Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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September 2005
Einen Tag leben
von Martina Bartels

Tim saß auf der Bank unter der alten Weide im Park. Er dachte nach.
Den ganzen Vormittag hatte er in der Fußgängerzone Platte gemacht, aber es kamen diesmal nur ein paar Cent dabei rum. Die Kohle reichte nicht mal für den nächsten Schuss.
Vor ihm tippelte eine alte Dame mit Krückstock über den Weg. Es wäre ein Leichtes – doch sofort verwarf Tim den Gedanken wieder. Er war auf Bewährung und hatte etliche Auflagen zu erfüllen. Tim begann zu schwitzen. Er brauchte dringend Stoff. Da bemerkte er den Mann, der auffallend häufig vor dem Toilettenhäuschen auf und ab ging. Typ Gutsituierter Opa, Wohlstandsbauch, beginnende Glatze.
Der Junge verachtete diese Kerle. Wollten für nen Zwanziger einen schnellen Fick und am nächsten Tag rümpften sie angewidert die Nase und warnten ihre Enkel vor diesem Pack.
Er stand auf, schob die zitternden Hände in die Hosentaschen und schlenderte den Weg entlang. Bereits mit fünfzehn hatte man ihm den Arsch versilbert, aber heute wollte er nur Kohle. Der Opa hatte sicherlich was dabei und die Bullen würde er auch nicht holen – wegen der Leute.
Tim lächelte und suchte Blickkontakt.
Erfreut nickte der Typ ihm zu und gemeinsam betraten sie das Klohäuschen. Schnell einigten sie sich über die Konditionen, ehe sie in eine Kabine gingen. Der Rest war reine Routine. Tim wartete, bis der andere die Hose in den Kniekehlen hängen hatte, gab ihm einen Schubs und zog ihm die Brieftasche aus dem Jackett. Er nahm das Geld an sich und warf die Börse dem Kerl vor die Füße, ehe er sich umdrehte und ging.
Volltreffer, er hatte fast vierhundert Euro erbeutet.
Morgen hatte er Geburtstag. Seinen achtzehnten. Endlich erwachsen. Lächerlich. Tim hatte nicht mal eine Kindheit gehabt. Seinen Vater kannte er nicht und seine Mutter war ein Miststück von der Straße. Sie hatte ihm früh genug klar gemacht, dass er unerwünscht war und sich um seinen eigenen Dreck scheren sollte.
Seine Freunde waren die Alkis, Stricher und Junkies vom Bahnhof. Freunde, auch so ein Wort, über das er nur lachen konnte. Auf der Straße war sich jeder selbst der Nächste. Trotzdem, seinen Geburtstag würde er feiern mit den Kumpels, sich feiern lassen, für einen Tag der Größte sein.
Kurz nach Mitternacht erschien er am Bahnhof und wurde grölend empfangen. Zum Auftakt gingen sie zu der schmierigen Bude unten in der Halle. Zerfledderte Zeitungen flogen herum und es stank nach Pisse. Tim holte Glühwein für alle. Noch eine Runde. Und noch eine.
Johlend zogen sie durch den Bahnhof und traten nach draußen. Es hatte zu schneien begonnen. Der Wind fegte die dicken Flocken über den Platz. Etwas abseits stand ein heruntergekommenes Kinderkarussell. Die Farbe an den Rentieren, Eseln und Schlitten war abgesplittert, das Holz morsch.
"Ey, einmal Karussell für alle. Ich lade euch ein. Die Jungs kletterten auf die Holztiere und Tim brachte das Karussell ächzend in Schwung, ehe er selbst auf den Rücken eines Rentieres sprang. Aufgekratzt wie Kinder bei einem Klassenausflug drehten sie ihre Runden.
Minuten später begann Tim zu frieren. Sein Körper zitterte und kalter Schweiß lief ihm über die Stirn. „ Scheiße, ich komm auf Turkey, haltet dieses verdammte Ding an!“ Er ließ sich von dem Rentier auf den Boden rutschen und lehnte sich mit dem Rücken an das Holz. Tim zog sein Spritzbesteck und den Stoff aus der Tasche.
Nach etlichen Versuchen gelang es ihm, die Nadel zu setzen und sein Gesicht nahm entspannte Züge an. Ein Briefchen mit Heroin war auf den Boden gefallen, gierig bedienten sich seine Freunde. „Ey ihr Wixer, das ist mein Zeug!“ Manchmal wusste Tim, dass sein Leben verbockt war. Verlogen. Schön gefixt. Scheiß egal. Der Schuss verdrängte diese Gedanken.
Mit glänzenden Augen saßen die Jungs auf den Stufen des Karussells.
Laternenlicht fiel auf bleiche Gesichter. Gespenstisch, wie die Kulisse aus einem Zombiefilm.
Nach einer Weile waren sie soweit drauf, dass sie weiterziehen konnten – Richtung Innenstadt. An der Tankstelle besorgte Tim noch eine Flasche Weinbrand. Schließlich wollte er heute richtig etwas erleben.
Krakeelend und schwankend zogen sie weiter. Tim allen voran. Er balancierte auf dem Randstein, als in der Ferne gleißende Lichter aufleuchteten, die sich schnell näherten.
"Ich seh den Coca Cola Truck, das ist ja geil. Ey, guckt mal ..."
Der LKW - Fahrer bemerkte die dunkle Gestalt zu spät.
Tim sah seine Kumpels reglos am Straßenrand stehen, dann sich selbst in einer Blutlache auf dem Boden liegend. Sein Geist löste sich aus seinem Körper und begann zu schweben.
„Wow, Superflash“, dachte er. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Sein Körper zuckte unkontrolliert und ein dünner Blutfaden rann aus seinem Mundwinkel. Dann war es vorbei.

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