Panamerican Highway. Von Alaska nach Feuerland. Von der neuen Welt in eine Alte. Panamerican Highway. Fern am Horizont überwinden zwei grelle Lichter eine Kuppe. Jetzt ist ihnen die Strasse ausgeliefert. So weit das Auge reicht. Und die Lichter finden deine Augen. Deine müden, erloschenen Augen. Du hast sie erwartet. Langsam, wankend, schleppst du dich weiter, immer weiter, den zwei gleissenden Kreisen, welche die Nacht zerreissen, entgegen. Deine Seele ist ein Tonband; es beginnt zu spielen.
„Verdammt, Sheila, das wird das Grösste, verstehst du? Dreitausend Kilometer, eine einzige Strasse ... Wahnsinn! Wir werden frei sein, Sheila. Frei, auf dem irrsten Streifen Asphalt, Kies und Schlamm, den es auf dieser verfluchten Welt gibt. Das wird gross, Sheila ...“
„Hmh, was red’st denn da, ich versteh kein Wort ... lass mich schlafen!“
„Mann, Sheila! Schlafen kannst du, wenn du tot bist. Tot, verstehst du? Dort draussen wartet unsere Chance, unser Abenteuer! Wir werden gegen Westen ziehen, wie die alten Pioniere! Goldsucher, Trapper – wie die verfluchten Gesetzlosen, die ihrem Glück über endlose Prärien entgegenjagten, Sheila: Panamerican Highway! Von den verdammten Eskimos bis zu den alten Indios, Mann! Komm, wach auf Süsse, lass uns darauf einen trinken!“
Sheila sitzt auf der Bettkante. Immer wieder streicht sie mit ihren kleinen Händen über das schmutzige Laken. Sie hat den Kopf auf die Schulter gelegt, ihr Blick verliert sich in einem Winkel des mit Pappkartons und Leinwand verstellten Raums. Ihr Blick meidet ihn. Doch Tobey merkt nichts davon. Er ist am Reisen. Per Autostopp. Auf der Strasse der Strassen. Eine schräge Type mit einem zerbeulten Pick up hat ihn aufgelesen. Erzählt ihm wilde Geschichten vom Leben hier draussen. Von mexikanischen Mädchen, schön wie die Nacht; von Kojoten, die dir die Kehle durchbeissen, wenn du im Wagen pennst und nicht aufpasst; von gefährlichen Kerlen, die tagsüber bei Pete’s Drive Inn Tequilaflaschen leeren und nachts weisses Pulver auf die Reise schicken ... Er ist mittendrin, mitten im prallen Leben und er kann gar nicht mehr aufhören, davon zu erzählen. Und er merkt nicht, wie eine Träne, langsam und schwer, den Weg über ihre Wange findet. Panamerican Highway. Die grellen Kreise werden grösser. Elektronen schiessen in die Dunkelheit; die Atmosphäre lädt sich auf. Schemenhafte Umrisse werden frei, die nicht für dein Auge bestimmt sind. Panamerican Highway. Du gehst weiter, entschlossener jetzt. Kennst keine Furcht; kennst nur diesen Schmerz, der dabei ist, jeden Zoll deines Körpers zu erkunden. Ein Motor schnaubt wütend, brummt mächtig, fern noch, doch in diesem Augenblick gibt der Äther seine Stimme frei. Ein Schlachtruf, der das Rauschen der Nacht durchbricht. „Komm mich holen, verdammtes Monster! Ich hab auf dich gewartet! Komm in meine Arme, du Scheiss-Lügner, komm, küss mich!“
Mit zitternden Händen legt Tobey den Gang ein. Der zerbeulte Dodge zwängt sich ungelenk vom verlassenen Parkplatz auf die Strasse. Kein Mond, kein Stern zeigt sich am Firmament; die Nacht ist wie ein Vorhang über Escanaba gefallen, hat eintönige Siedlungen und endlose Shopping Malls unter sich bedeckt, hat nichts zurückgelassen, als zähe, schwarze Dunkelheit. Unter der Kraft des aufheulenden Motors schaukelt die riesige Karosse wie ein fehlgeleitetes Schiff in der Brandung, um schliesslich, von plötzlicher Strömung erfasst, in die Nacht zu schiessen. Schweiss und Tränen mischen sich in seinem Gesicht. Schweiss und Tränen – das ist alles, was sie ihm gelassen hat. Tobeys Hände klammern sich fest ums Steuerrad. Er rast durch gespenstisch stille Wohngegenden. Lange Strassen mit gesichtlosen Häusern, die er auch bei Tag nicht hätte voneinander unterscheiden können, ziehen an ihm vorbei. Er lässt die heruntergekommenen Docks hinter sich, donnert vorbei an rostenden Verladekranen und verlassenen Werften, vorbei am letzten Aussenposten einer untergehenden Stadt. Jetzt ist er endlich alleine. Er spürt den dunkel grollenden Motor unter sich, den Wind, der über das Land fegt und ihm durchs offene Fenster des Wagens ins Ohr schreit. Halb besinnungslos, mit weit aufgerissenen Augen, lenkt er den Dodge durch die zähe, schwarze Nacht. Fährt einfach immer weiter. Er will daran glauben, dass es einen Ausweg gibt, dass alles wieder gut wird, will es erzwingen, mit dem Gaspedal erzwingen, denn die Kraft des Motors ist das einzige, was er seiner Ohnmacht entgegenzusetzen hat. Als Tobey die schwach schimmernde Leuchtreklame von Cunards Bar & Restaurant wahrnimmt, kehrt ein Teil von ihm in die Gegenwart zurück. Whiskey! Scharfer, brennender Whiskey: Das ist es, was er jetzt braucht! Etwas, das diesen Schmerz auslöscht, ihn ersäuft. In gütigen, goldig braunen Wogen. Er bremst den Wagen, tuckert auf das lang gezogene, schäbige Gebäude zu. Die riesengrosse, grinsende Neon-Kaffeebohne auf dem Dach führt ihre Tasse in endloser Geduld zum Mund und wieder weg, hin und zurück, in erbarmungsloser Gleichgültigkeit.
„Hör endlich auf damit, ich kann es nicht mehr hören!“ – Ihre Stimme überschlägt sich, so laut schreit sie. Seine fantastische Reise durch flirrende Hochebenen und üppige Regenwälder, durch tosende Metropolen und gleissende Wüsten findet ein jähes Ende. Mit einem Schlag ist es totenstill im Raum. So laut hat sie geschrien, der Schock sitzt Tobey noch in den Gliedern. Er braucht Zeit, um zu begreifen, was gerade geschehen ist. Ihre Worte ... was hat sie gesagt? Das Licht der Strassenlaternen taucht den Raum in gleichmässiges Gelb und sie kann die verängstigte Blässe in seinem fragenden Gesicht nicht erkennen, als er mit unsicheren, zögernden Schritten auf sie zugeht. „Ich kann nicht mehr, hörst du!“ – Sheila sitzt auf dem Bett, die Beine angezogen und schaut ihn aus unsichtbar geröteten Augen an. Ihr Blick zeigt Schmerz und Entschlossenheit; ihre Entscheidung ist gefallen.
Als Tobey die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt, wenden sich ihm ein paar gleichgültige Gesichter zu. Ausdruckslose Augen, die aus reiner Gewohnheit schauen und sich wieder abwenden. Rauchschwaden drängen gegen die billige Pressspandecke des niedrigen Raums. Eine unpassend bunte Lampenkette spendet der hufeisenförmigen Theke spärliches Licht. In einer Ecke des Lokals spielen zwei alte Männer Chicago. Er setzt sich an den erstbesten Barhocker und bestellt. Der Barkeeper, ein hagerer Kerl mit tief liegenden Augen und Segelohren, füllt mechanisch ein billiges Wasserglas mit Bourbon und mustert ihn dabei aufmerksam, während er den Fünf-Dollar-Schein aus seiner Brieftasche zieht. „Der junge Redmund, wenn ich mich nicht irre! So spät noch unterwegs?“
Er will nicht sprechen. Wie kommt der Typ zu dem Namen? – „Kennen wir uns?“
„Kannte deinen Vater, den Trucker. War ein feiner Kerl. Kam zwei-, dreimal die Woche hierher, wenn er keinen Job hatte. Sass stundenlang da und rauchte seine Winstons. Was war das noch mal für eine Reise, die er plante ... Ach ja, die ganze Strecke von Anchorage in den gottverlassenen Süden Argentiniens wollte er fahren. Ushuaia heisst das Kaff dort, glaube ich ... Den ganzen Panamerican Highway runter, der gute alte Redmund. Hielt’s nicht lange am selben Ort aus, stimmt’s? Machte sich davon, mit diesem jungen Ding ... Das war weniger fein, von dem alten Redmund, hab ich Recht? Schob sich mit seinem Truck auf den Great Northern stadtauswärts und ward nie mehr gesehen ... Aber was für ein Kerl!“
„Ach, halt die Klappe, schenk mir lieber noch `n Glas ein!“
„Hörst sie nicht gern, diese Geschichte, was? Kann ich verstehen, Junge, kann ich sogar gut verstehen ... Na dann, auf dein Wohl!“
Sie liegt am Boden. Zwischen Bett und Nachttisch, dort wo sein Schlag sie hingeschleudert hat. Ungläubig starrt sie ihn an. Tobey zittert, beginnt zu schluchzen. Die Staffelei hinter ihm lässt ihn wie einen wahnsinnigen Künstler im Angesicht seiner wirren Schöpfung aussehen. Jetzt fällt er auf die Knie. Er rutscht auf seinen Knien vor sie hin; unterwürfig, es ist ihm alles egal. „Verzeih mir, Sheila Baby, du musst mir verzeihen! Ich wollte dich nicht schlagen! Du weißt, dass ich dich nicht schlagen wollte. Ich bin nicht ich, Sheila! Ich bin durchgedreht, das ist es. Wenn du sagst, du verlässt mich, dann dreh ich durch. Ich kann nicht ohne dich leben, Sheila. Bitte, verlass mich nicht!“ Sie rappelt sich hoch, langsam. Wischt sich mit dem Handrücken über die aufgesprungene Lippe. Starrt ihn dabei unentwegt an. „Ich verlasse dich, Tobey. Daran wird sich nichts ändern. Daran wird sich ganz bestimmt nichts ändern.“ Panamerican Highway. Vor dir reisst der schwarze Vorhang vollständig auf. Der Motor ist jetzt ohrenbetäubend laut. Lauter als dein Herzschlag, lauter als der Schmerz in dir. Panamerican Highway. Dankbar empfängst du den alles auslöschenden Lärm. Du breitet deine Arme aus, als wolltest du fliegen; breitest deine Arme aus, als wolltest du den riesigen, schnaubenden Laster, der sich vor dir aufzubauen beginnt, umarmen. Mitten auf der Strasse gehst du, lässt den Kopf in den Nacken fallen und beginnst zu lachen, zu weinen. Dann wirst du ganz ruhig. Richtest deinen Blick geradeaus, wartest geduldig. Der Laster hupt, dumpf und dröhnend, doch er bremst seine Fahrt nicht. Die Fahrerkabine ist hell erleuchtet, du erkennst ihn jetzt: Er sitzt am Steuer. Im Unterhemd, die lederne Schirmmütze verkehrt herum aufgesetzt, so wie du ihn zum letzten Mal gesehen hast. Grinsend donnert er auf dich zu. Hebt seine Hand und grüsst mit zwei Fingern an der Schläfe, so wie er das immer getan hat. Neben ihm sitzt eine junge Frau. Sie hat die Beine aufs Armaturenbrett hochgeschlagen. Ein Träger ihres ärmellosen Tops ist ihr runtergerutscht. Sie nuckelt an einer Flasche Bourbon und kichert, wenn sie Pause macht. Sie scheinen sich beide zu amüsieren.
Sheila lenkt den Chrysler auf den US-2 in Richtung Norway. Sie verlassen die Stadt. Er kann sie sehen, kann alles sehen, was sie tut. Auch als sie an seinem Bett sass, konnte er sie sehen. Das war ein seltsames Gefühl: Er sah sie von oben herab, wie ein Vogel, der auf einem Baum sitzt. Jetzt ist er bei ihr, neben ihr. So nah oder fern er will. Das ist sein neues Privileg, gewissermassen die Entschädigung dafür, aus ihrer Wahrnehmung verbannt worden zu sein, sich mit diesem Schattendasein begnügen zu müssen. Er weiss nicht, wohin sie fährt. Sie hat mit niemandem darüber gesprochen. Nachts schläft sie kaum, wälzt sich hin und her, stöhnt und redet wirres Zeug. Einmal hat sie auch seinen Namen ausgesprochen. Leise und irgendwie erstaunt. „Tobey?“ hat sie gesagt und dann ist sie aufgewacht und hat geweint. Was hätte er darum gegeben, ihr in diesem Moment seine Hand tröstend auf die Stirn legen zu können.
Das verschlafene Iron Mountain zieht wie eine Geisterstadt an ihnen vorbei. Nach ein paar weiteren Meilen frisst sich die breite, schwarze Strasse bereits durch den aufgeforsteten Copper Country State Forest, dessen Fichten wie Zinnsoldaten in Reih und Glied stehen. Sheila fährt schnell. Als sich endlich das offene Land vor ihnen ausbreitet, spürt Tobey ihre Erleichterung. Zärtlich legt er seinen Arm um ihre Schulter und küsst sie auf die Wange. – Ein flüchtiger, unbemerkter Kuss.
„Ich wollte nicht, dass es so endet, Tobey ...“ – So unerwartet mischt sich Sheilas Stimme in das einsame Duett von Motor und Wind, dass er ihre Schönheit kaum aushält. Es ist eine rauhe, brüchige Stimme; es ist ihre Stimme. Lange hat sie sich nicht mehr erhoben, das Sprechen fällt ihr schwer. „...Wo immer du jetzt auch bist, vielleicht kannst du mich ja hören. Ich will dir sagen, dass es gut war, was du vorhattest. Die Reise, meine ich ...“ Ihre Stimme verliert sich. Wind und Motor sind wieder für sich. Tobeys Blick sucht vergeblich Halt in der gleichförmigen Landschaft. „Es war nicht die Reise, es waren wir; das, was zwischen uns passiert ist ... Du hast mich schon viel früher verlassen, Tobey. Du hast vergessen, mich mitzunehmen auf deine Reise.“ – Wieder verliert sich ihre Stimme. Er bemerkt eine Träne, die langsam und schwer den Weg über ihre Wange findet.
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