Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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August 2005
Angelito
von Ernst-Edmund Keil

(Nachtstück)

Nachts muss der Alte die Fenster der Schlafkammer verschließen, die Türen des Wohnzimmers, auch die gläsernen Schiebetüren, die auf die Terrasse hinausführen. Mehr noch: Selbst die gelben Vorhänge zieht er von rechts wie von links zu, so dass sie keinen Lichtspalt freilassen. Obwohl er im Dunkeln schlecht schläft und schlechter noch bei geschlossenen Fenstern, die keine Frischluft hereinlassen. Es herrscht hier ohnehin eine fast unerträgliche Sommerhitze, in der kein Windchen weht und die Luft auf der Stelle tritt, so dass man, auch bei offenen Fenstern, nicht mal ein Leintuch braucht zum Zudecken und keinen Pyjama. Nichts, nur die eigene Blöße. Um wie viel unerträglicher ist das bei geschlossenen Fenstern und zugezogenen Vorhängen! Dass er schier zu ersticken meint und vor lauter Herzklopfen nicht einzuschlafen vermag.
Nachts kratzt es an den Scheiben. Wie eine Katze. Erst im Schlafzimmer und später, wenn der Alte nicht reagiert, nicht auffährt und aufsteht, um an die Tür zu gehen, auch an den Scheiben der Schiebetüren. Obwohl diese für den Jungen schwerer, viel schwerer zu erreichen sind. Davor liegt nämlich eine Terrasse, und die liegt einen guten Meter über der Strasse und ist mit einem ebenso hohen und hölzernen Geländer geschützt. Der Junge muss also hinüberklettern und sich, wer weiß, wie, über das Geländer heraufrangeln. Das kann nicht leicht für ihn sein, eher sehr mühsam. Schließlich ist er seit dem Autounfall behindert.
Es dauert eine Weile. Liegend horcht der Alte auf alle Bewegungen, eine Zeitspanne, in der die im Zimmer gesammelte Stille zum Zerreißen gespannt ist. Bis er wieder das Kratzen vernimmt. Dass es keine von den Katzen ist, die abends hungrig miauend ums Haus streichen, weiß er, weil das Gekratze von einem seltsamen Stöhnen begleitet wird, das nur dem Jungen eigen ist. Wenig später beginnt ein ungeduldiges Getrommel von ungelenken Fingern. Und schon registriert er das Geräusch, das die heruntergedrückte Klinke verursacht. Aber die Tür ist zweimal verschlossen, und der Junge kann unmöglich ins Haus gelangen.
Das weiß der Junge. Er versucht es trotzdem. Von überall versucht er einzudringen. Seit der Alte ihm einmal schroff und mürrisch die Tür gewiesen hat, belagert er sein Ferienhaus. Der Alte ist sich nicht sicher, wer von beiden der Stärkere sein wird und wer am Ende wen besiegt. Der Ausgang ist ungewiss...
Ja doch, er verwöhnte ihn mit allem, was er mochte und anderswo nicht bekam, weil die Mutter jetzt allein verdiente, für alle, auch für die kleinere Schwester und den noch kleineren Bruder, weil der Vater, der bislang verdient hatte seit dem Autounfall im Rollstuhl saß und nur eine kleine Rente bekam. Was sollte da für ihn, den ältesten, noch bleiben?
Aber bei ihm, dem Alten, war er sozusagen zu Hause, zwei-, drei-, viermal am Tage, und der teilte mit ihm Essen und Trinken. Jeden Tag gab es Bier oder Wein, Kaffee oder Schokolade, Kuchen und Obst, Wurst und Käse. Und immer gab es Zigaretten. Denn der Junge rauchte um sein Leben gern. Ja, er schwärmte von Hasch, den er sich nicht leisten konnte, wie er von Frauen träumte, die für ihn unerreichbar blieben. Es tat ihm wohl, hin und wieder abzuschalten, sich nicht erinnern zu müssen an seinen früheren und glücklicheren Zustand. Vergessen zu können, nichts mehr zu empfinden, bereitete ihm unendliches Glück.
So gab der Alte von beidem, wenn auch widerwillig, weil Alkohol wie Nikotin seiner ohnehin geschwächten Gesundheit nur schaden konnten. Aber der Junge bat immer um mehr, als der Alte ihm geben wollte, war gierig danach, die Schmerzschwelle zu unterschreiten und nichts mehr zu fühlen. Nicht einmal die Nähe seines Freundes oder die des eigenen Körpers, der nicht mehr so wollte wie er und sich ihm immer wieder quer stellte, dass er darüber stolpern musste wie über einen im Weg liegenden Stein...
Es war am letzten Sonntag, nach Genuss zweier Bierdosen und einiger Zigaretten. Da klingelte es noch einmal, als der Alte, ermüdet nach einem schwülen, fast windstillen Julitag und einem etwas anstrengenden Gespräch, sich gerade hatte hinlegen wollen - er war schon halb ausgezogen, und es war bereits um Mitternacht, da klingelte es mehrere Male. Und weil er nicht gleich öffnete und einen Augenblick zögerte, sich fragend, wer um diese Zeit ihn noch aufsuchen könnte, polterte es an die Tür. Da wusste er, dass es nur der Junge sein konnte. Irgendetwas war passiert, er wusste nicht, was. Er öffnete die verschlossene Tür, und herein wankte der Junge wie ein Gespenst, als hätte er aufgehört, ein menschliches Wesen zu sein. War er es nun, den der Alte, weil der Junger ihn immer an einen El Greco erinnerte, Angelito nannte, also das Engelchen. Oder träumte er einen Alptraum? Das Engelgesicht hatte sich in ein Tiergesicht verwandelt. Die Augen rollten darin blutunterlaufen wie rote Roulettkugeln und fanden, obwohl sie es sichtlich versuchten, nirgendwo einen Halt. Vielleicht sah der Junge ihn gar nicht, wusste gar nicht, wo er sich befand. Von seiner Unterlippe sickerte Blut auf sein Kinn, auf sein weißes T-Shirt und von dort auf den Steinboden. Was war geschehen? Er war betrunken, sternhagelvoll. Also hatte er wahr gemacht, wovon er immer geredet, obwohl der Alte alles, für sein Teil wirklich alles getan hatte, um ihn davon abzuhalten. Was hatte er falsch gemacht? Der Junge ließ ihm keine Zeit, lange darüber nachzudenken.
In der Hand, das war ihm sofort aufgefallen, hielt der Junge ein aufgeklapptes Taschenmesser, das er hob und senkte, hin- und her schwenkte, als suche er ein Opfer dafür, das er an diesem Ort nicht finden konnte. Dann drehte er sich seitwärts, blitzschnell, und rammte das Messer in den Sofatisch, als wäre dieser der Leib eines unsichtbaren Feindes, rammte es mit voller Kraft, über die er noch verfügte, von oben nach unten stoßend, in das weiche, weiße Kiefernholz, bis es, zitternd und klirrend, darin stecken blieb. Dann wandte er sich zu dem Alten, machte einen wankenden Schritt auf ihn zu, konnte sich jedoch in seiner Trunkenheit nicht auf den Beinen halten und fiel, bevor dieser ihn auffangen konnte, wie eine Kerze um und schlug auf den Steinboden, stöhnend wie ein von einer Kugel getroffenes Tier.
Vielleicht hätte der Alte, schneller reagierend, helfen können. Aber er spürte, dass dieser Anblick, der Anblick des Tieres, das doch sein Freund war, ihm das Blut in den Kopf trieb. Es war Zorn, der sich mit Mitleid mischte, und Mitleid, das sich mit Zorn mischte, und beides zusammen machte ihn machtlos. Sollte er ihn, blutend und stöhnend, an der Erde liegen lassen? Hatte er denn nicht versucht, ihn Wärme spüren zu lassen? Nicht versucht, in seinen bescheidenen Grenzen, ihn ein wenig zu verwöhnen? Ihn, den das Leben geschlagen hatte mit Ohnmacht und Behinderung an Armen und Beinen, ein wenig glücklich zu machen in seinem Unglück. Hatte er nicht versucht, seine Sucht nach der Droge in Grenzen zu halten, mit ein paar Zigaretten täglich, mit ein wenig Rotwein oder Kaffee oder Tee, den der Junge aus einer großen Henkeltasse trank, weil er sonst alles mit zitternder Hand verschüttete.
Der Alte bückte sich, richtete den Jungen auf, der sich wehrte, als wäre er nicht sein bester Freund, sondern sein ärgster Feind. Schließlich gelang es, den Jungen in die Sofaecke zu drücken gegen das Keilkissen, ihm den Kopf nach hinten zu legen, das Blut, das aus der Wunde rann, mit einem Taschentuch wegzuwischen, das Gerinnsel mit ein wenig Jodtinktur, die er immer zur Hand hatte, zum Stillstand zu bringen. Immer noch wehrte sich der Junge, als wollte man ihm schaden, wehrte sich mit beiden Händen. Dabei stieß er Laute aus, schrille und unartikulierte, tierische, die der Alte nicht verstehen konnte..
Woher, fragte er sich, hatte der Junge nur das Geld genommen, um sich so voll laufen zu lassen. Wo er doch keines hatte und die paar Münzen, die er ihm zusteckte, für eine Fanta oder Coca ausreichten, aber für mehr nicht
Der Junge redete jetzt unentwegt und sah den Alten dabei mit seltsam starren Augen an. Vielleicht, weil dieser nicht verstand und hilflos war. Es hatte etwas mit der Wunde zu tun oder mit dem Messer, das noch in der Tischplatte steckte. Besser, dachte der Alte, es blieb dort, wo es war, und er konnte es nicht gebrauchen. Besser so. Ja. Aber der Alte ahnte jetzt, tiefer zu ihm herabgebeugt, einen inneren Zusammenhang. Der Junge war ins Dorf gegangen. Vielleicht in die kleine Fischerkneipe am Hafen, wo der Wein billiger war. Vielleicht hatte er nicht bezahlen können. Und sie hatten ihn, wie es schon öfter geschehen war, wie einen Hund mit Fußtritten auf die Strasse befördert, hatten ihn beschimpft und beleidigt. Sicher hatte er sich verteidigt und vielleicht das Messer gezogen, das er immer bei sich trug. Und sie hatten ihn geschlagen und getreten. So konnte es gewesen sein. Vielleicht war er auch, in seiner Trunkenheit, im Dunkeln gestürzt und auf das Gesicht geschlagen. Denn das Dorf war schlecht beleuchtet und noch schlechter asphaltiert. Auch so konnte es gewesen sein. Auch so. Was wusste er schon, der alte Mann.
Aber hier, bei ihm, konnte er nicht bleiben. Es war schon nach Mitternacht, und seine Eltern würden unruhig werden und anfangen, ihn zu suchen. So redete er dem Jungen zu, nach Hause zu gehen und sich hinzulegen. Aber der Junge schüttelte den Kopf, verlangte nach mehr Wein und Zigaretten.. Aber hatte er denn immer noch nicht genug? Verdammt. Der Zorn in ihm, den das Mitleid vorübergehend verdrängt hatte, nahm wieder überhand. Er riss ihn mit einer Hand hoch, mit der andern riss er die Tür auf, sperrangelweit, drängte und schob ihn durch den Ausgang auf den offenen Gang. Und zog ängstlich, als hätte er sich von etwas Bedrohlichem befreit, die Tür schnell wieder hinter sich zu., drehte zweimal den Schlüssel im Schloss. Atmete tief auf. Hörte den Jungen draußen, wie er stöhnte und fluchte. Und konnte nicht helfen.
Der Alte ging ins Schlafzimmer. Auch die Schlafzimmertür schloss er hinter sich zu. Sogar das Fenster, das er immer, um bei der Hitze besser einschlafen zu können, nachts geöffnet hatte. Alles schloss er zu und löschte das Licht und legte sich, angezogen, wie er war, auf das Bett und versuchte zu schlafen. Vergeblich. Er hörte ihn auf dem Gang zwischen den Apartments. Wie er die Treppen stieg, die auf den Hügel führten, wo er wohnte. Hörte ihn rutschen und fallen und steigen und wieder fallen. Es war ein Alptraum. Sein Herz schlug bis zum Hals. Er war wie gelähmt. Konnte nicht aufstehen, fühlte sich machtlos.
Ja, wer denn sollte den Jungen schützen und verteidigen, wenn er es selbst nicht tat, sein älterer Freund, zu dem er Vertrauen hatte, da sein Vater seit dem Autounfall im Rollstuhl saß, also selbst hilflos war und seine Mutter tagsüber arbeitete und, heimkehrend, die jüngeren Geschwister zu versorgen hatte. Ein nichtzulösendes Problem. Der Junge würde lernen müssen, sich selbst zu helfen. Was so gut wie unmöglich war. Denn er, der Alte, würde in zwei Wochen wieder im Flugzeug sitzen und nach Deutschland zurückfliegen. Ob und wann er wiederkommen würde, stand in den Sternen, die ihm doch niemals eine Antwort gaben.
Er schloss die Augen und tat, was er lange nicht getan hatte. Legte die Hände über dem Leintuch zusammen und betete. Vielleicht half das. Er hoffte es. Und als er nach einer Weile die Augen öffnete, schlug sein Herz ruhiger. Er wäre jetzt gerne aufgestanden und hätte das Fenster geöffnet, wenigstens einen Spalt, um die kühle Nachtluft hereinzulassen. Aber er hatte Angst. Er hörte, wie er zu sich sagte: Morgen, wenn der Junge wieder klopft, morgen. Aber er hatte immer noch Angst und er war sich nicht sicher. Er wusste es nicht. Und konnte nicht schlafen, weil er Angst hatte, um ihn, um sich, um eine Freundschaft, die über Nacht, wie es schien, in Feindschaft umgeschlagen war.
Aber vielleicht scheint es nur so, und er irrt sich. Weil die Nacht Nacht ist, der Tag Tag. Weil es, so oder so, einen Ausweg geben müsse aus diesem Dilemma. Einen Ausweg, den nur das Leben schenken kann oder die Liebe oder Gott selbst über den Sternen, die er hinter den Vorhängen nicht sieht. Um sich herum tiefe, schlaflose Nacht. Und wieder hält er die Hände gefaltet. Lange. Bis er, unruhig, einschläft.

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