Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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August 2005
Nachtzug nach Venedig
von Karin Kehrer

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Eine quietschende, fauchende Schlange mit leuchtend gelber Seitenlinie.
Ernst Fischer nahm seinen Koffer auf und ging zielstrebig den runden Scheinwerfern der Lokomotive entgegen. Sein Platz war in Wagen 413 reserviert. Der letzte Waggon laut Wagenstandsanzeiger.
Der Zug hielt. Türen öffneten sich, spuckten Menschen aus.
Das Viererabteil war leer. Er war froh darüber. Zurzeit war er nicht in der Verfassung, um die Blicke neugieriger Mitreisender auszuhalten.
Ernst ignorierte das beklemmende Gefühl, das sich seiner zu bemächtigen drohte, atmete widerwillig die stickige Luft ein. Es roch nach Desinfektionsmitteln und nach Menschen.
Nach dem Trubel im Bahnhof lastete die Stille in dem kleinen, abgeschlossenen Raum schwer auf ihm. Trotzdem war er erleichtert. Hier würde er vielleicht endlich zur Ruhe kommen.
Er legte seine Aktentasche und den kleinen Koffer neben sich auf die Sitzbank, die zugleich sein Bett für die Nacht sein würde. Polster, Decke und Leintuch lagen exakt gestapelt darauf.
Ernst verharrte einen Augenblick regungslos und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. In seinem Kopf war noch immer Chaos. Er sah Carla vor sich, wie sie ihn mit kalten Augen musterte. Und er hörte ihre Stimme, die ihm die unbarmherzige Wahrheit ins Gesicht schleuderte.
Die leichte Übelkeit, die ihn seit dem Moment befallen hatte, war noch nicht verschwunden. Hinter seinen Schläfen pochte ein leiser, hartnäckiger Schmerz.
Er holte ein Aspirin aus seiner Toilettetasche. Seine Hände zitterten und beinahe hätte er die Tablette fallen lassen. Rasch spülte er sie mit einem Schluck aus der Wasserflasche hinunter. Die Kohlensäure stieg in seine Nase und er musste husten.
Carla hatte mit dem Abendessen auf ihn gewartet. Er war spät aus dem Büro gekommen und hatte gerade noch Zeit gehabt, schnell zu essen und den Koffer zu packen. Er musste den Nachtzug nach Venedig erreichen. Sein italienischer Geschäftspartner Signor Ponti hatte kurzfristig eine Besprechung für den nächsten Vormittag anberaumt.
Ernst hatte sich hungrig über sein Essen hergemacht und zuerst gar nicht gemerkt, dass Carla kaum einen Bissen zu sich nahm. Sie hatte auf dem Teller herumgestochert und ihm beim Essen zugesehen. Mit diesem kalten, ausdruckslosen Blick, den sie in letzter Zeit immer öfter hatte.
Schließlich hatte sie wie beiläufig gesagt: „Du wirst dir jemanden suchen müssen, der den Haushalt für dich führt. Ich werde gehen.“
Er hatte sie angestarrt und mit der Gabel voll matschigem Gemüse inne gehalten. Es war seine Schuld gewesen, dass das Fleisch verdörrt und das Gemüse zu weich war. Er hatte auch gar nicht deswegen gemeckert. Das hatte er sich längst abgewöhnt.
Sie hatte es noch einmal gesagt. Diesmal etwas lauter und in einem schärferen Tonfall: „Hast du gehört? Ich werde gehen. Ich habe es satt.“
Er hatte die Gabel mechanisch zum Mund geführt und die Karotten mit der Zunge zerdrückt. Der süßliche Geschmack war darauf haften geblieben, er glaubte ihn jetzt noch zu schmecken. Er war zu erschrocken gewesen, um einen Ton von sich zu geben. Obwohl er es geahnt hatte. Aber nicht jetzt. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Sie hätte damit warten können, bis die Angelegenheit in Venedig erledigt war. Aber für solche Dinge gab es wahrscheinlich nie den richtigen Zeitpunkt.
Ernst zog die Tabellen mit den letzten Umsatzzahlen aus der Aktentasche. Sein Blick flog über die Zahlenreihen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Erst jetzt begann ihm die Tragweite von Carlas Entschluss begreiflich zu werden. Sie hatte auch Geld in ihre gemeinsame Firma investiert. Er würde sie auszahlen müssen. Das konnte er aber nicht. Die Geschäfte liefen momentan nicht besonders.
Sein Magen krampfte sich zusammen. Ein Gefühl hilfloser Wut überwältigte ihn für einen Moment, ließ die Zahlenreihen vor seinen Augen verschwimmen. Zehn Jahre hatte er damit verbracht, diese Firma auf die Beine zu stellen. Zehn Jahre, in denen er bis an den Rand der Erschöpfung geschuftet hatte, nur damit sie beide einmal ein angenehmes Leben haben sollten. Alles umsonst. Carla wollte nicht länger Teil dieses Lebens sein. Sie hatte einen Anderen. Einen, der mehr Zeit für sie hatte. Sie zum Essen ausführte oder ins Theater. Auch das hatte sie ihm gesagt, vor ein paar Stunden. Vor einer halben Ewigkeit.
Der Schmerz in seinem Kopf nahm zu, verwandelte sich in ein bohrendes Klopfen, das den Schädel ausfüllte.
Er legte den Papierstapel in die Aktentasche zurück. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt damit zu befassen. Er musste versuchen zu schlafen, damit er Signor Ponti ausgeruht gegenübertreten konnte.
Ernst verriegelte die Abteiltür und zog die Blende hoch. Für einen Augenblick überfiel ihn Panik, wie öfters in letzter Zeit, wenn er sich in einem abgeschlossenen engen Raum befand.
Er knipste das Licht aus. Das grünlich-gelbe Notlicht wirkte gespenstisch. Es war viel zu hell, aber es ließ sich nicht ausschalten.
Er legte sich nieder und starrte mit offenen Augen auf die Unterseite der Liege über ihm.
Das Notlicht blendete ihn und so drehte er den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Ihm war übel. Er überlegte, noch ein Aspirin zu schlucken, ließ es dann aber. Stattdessen trank er noch einen Schluck aus der Wasserflasche und nahm eine Schlaftablette. Erst danach fragte er sich, ob die sich mit dem Aspirin vertrug. Aber es war ohnehin zu spät.
Er fiel in einen seltsamen Zustand, halb wachend und halb schlafend. Das Ruckeln des Zuges, das Knirschen und Quietschen des Waggons verfolgten ihn in einen wirren Traum.
Er raste in seiner verschlossenen Kabine mit riesiger Geschwindigkeit durch die Nacht. Ein Sarg auf Schienen. Carlas Gesicht über ihm. Mit weit offenem Mund und boshaften Augen. Schwarzgekleidete Menschen mit bleichen Gesichtern. Versammelt an seinem Totenbett. Er konnte es ihnen nicht sagen. Dass er nicht tot war.
Irgendwann erwachte er. Das Grauen aus seinem Traum war noch immer da. Dumpfer Schmerz in seinem Kopf.
Minutenlang lag er da, fand sich nicht zurecht. Glaubte, sich tatsächlich in einem Sarg zu befinden.
Lebendig begraben.
Süßlicher schwerer Geruch in seinen Lungen. Eiserne Klammern um seiner Brust.
Die Wände des Abteils kamen auf ihn zu.
Zerquetschten ihn.
Ernst rang keuchend nach Luft.
Dumpfer Schmerz in seinem Oberkörper. Seine Arme und Beine gelähmt.
In panischer Angst schoss er hoch. Sein Kopf prallte gegen die obere Liege. Er spürte es nicht. Der Schmerz in seiner Brust ließ alles andere unwichtig werden.
Er tastete nach dem Riegel der Abteiltür. Fand ihn nicht. Seine Finger krallten sich um leere Luft.
Sein Atem rasselte.
Eine dunkle kalte Welle kam auf ihn zu. Hüllte ihn ein. Erstickte ihn.
Seine Stirn berührte die Abteiltür.
Niemand konnte ihn hören. Niemand kam ihm zu Hilfe.
Das Ende.
Venedig. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Das Quietschen der Bremsen wurde vom durchdringenden Geheul der Sirenen des Notarztwagens übertönt.

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