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August 2005
Nachts schlafen die Krähen doch
von Michael Boeken

Es ist Januar im Hochgebirge und ich habe heute die berühmte „Sella-Ronda“ bis auf die letzte Lift- und Gondelstrecke bewältigt. Üblicherweise ist dies eine Tagestour für steigfaule Alpinskifahrer, da nahezu alle Anstiege mit Gondeln oder Liftan-lagen und Aufstiegshilfen vollbracht werden.
Einer meiner Träume wär es, im Sommer mit dem Motorrad durch die Dolomiten zu fahren, im April hatte ich es schon mal geschafft, mit dem Rennrad alle 4 markanten Alpenpässe zu bezwingen. Per Ski hatte ich sie sogar schon einmal dreifach an einem Tage bezwungen.
Aber heute, heute ist mir ein ganz besonderer Hattrick gelungen: Vom Grödner Joch, am Belvedere und vorhin, zum Schluß noch vom Col Alto, bin ich mit meinem Gleitschirm geflogen und habe so das landschaftlich traumhaft schöne Sellamassiv quasi von 3 Seiten umflogen. Jetzt stehe ich mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken in der letzten Schleppliftreihe von Corvara, dort geht es 7 lange und kalte Lifte hintereinander weg zum letzten Gipfel, den Passo Gardena hinauf. Den muß ich zur Umrundung des Sella- Stockes heute noch erreichen, sonst komm’ ich nicht mehr nach Hause für diese Nacht.
Beim Umsteigen in den nächsten Schlepper kommt die große Ernüchterung: „chiuso“ steht lapidar vor dem Eintrittsdrehkreuz. Kein Mensch mehr da, kein Lift, nichts geht mehr, Feierabend.
Verdammt, sage ich mir, das hat dir gerade noch gefehlt. Jetzt gilt es schnell zu handeln. Ein Stück zu Ski abfahren und vielleicht unten im Tal den letzten Bus zum Grödnerjoch erwischen. Ein letzter Berg muß dann ohnehin noch zu Fuß erklommen werden und gnade dir, wenn du dann in die hochalpine Nacht gerätst. Auf knapp 3000 Meter im nächtlichen Hochgebirge festzusitzen und sich womöglich noch die Ohren oder die Haxen brechen, damit ist nicht zu spaßen.
Eile tut not und ich sehe schon unten, wie sich der Bus bereits die Paßstraße hochschlängelt. Das wär schon mal zu spät. Aber vielleicht fange ich ihn noch ab?! In wilder Schußfahrt geht’s seitlich von der Piste weg durch den Tiefschnee, bis ich die Straße erreicht habe. Blitzschnell die Ski abgetreten und geschultert und über den Asphalt gerannt, damit ich ja vor dem Bus auf der Straße bin. Gleich vorn ist auch ein großer Park-platz und am Ende sogar eine Haltestelle. Da kommt schon der Alpenbus keuchend um die letzte Kurve geschnauft, ich drehe mich um, will Blickkontakt mit dem Fahrer aufnehmen und marschiere solang rückwärts zügig weiter, deutlich winkend um mein Ansinnen, mitgenommen werden zu wollen offensichtlich verständlich zu machen. Hält er freundlicherweise gleich schon hier, ein paar 10 Meter vor dem Haltepunkt an? – Nein zügig schnauft er an mir vorbei. Mist, denke ich, ein Stück ist mancher Südtiroler wohl doch ein Preuße, wenn’s halt die Vorschrift so will. Also renne ich wie ein Idiot hinter der schwarzen Diesel-Wolke hinterher, links die Ski, rechts die Teleskopstöcke, auf dem Rücken das schwere Ungetüm von Rucksack und an den Füßen die unförmig klobigen Skischuhe, daß ich mir vorkomme wie mit zwei Gipsbeinen ausgestattet. Nicht gerade grazil wie ein Reh der Straßenbahn hinterher rennend.
Da fährt dieser Saukerl doch glatt an der Haltestation vorbei und schwupp, ist um die nächste Ecke entschwunden! So eine Schweinerei, dieser Misthund, wenn ich den Dreckskerl in die Finger kriegte, ich könnt ihn umbringen. Völlig ausgepumpt gönne ich mir einen Fingerhut voll aus dem Rest meiner Trinkflasche. Meine Batterien sind erst mal ausgebrannt, aber die Dunkelheit droht, ich muß bis zum letzten Ort am Hang, Colfosco/Kolfuschg, zum Telefonieren um per ultra teurer Taxe zum Paß hochzukommen. Keuchend stiefele ich taumelnd mit großen Schritten weiter, so schnell, wie ich es vermag, bei jedem Geräusch von hinten: umdrehen, gestreckten Arm mit Daumen nach oben heraushalten und –oh Glück- das fünfte Fahrzeug, nach 10 Minuten Fußmarsch hält und nimmt mich bis kurz vorm Ortsende mit, wo ich in einem Lokal ein Taxi rufen kann. Und meine Trinkflasche wieder füllen, denn ich habe noch ein Stück des Weges vor mir. Die Taxe kommt, es gilt keine Zeit zu verlieren, und bringt mich hoch bis zur Paßhöhe.
Ich blättere mit blutendem Herzen mein Taschengeld für eine halbe Woche hin und beginne unverzüglich mit dem Aufstieg. Die Nacht hat mich schon längst eingeholt, ich bin knapp eine Stunde nach dem letzten Bus und über eineinhalb, fast zwei Stunden nach dem letzten Lift, als ich mich in kleinen Zickzack-Linien am Rande der Skipiste mit rasselndem Atem hoch-kämpfe.
Mein Puls ist mindestens und andauernd auf 200, es ist schlimmer noch als Treppensteigen, denn die Stufen sind mindestens einen halben Meter hoch und immer wieder sinke ich –auch wegen des großen Gewichts, das ich zu schleppen habe, bis zu den Knien, manchmal sogar bis zum Oberschenkel in den Schnee ein.
Dann komme ich gar nicht ohne weiteres wieder aus dem Loch heraus, es ist wie im Eis eingebrochen zu sein. Ich muß erst die schweren Ski aus der Hand legen, indem ich sie in den Schnee ramme, dann die Skistöcke in beide Hände verteilen und mit den Handgelenke einschlaufen, um mich so fast einen Meter senkrecht nach oben mit über 20 Kilogramm Rucksackgewicht auf dem Buckel herauszuhieven.
Mein Kopf glüht und droht zu platzen, der Schweiß läuft mir in Bächen durch die Augen, das Herz jagt, die Lunge sticht und der Kreislauf keucht. Das schlimmste ist, daß ich gegen die Zeit ankämpfen muß. Hinter und unter mir und um mich herum ist alles schon tiefschwarze Nacht, die Dörfer im Tal leuchten weihnachtlich und magisch gespenstisch in der Dunkelheit, ein dennoch berauschend schöner Anblick, den ich jedoch nicht eine Sekunde verschnaufend im Stehen genießen könnte.
Nur vor mir am Gipfel ist noch ein Restchen von letztem Tageslicht, das rötlich- violett in ein unwirkliches Alpenglühen getaucht ist und den Gipfel im Restlicht erstrahlen läßt. Obwohl mein rasselnder Atem kaum noch keuchen kann, vermag ich das atemberaubende Natur- und Lichtschauspiel als schönsten Landschaftseindruck meines Lebens in mich hinein aufsaugen.
Ich habe tatsächlich schon mehr als die Hälfte, vielleicht zwei Drittel, wenn nicht fast dreiviertel des Aufstieges geschafft.
Ab und zu gönne ich mir ein paar Sekunden, um den besten, schnellsten und womöglich direktesten Weg nach oben zu erspähen und um die Atmung für die nächsten Anstrengungen ein wenig zu beruhigen.
Am Wichtigsten vor Allem ist aber, daß ich trotz aller Eile und Hast nicht ein einziges Mal außer Acht lassen darf, jeden einzelnen Fußtritt vorab zu erwägen, denn hier und jetzt muß ein jeder Schritt hundertprozentig sicher sitzen. Ein einziger Fehltritt, ein kleiner Ausrutscher nur, ein unsicherer Tritt und du knickst nur mit dem Fuße um, mit d e m Gewicht auf dem Rücken, kann bei einem Sturz schnell ein Bein gebrochen sein und verlierst du gar das Bewußtsein, würdest du die Nacht wohl kaum überleben.
Hier alleine abseits aller Pistendienste auf über zweieinhalb-tausend, fast dreitausend Metern herumzukraxeln ist schon bei tage ein nicht zu empfehlendes Risiko. In einer sternenklaren Januarnacht hingegen kannst du gut und gerne mit fünfund-zwanzig Grad minus hier oben rechnen. Die wollen erst mal gut überlebt werden!
Ich bin mir der verdammten Verantwortung für mich und mein Leben sehr bewußt und ich weiß was ich hier tue. Ich kenne meine Grenzen zum Glück und bin fast extrem fit. Aber heut sehe ich die Grenze auch meiner Leistungsfähigkeit, weil ich kurz davor bin und das erfüllt mich mit Stolz und zugleich ein wenig Demut.
Der Gipfel rückt in greifbare Nähe, ich werde es schaffen und sage mir, noch 20 Minuten und du bist oben. Ich schaffe es in fünfzehn und habe für fünf Minuten die Nacht fast überholt. Überall Dreitausender um mich herum, die aus tiefdunklem violett nun auch hier oben in die Schwärze der Nacht eintau-chen. In diesen fünf Minuten komme ich mir vor wie im Rausch: mit Adrenalin bis in die Haarwurzeln gespickt und von der Anstrengung merkst du im Endorphinrausch keinen Schmerz. Ich bin high und wie total beschwipst, wollte auf dem Gipfel tanzen und innerlich tue ich es auch. Aber, was alles noch verstärkt: die flatternde Windfahne, die ich aufgestellt habe zeigt stetig laminaren Wind von vorn: Ich werde mit dem Gleitschirm in der Nacht zu Tale fliegen!
„Flieg dort, wo die Vögel fliegen!“ hatte uns der Fluglehrer im Gleitschirmunterricht empfohlen, aber nachts, nachts schlafen die Krähen und Jochdohlen doch, denke ich mir als ich routiniert zum vierten Mal heute die Schirmkappe sorgfältig ausbreite und mit Schnee- Häringen sichere. Ich steige ins Gurtzeug und in die Skibindung und ab geht es die schwarze Abfahrt hinunter, nach wenigen Metern schon bin ich in der Luft.
Fliegen, den Vögeln gleich, wie Bussard, Falke und Milan, dem Adler nahe sein, mit Bergdohle im gleichen Aufwindband zu kreisen, dieses Gefühl kann kaum mit Worten treffend wieder-gegeben werden. Aber in die Nacht hinausfliegen, dann, wenn die Krähen schlafen gehen, das ist das Absolute, Nonplusultra des motorlosen Menschenfluges und so schwebe ich übers Val Gardena- Grödnertal, kreise über Wolkenstein und lande auf der kleinen, freien und rundum beleuchteten Skiwiese der Familie von Susi, die eine von den einheimischen Flieger-kameradinnen ist. Ein letztes Mal den Schirm verstaut, Ski und Rucksack geschultert und mit dem letzten Bus zum Quartier gelangt.
Welch ein Nacht-Erlebnis?! Einfach das Größte.

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