Ausfahrt Hamburg-Zentrum. Gesa setzte den Blinker und zog ihr Taxi auf die rechte Spur. Diesmal fuhr sie zu ihrem eigenen Vergnügen. Rechts sah sie die Köhlbrandbrücke und ein Stück vom Hafen. Dann kam schon der Elbtunnel Richtung City. Gleich hinter dem Hauptbahnhof begann das Stadtviertel St. Georg. Sie war gespannt zu sehen, wie der bekannte Schauspieler wohnte, den sie vor zwei Monaten unter eigenartigen Umständen kennengelernt hatte. Eigentlich hatte sie von dem Fernsehstar Ralf Müller eine gediegene Villa in Blankenese erwartet. Die engen Straßen St. Georgs mit den nur teilweise renovierten Altbauten überraschten sie.
Sie fand einen Parkplatz hinter einem Glascontainer und hoffte, dass keine Glasscherben ihre neuen Reifen perforieren würden. Auf der anderen Straßenseite erblickte sie einen Laden mit bunten Kleidungsstücken, „Mollis Second Hand Basar“. Wo war Ralfs Haus?
Nr. 25. Sie schaute hoch. Gründerzeit, frisch gestrichen. Sein Name stand auf dem Klingelschild. Der Türöffner summte. „Gesa, wie schön, dass du gekommen bist. Tritt ein.“ Sie drückte ihm ihr Geschenk, einen Beaujolais Nouveau, in die Hand. Seine herzliche Begrüßung nahm ihr die Befangenheit. Bis jetzt hatte sie noch nie einen Fernsehstar besucht.
Er bat sie ins geräumige Wohnzimmer. Auf dem gläsernen Couchtisch standen zwei Kaffeegedecke, Käsekuchen und eine Thermoskanne.
„Setz dich. Möchtest du einen Kaffee trinken?“
Während er den Kaffee in zwei Tassen füllte, schaute sie sich um. Überfüllte Bücherregale luden zum Schmökern ein. Auf einem schmalen Tisch stand ein Computer. Es gab einen Flachbildfernseher und eine Musikanlage. Über dem Schreibtisch hingen Familienfotos und Staraufnahmen von ihm mit berühmten Filmpartnern.
„Liest du viel?“ fragte sie neugierig.
„In letzter Zeit wieder mehr“, antwortete er, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. „Ich filme nicht mehr viel. Früher gab es Jahre, in denen ich außer Drehbüchern kein einziges Buch in die Hand genommen habe. Ab sechzig nehmen die guten Hauptrollen ab. Im Moment konzentriere ich mich auf Hörbücher. Und auf andere Themen. Und wie geht es dir, Gesa?“
Sie gab sich einen Ruck. „Nicht besonders gut. Nach der Entführung war ich froh, alles überstanden zu haben. Aber in den letzten zwei Wochen träume ich jede Nacht, dass mich jemand mit einer Pistole bedroht.“
Ralf schaute sie besorgt durch seine Nickelbrille an. Seine schlohweißen Haare hingen ihm in die Stirn und er strich sie mit den Fingern nach hinten. Wie in dem Film, in dem er den Eisenbahner spielte.
„Genau das, was wir erlebt haben. Der Bankräuber hat uns als Geiseln genommen und du musstest uns fahren. Es war ein Albtraum!“
„Man soll ja in Träumen Erlebtes verarbeiten. Aber die Träume werden nicht weniger.“
„Ich unterhalte mich oft mit meinen Freunden darüber. Reden hilft.“
Ralf legte eine Dire-Straits-CD auf. Er wusste, dass sie die Musik mochte.
„Fährst du viel Taxi?“
„Klar, von irgendetwas müssen mein Kater und ich ja leben.“
Ralf nickte verstehend. Sie erwiderte sein Lächeln, als würden sie sich schon lange kennen. In gewisser Weise stimmte das auch. Sie kannte ihn aus vielen Filmen. Er hatte sie erst vor zwei Monaten kennengelernt.
Dire Straits sangen gerade „Money For Nothing“.
„Ist der Täter schon verurteilt worden?“
„Nein.“ Ralf legte die Kuchengabel auf seinen Teller. „Aber das Verfahren wird bald beginnen.“
Das Telefon klingelte. Ralf ging zum Schreibtisch. Seine Miene verdunkelte sich. „Ich habe Ihnen schon letztes Mal gesagt, dass ich keinen Kontakt mit Ihnen wünsche. Leben Sie wohl.“
Seine ausdrucksvollen Züge spiegelten Ärger wider.
„Etwas Unangenehmes?“
„Kann man wohl sagen. Die Frau hat nicht zum ersten Mal angerufen. Wenn ich mich nicht mit ihr treffe, behauptet sie, wird etwas Schlimmes passieren.“
„Das hört sich nicht gut an.“
„In meinem Beruf ist so ein Anruf gar nicht selten. Oder die Autogrammjäger. Manchmal lästig, manchmal auch schmeichelhaft. Ich bin jemand. Man erkennt mich auf der Straße. Etwas in der Art.“
„Und der Anruf eben?“ bohrte Gesa.
„Die Kehrseite davon. Wenn die Anrufe nicht aufhören, schalte ich die Polizei ein.“
„Das ist Stalking!“
„Der Begriff kommt aus Amerika. Dieses Nachstellen ist aber nicht auf Hollywood beschränkt.“
„Gut, dass ich nicht berühmt bin.“
„In meinem Viertel erkennt mich auch nicht jeder. Die haben hier andere Sorgen.“
Seine Stimme wurde lebhafter. „Ich arbeite an einer Reportage über einen Senator, der im Verdacht steht, Bestechungsgelder für einen Discounter-Neubau von einer bestimmten Firma erhalten zu haben. Wir haben eine Bürgerinitiative gegründet und wollen Licht ins Dunkel der Baumafia bringen.“
Gesa begann zu ahnen, warum er nicht in Blankenese residierte. Sein Engagement gefiel ihr.
Das Telefon klingelte wieder. „Entschuldige bitte.“
Er nahm den Hörer ab. Außer einigen „mh“ und „ja“ sagte er nicht viel. „Das war ein Informant in dieser Baugeschichte. Er muss sich sofort mit mir treffen. Was machen wir denn jetzt? Kommst du mit?“
Gesa stand auf. „Wir können mit meinem Taxi fahren.“
„Gut. Das Treffen ist in der Speicherstadt.“
An der Haustür entdeckte der Schauspieler ein Briefpäckchen im Postschlitz, an ihn adressiert. „Hoffentlich keine Briefbombe“, scherzte er. Er öffnete es. „Zum Kuckuck!“ Der Brief fiel zu Boden. Asche rieselte aus dem Umschlag. Gesa bückte sich. Da steckte noch ein Brief drin. Sie reichte ihn Ralf.
„Sie wollen sich nicht mit mir treffen. Also gut. Wenn Sie keinen Frieden wollen, dann gibt es Krieg!“ las er vor. „Das muss die Anruferin von eben gewesen sein.“
„Du musst zur Polizei gehen.“
„Zuerst müssen wir mit Werner sprechen.“
Gesa verstaute das Briefpäckchen in einer Tüte im Kofferraum.
„Ist das dasselbe Taxi, mit dem du …?“
„Ja klar, nur die Reifen sind neu. Der Typ hatte sie mir ja zerstochen, als er uns in dem Wochenendhaus einsperrte.“
„Ein Glück, dass wir uns so schnell befreien konnten. Sie haben ihn daraufhin schnell gefasst.“
Es tat wirklich gut darüber zu reden.
Während sie startete, sah sie, dass sie jemand aus dem Second-Hand-Laden beobachtete.
Vorsichtig kurvte sie an den Fleeten vorbei. Wenig später standen sie vor einem alten Gewürzspeicher. Eine Holztür öffnete sich und ein Mann winkte. Drinnen duftete es nach Zimt, Nelken, Curry und anderen Gewürzen.
„Das ist mein Freund Werner, Journalist. Und das ist Gesa.“
Werner begrüßte sie aufgeregt. „Ralf, ich habe einen Knüller. Es gibt einen Chauffeur, der auspacken würde. Er will nicht mehr für die Bonzenschweine fahren.“
„Super! Was weiß er?“
„Er hat die Herren der betreffenden Firma zu einem Treffen mit dem Bausenator chauffiert. Sie haben noch in der Limousine mit Champagner auf ihr Geschäft angestoßen.“
„Das würde er vor Gericht aussagen?“
„Er hat mir sein Wort darauf gegeben. Und hier …“
Der Journalist zog ein Blatt Papier aus seiner Jacke. „… ist seine schriftliche Bestätigung.“
„Das ist der Hammer!“ freute sich Ralf, „Morgen geht die Bürger-Ini an die Öffentlichkeit. Werner, du rufst Egon und Marianne an. Wir treffen uns morgen um zehn. Und wir brauchen eine Pressekonferenz.“ Werner versprach, sich um alles zu kümmern.
Diesmal fanden sie keinen Parkplatz mehr in der Straße. Ins Gespräch vertieft näherten sie sich seinem Haus.
Die Haustür war nur angelehnt. „Was ist denn das?“ Aus dem rotbraun lasierten Holz der Wohnungstür war das Schloss herausgeschlagen worden. Fassungslos betraten sie die Wohnung. Im Wohnzimmer lagen die Scherben des Glastisches und des Geschirrs, Bücher und CDs überall verstreut. Der Computer und der Fernseher – weg!. Ralf schaute kurz durch die anderen Räume. Dort war alles in Ordnung. Das Telefon funktionierte nicht. Ralf rief die Polizei mit seinem Handy an.
Gesa atmete tief durch. Machte die Stalkerin ihre Drohung jetzt war?
Ralf sank auf einen Stuhl. Als es klingelte gab Gesa den Polizisten die Tüte mit dem Drohbrief. Ein Handwerkernotdienst befestigte ein provisorisches Schloss. Um zehn Uhr waren sie endlich wieder allein.
Ralf stellte Bücher ins Regal zurück. „Ich frage mich, ob die Einbrecher etwas gesucht haben.“
„Etwas Wichtiges auf deinem Computer?“
„Der Bauskandal! Ich rufe sofort Werner an.“
Sein Freund meldete sich nicht.
„Würde es dir etwas ausmachen, mich zu ihm zu fahren? Er wohnt in Wandsbek.“
„Ist er in Gefahr?“
„Ich weiß es nicht.“
Auf den Straßen war nicht viel los.
Ralf klingelte. Ein kleines Fenster in der Tür des Bungalows wurde geöffnet. Werner wirkte erfreut, sie zu sehen. „Kommt rein. Aber erschreckt nicht, bei mir ist eingebrochen worden. Hier sieht´s aus wie Kraut und Rüben.“
„Bei mir auch. Fehlt dir etwas?“
„Mein Computer.“
„Und?“
Werner lächelte. „Sämtliche Sicherungskopien liegen in der Redaktion, auch die Erklärung von dem Chauffeur. Eingeschlossen in meinem Schreibtisch.“
Gesa mischte sich ein. „Könnten die Einbrecher es nicht auch da versuchen?“
Der Journalist wurde blass. „Dann hätten wir bei der Pressekonferenz ein Problem. Aber wir haben den Chauffeur.“
„Sicher? Vielleicht schrecken die auch vor einem Mord nicht zurück.“
„Ich rufe ihn an!“ Werner tippte eine Nummer in sein Handy, wartete. Nichts.
„Wir müssen hin.“
„Gesa, wir brauchen dein Taxi.“
Sie raste auf der Schnellstraße Richtung Farmsen und fühlte sich wie in einem Krimi. Unterwegs bestellte Ralf die Polizei zu ihrem Ziel. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät.
Der Chauffeur wohnte im siebten Stock eines Hochhauses. Er öffnete verschlafen. „Werner, was zum Teufel …?“
„Leise, Karel! Das sind Ralf und Gesa. Wir glauben, dass hier gleich Einbrecher oder Mörder aufkreuzen werden. Die Polizei versteckt sich im Haus.“
Karel unterdrückte einen Fluch, löschte aber sofort das Licht.
„Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich hab´ dich angerufen“, flüsterte Werner.
„Karte abgelaufen.“
Sie warteten.
Ein Kratzen an der Tür weckte Gesa. Ihr Kater Mäxchen? Dann wusste sie wieder, wo sie war. Kurze, heftige Schläge, die Tür wurde aufgebrochen.
Plötzlich ein lauter Ruf: „Zugriff!“
Grelles Licht, Scheinwerfer, Polizisten in schusssicheren Westen.
Zwei glatzköpfige Typen mit schweren Werkzeugen, mit erhobenen Händen an der Wand. Die Polizisten entwaffneten sie.
Schon wieder Pistolen! Wie in ihren Träumen!
Gesa rutschte zitternd vom Sofa. Jemand drückte ihr ein Glas Wodka in die Hand. „Trink! Es ist vorbei.“ Sie stürzte die Flüssigkeit hinunter.
Ralf kam zu ihr. „Du musst wegen deiner Aussage ein paar Tage in Hamburg bleiben. Wenn die Einbrecher tatsächlich von dem Bausenator beauftragt wurden, wird das ein Riesen-Skandal. Und wir mittendrin!“
Gesa freute sich für Ralf. Und unterdrückte ein Gähnen.
„Komm, wir fahren zu mir. Da kannst du dich ausruhen. Werner, du kommst auch mit. Ich habe genug Gästezimmer.“
Zufrieden und müde fuhren sie durch die leeren Straßen. Werner saß am Steuer ihres Taxis, weil er nichts getrunken hatte.
Kurz vor Ralfs Haus schaute sie auf die andere Straßenseite und wurde stutzig. Im Second-Hand-Laden leuchtete etwas. Nachts.
„Geht schon mal hoch“, sagte sie, „ich komme gleich nach.“
Sie marschierte über die Straße und sah durch das Schaufenster. Hinter der Glasscheibe eines Kohleofens flackerten rötliche Flammen. Als sie die Ladentür aufdrückte, klingelte eine Glöckchenkette.
Eine ältere Frau schaute aus ihrem Sessel vor dem Ofen hoch.
„Ich will, dass Sie aufhören, Ihren Nachbarn Ralf Müller mit Anrufen und Briefen zu belästigen!“ sagte Gesa mit fester Stimme.
Die Ladeninhaberin verteidigte sich: „Er erinnert mich so an meinen verstorbenen Mann.“
„Was Sie machen ist strafbar. Sie können dafür ins Gefängnis kommen.“
„Aber ich könnte für ihn sorgen, immer für ihn da sein …“
Wenn Sie nicht damit aufhören, werde ich Sie anzeigen.“
Die Frau begann zu schluchzen. Sie tat ihr plötzlich Leid.
„Wenden Sie sich doch an einen Psychologen. Oder schließen sie sich einer Gruppe an. Vielleicht brauchen Sie keinen Filmstar, den sie verfolgen, sondern Hilfe. Reden hilft!“
Das Schluchzen wurde leiser.
„Denken Sie drüber nach.“
Beim Verlassen des Ladens klingelten die Glöckchen wieder.
Diese Geschichte ist die Fortsetzung von „Ich fahr´Taxi“ vom November 2004. Die Hauptfigur der Dire-Straits-hörenden Gesa, Taxifahrerin, Single und Besitzerin eines Katers wurde als Schreibaufgabe vorgegeben. Es hat mich gereizt, der Sache noch ein wenig nachzugehen.
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