskantes Überholmanöver. Nachdem das überstanden war, nahm ich mir vor, Aufregung zu vermeiden. Ich schnitt ein unverfänglicheres Thema an:

„Was machen Sie so beruflich? Arbeiten Sie in Frankfurt?“
Ja, in der Uni-Klinik. Ich bin Krankenpfleger.“
Regte sich da ein Hauch von Begeisterung? In das monotone Gemurmel meines Beifahrers mischten sich ungeahnte Tonhöhen und Betonungen:
„Auf meiner Station behandeln wir Süchtige. Von der Gesellschaft Ausgestoßene, die sonst an ihr zerbrochen wären.“
„Ach, dann arbeiten Sie in der Psychiatrie?“
„Nenn Sie es meinetwegen so. Ich mag den Ausdruck Psychiatrie nicht sehr. Die meisten denken dann gleich an Irrenhaus. Wir behandeln aber keine Irren, sondern Entgleiste. Und die Einrichtung nenne ich eine Oase der Läuterung.“

Ich machte eine Vollbremsung, weil verflixt knapp vor meinem Kühler so ein Selbstmörder auf meine Spur einschwenkte. Dann fuhr er im Slalom zwischen den Spuren, natürlich ohne den Blinker zu setzen. Erst dieses gestelzte Gerede, dann diese Autofahrer-Provokation -, ich musste aufpassen, dass ich nicht ausrastete. Darum sagte ich so leichthin zu meinem Mitfahrer:
„Drei Viertel der Autofahrer sind doch reif für so ´ne Oase der Läuterung, finden Sie nicht auch?“
Er blieb ganz ernst.
„Noch viel mehr. Und längst nicht nur Autofahrer! Man kann aber nicht alle Materialisten und Seelenverderber in Oasen der Läuterung stecken. Man muss sich um die kleine Schar der Aufrechten kümmern, bis sie viele werden und einen allgemeinen Wandel bewirken. In den Oasen hat die Hoffnung eine Zuflucht gefunden. Hier können wir die Aufrechten vor der degenerierten Gesellschaft schützen.“
„Arbeiten Sie denn in der Psychiatrie an diesem Wandel?“
„Ich bin der Pate meiner Patienten. Sie vertrauen mir und sprechen gemeinsam mit mir Gebete. Ich bereite sie vor auf das Leben da draußen und stärke ihre Widerstandskräfte, auf dass sie nicht in den Sumpf zurücksinken, aus dem ich sie gezogen habe.“
„Sie beten? Aber Sie verabreichen doch auch Medikamente und handeln auf Anweisung der Ärzte?“

Zum ersten Mal musterte mich der Retter der Menschheit ausführlich. Dann sagte er, ohne mich aus den Augen zu lassen:
„Meine Patienten bekommen, was sie brauchen. Sie kriegen ihr Methadon, das erleichtert den Entzug. Andere Medikamente sind kontraindiziert und verschleppen den Heilungsprozess. Ein Patient war auf dem besten Weg zur Heilung. Auf einmal weigerte er sich, mit mir zusammen den großen Lobgesang zu sprechen. Ein Blick in seine Akte und mir war klar, dass er eine Woche lang Antidepressiva eingenommen hatte. Das Mittel wurde abgesetzt.“
„Wie, auf Betreiben des Arztes?“
Mein Beifahrer grinste. Mich fröstelte.
„Die Anweisungen des Arztes sollen den Patienten nutzen, nicht denen da draußen. Damit das nicht geschah, musste ich eingreifen. Ohne das Antidepressivum machte meine Patient gute Fortschritte, und ich war schon bereit, ihn zu entlassen, als mir der Stationsarzt auf die Schliche kam. Abgemahnt hat er mich. Viel schlimmer war aber, dass er mir meinen Patienten weggenommen hatte! Ich musste mit ansehen, wie der von den Kollegen systematisch mit Teufelsmedizin vollgepumpt wurde. Das konnte ich nicht mit ansehen. Es musste etwas geschehen.“

„Was haben Sie getan?“, fragte ich so sachlich wie möglich. Mir war längst klar, dass ich nicht an Nachrichten aus der Wirklichkeit, sondern an dem privaten Gruselkosmos eines Wahnsinnigen teilhatte, der die Wirklichkeit nach seinen Wahngebilden formen wollte. Jetzt musterte er mich schon wieder. Ich beschloss, die nächste Raststätte anzufahren, um für alle Fälle ein paar Leute um mich zu haben. Jener Fahrer, der diesen Apostel in Siegburg ausgesetzt hatte, hatte jetzt mein volles Verständnis.

„Ich sage Ihnen, was ich getan habe, warum nicht? Seitdem mich die Bruderschaft geweiht hat, stehe ich unter besonderem Schutz. Ich habe also dem Patienten in einem günstigen Moment das Tor im Zaun geöffnet. So habe ich ihn vor Vergiftung durch Medikamente gerettet. Mit Hilfe meiner wochenlangen Gebetsübungen weiß er sich im Elend da draußen zu behaupten.“
„Das konnten Sie sich doch gar nicht leisten. Nach der Abmahnung! So etwas fliegt doch ganz schnell auf!“
Ein Lächeln spielte um seine sanft geschwungenen Lippen. Er lehnte sich entspannt zurück.
„Da kann ich Sie beruhigen. Morgen trete ich wieder meinen Dienst an.“ Er lachte kurz auf.
„Auf meine Weise. Ich arbeite jetzt viel effektiver.“

Ich verschwendete keinen Gedanken an die letzten Worte. Mir ging es nur noch darum, den Kerl loszuwerden. Aber eine Stimme gab mir ein, Ruhe und Gelassenheit zu wahren und nichts Unüberlegtes zu tun. Also fuhr ich weiter. Das Summen des Motors machte das Schweigen erträglicher. Etwas Unheimliches lag in der Luft. Wenn er auch ein Spinner war, war das, was er da von sich gab nicht auch ein explosives Gemisch? Glücklicherweise sagte er nie etwas von sich aus. Das machte ihn berechenbarer. Ich gab Gas. Ein vorzeitige Abbruch der Reise erschien mir doch zu riskant. Ich hielt erst vor dem Frankfurter Hauptbahnhof. Mein nächtlicher Begleiter stieg ohne ein Wort aus und entfernte sich mit schnellen Schritten.

Unausgeschlafen ging ich am nächsten Morgen zur Arbeit. Es lief nicht gut an diesem Tag. Immer wieder schwächten die Erinnerungen an den Fremden meine Konzentration. Ich fragte mich, ob einer wie er, der sich wie Gottvater persönlich aufspielte, überhaupt Freunde haben konnte? Oder wenigstens Angehörige, die ihm das Leben in der Umgebung, die er so vehement verabscheute, ein bisschen schön machten? Wie kann einer, der nichts hat als seine mit Bitterkeit durchtränkten Heilsvorstellungen, jemals glücklich werden?

Spät abends hörte und sah ich es auf allen Kanälen. Ich hätte es wissen müssen, durchfuhr es mich seitdem immer wieder: Gegen 22 Uhr 30 detonierte im vollbesetzten Frankfurter Dom eine Bombe. Es geschah mitten in einem Kirchenkonzert. Die Bombe zerfetzte 30 Konzertbesucher auf einen Schlag, stündlich wurden weitere Todesopfer gemeldet. Die Polizei ging aus von einem Selbstmordattentat. Von dem Täter fehlte jedoch jede Spur, auch an den folgenden Tagen ergab sich nichts Neues.

War er es? Im Auto hatte er nur wenig Handgepäck. Passte da eine Bombe hinein? Sollte ich mal auf der Suchtstation der Uni-Klinik nach dem Verbleib von - ja wem eigentlich? - fragen? Doch wenn sich mein Verdacht bestätigen sollte: Würde ich mir einen Gefallen damit tun, mit dem Wissen, einen Selbstmordattentäter an sein Ziel chauffiert zu haben, weiterleben zu müssen?

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