Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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September 2005
Jo’s Fahrgast
von Dagmar Cechak

„Zum Hilton!“ Das blitzblank polierte, schwarze Prunkstück eines alten englischen Taxis kurvt zum wiederholten Male um die Luxushotels der Stadt. Monsieur Lavie klopft mit seinen Spinnenfingern an die Trennscheibe und bedeutet dem Fahrer, in die Ringstraße einzubiegen.

Jo setzt eine bewusst sachliche, unbeteiligte Mine auf und spricht wieder sein „Selbstverständlich, mein Herr“ in das langhalsige Mikrophon neben dem Volant. Ihm kann es nur Recht sein. Er fährt Monsieur Lavie nicht zum ersten Mal und dieser hat bisher noch immer aus der Brusttasche seines eleganten Tuchmantels ein ansehnliches Trinkgeld hervorgezogen. Bei allen anderen Fahrten allerdings, gab es ein klares Ziel. Als er heute in den Wagen einstieg, hatte er Jo aufgefordert, ihn zum Marriott zu bringen. Aber als das Taxi in die Nebenfahrbahn vor dem Hotel eingebogen war, hatte Jo das erste Klopfen auf der Trennscheibe gehört und die Aufforderung zum Imperial weiterzufahren, Und nun wieder zum Hilton. Monsieur Lavie hat sich in die hinterste Ecke zurückgelehnt, den Mantelkragen hochgeschlagen, den Kopf so gesenkt, dass man nur die Krempe des eleganten Hutes sehen kann. Jo schließt daraus, dass sein Fahrgast nicht erkannt werden will. Vielleicht hat er eine Dame gesehen, die er nicht mehr in seiner „Kollektion“ haben will. Jo hat ihn nämlich schon öfters mit Damen gefahren, und es war nie zweimal dieselbe.

Jo biegt in die Hauptstraße ein und gibt Gas. Er liebt es, mit seinem schwarzen Taxi durch die Straßen zu fahren, es ist das Schönste der Stadt. Er investiert fast all sein Geld und vor allem seine ganze Freizeit in den Wagen. Es kostet etwas mehr, seinen Wagen zu buchen, doch das nehmen seine Fahrgäste gerne in Kauf. Dafür können Sie das Gefühl genießen, mit dem eigenen Chauffeur vorzufahren. Jo trägt das Seine dazu bei, indem er sich immer „standesgemäß“ kleidet und – wenn er das Trinkgeld als angemessen erachtet – springt er auch aus dem Wagen und öffnet seinen Passagieren mit einer leichten Verbeugung die Türe.

Die Leute schätzen das. Es ist eine Marktlücke, die er da entdeckt hat. Er chauffiert Filmstars und Prominente aus Theater und Fernsehen. Große Firmen buchen ihn immer wieder für ihre Geschäftsfreunde, die begeistert auf diesen Service reagieren. So sind schon etliche erfolgreiche Geschäftsabschlüsse in Jo’s Taxi angebahnt worden. Der kleine Passagierraum seines Oldtimers bringt ihm die große Welt ganz nahe. Jo liebt es, besondere Leute zu fahren, Fahrgäste über die es lohnt, sich Gedanken zu machen, über die er sich in seiner Phantasie die interessantesten Geschichten ausdenken kann, und Phantasie hat Jo genug.

Wieder hört er das leichte Klopfen an der Trennscheibe. Lavie hat sein Handy am Ohr und scheint etwas ungehalten. Das Bristol ist in Sichtweite und sein Passagier weist ihn an, dorthin zu fahren. Die Dämmerung ist hereingebrochen und der Abendverkehr hat voll eingesetzt. Vor dem Bristol warten zahlreiche Taxis, es scheint eine größere Veranstaltung zu geben. Sein Fahrgast schickt sich an, auszusteigen, obwohl Jo noch vier Wagenlängen vom Portal entfernt ist. Er hält Jo einen großen Geldschein hin und lehnt das Wechselgeld mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.

Jo schüttelt den Kopf. So hat er seinen Fahrgast noch nie erlebt. Er ist ihm immer irgendwie geheimnisvoll vorgekommen, mit seiner fast schon übertrieben gepflegten Erscheinung, seiner altmodisch höflichen Art zu sprechen. So als würde er nicht ganz in diese Zeit passen. Wie die schon etwas verblichene Prunkfassade des Bristol

Monsieur Lavie ist im Hotel verschwunden, und langsam löst sich die Menschentraube vor den hohen Glastüren auf. Einer nach dem anderen setzen sich die Wagen vor ihm in Bewegung. Als Jo endlich auf der Höhe des Eingangs ist, sieht er Monsieur Lavie mit einer bleichen Schönheit am Arm aus dem Lift kommen. Als dieser das Taxi erblickt, winkt er Jo mit erfreutem Lächeln zu. Jo hat verstanden, er springt aus dem Auto läuft herum und öffnet dem Paar die Wagentüre. Dabei hat er Gelegenheit, die neueste Eroberung von Monsieur Lavie zu begutachten. Sie ist jung, trägt ein knappes, lavendelfarbiges Kleid, das ihre helle Haut noch hervorhebt. Ewiglange Beine sehen unter dem kurzen Saum hervor und werden von den hochhakigen Sandalen aus farblich passendem Reptilleder noch betont. Ein schickes Handtäschchen aus demselben Material vervollständigt die Aufmachung. Die Haare sind schwarz gefärbt, das Gesicht blass geschminkt, die Augen dunkel umrandet, die Lippen mit leicht bläulichem Lippenstift, die Nägel lila. „Etwas gespenstisch, die Neue und sehr jung für ihn, “ denkt Jo und schließt die Türe.

Monsieur Lavie wünscht zur „Fledermaus“ gefahren zu werden. Ein bekanntes Nachtlokal. „Kurz vor Mitternacht holen Sie uns hier wieder ab“ bestellt er.

Jo hat für heute Abend keinen weiteren Auftrag, daher sucht er sich einen Parkplatz in der Nähe, neigt seine Lehne nach hinten und sieht entspannt dem Treiben auf der Straße zu. Etliche schwarz gekleidete Paare treten durch die Türe in das Lokal. Als gingen sie zu einem Vampirtreffen, denkt Jo schläfrig. Die Kleine, die Lavie mithat, die würde mit ihrem düsteren Outfit – Gothic nennen das die Jungen wohl –prima dort hinein passen. Die große Flügeltüre mit der aufgemalten Fledermaus schwingt wieder hin und her. Jo fallen die Augen zu. Im Halbschlaf denkt er an Monsieur Lavies Mantel, den dieser lässig über die Schulter drapiert hatte.
„Wie ein Vampir seinen Umhang. Wie, wenn Lavie wirklich einer wäre? Schwarz gekleidet, die bleiche Haut, die Spinnenfinger, die immer ein wenig unheimlich an die Trennscheibe klopfen?“
Jo hat ihn noch nie bei Tag gesehen. Er bestellt den Wagen immer erst, wenn es dunkel wird. Lavie sieht ganz ähnlich aus, wie der Vampir in dem Film, den er gestern gesehen hatte. Wie hatte der eine Vampirjäger gesagt: „Es gibt sie noch und sie sind gefährlicher denn je. Knoblauch oder Kreuze machen ihnen heutzutage nichts mehr aus, man muss zu anderen Mitteln greifen. Man braucht sich nur einmal aufmerksam umzusehen, dann sieht man sie überall.“

Ein Klopfen weckt Jo unsanft aus seinen wirren Träumen. Lange Spinnenfinger trommeln ungeduldig auf die Scheibe, ein schwarzer Mantel verhüllt den Träger. Monsieur Lavie beugt sein bleiches Gesicht zu Jo herunter. „Warum sind sie nicht vor die Türe gefahren? Schuldbewusst sieht Jo auf die Uhr. Es ist fünf Minuten nach Mitternacht. Das junge Mädchen an Lavies Seite sieht geisterhaft blass aus, sie wirkt teilnahmslos und unglücklich.
„Einsteigen!“ Lavie schiebt sie ziemlich rücksichtslos auf die Sitzbank und steigt dann selbst ein.

Jo fährt los, noch immer verfolgt ihn sein Traum. Lavies Aussehen und die scheinbare Hilflosigkeit seiner Begleiterin beunruhigen ihn. Er blickt nervös in den Rückspiegel und erkennt, wie sich Monsieur Lavie über das Mädchen beugt und sie kurz mit ganz verdeckt. Als er sich wieder zurücklehnt, wirft Jo neuerlich einen Blick nach hinten. Die junge Dame lehnt wie ohnmächtig auf dem Sitz. Auf der rechten Seite ihres Halses sieht Jo trotz der schlechten Beleuchtung zwei dunkle Punkte. Die große Glocke des Domes, an dem sie gerade vorbeifahren schlägt zwölf. Die Turmuhr ist schon seit Jahren zehn Minuten zurück.

Geisterstunde! Jo wird mulmig zu Mute. Unauffällig versucht er Lavie ins Auge zu fassen, der mit einem sardonischen Lächeln aus dem Fenster sieht. Unter seinem rechten Mundwinkel scheint sich ein dunkler Schatten abzuzeichnen. Jo überlegt fieberhaft. Am Besten wird es sein, wenn er die Trennscheibe verriegelt und, sobald er im Verkehrsgewühl das nächste Mal stehen bleiben muss, aus dem Wagen springt. Er könnte den Wagen mit der Fernsteuerung von außen zusperren und Lavie vielleicht einige lebensrettende Minuten lang aufhalten, während er sich in Sicherheit bringt. Ihm ist klar, er kann nur noch verhindern, dass er selbst das nächste Opfer wird. Für die Frau kann er ohnehin nichts mehr tun.
Jo’s Herz klopft wie wahnsinnig. Er biegt in die belebte Hauptstraße ein, die zahlreichen Lichter beruhigen ihn ein wenig. Doch in diesem Moment beugt sich Lavie nach vorne und schiebt die kleine Öffnung in der Trennscheibe zum Fahrer auf. Mein Gott, er hat mit dem Verriegeln zu lange gewartet! Nun würde es geschehen.

Krampfhaft blickt Jo geradeaus auf den Verkehr. Eine Gänsehaut wandert langsam an seinem Rückgrat hinauf, er spürt, wie seine Haare sich zu sträuben beginnen, wie ihm immer kälter wird. Er fährt in der dritten Spur, rund um ihn herum fahrende Autos. Sieht denn keiner, was in diesem Wagen vor sich geht? Er hat keine Chance, aus dem Auto zu springen, er würde sich erst das Genick brechen und dann von den nachkommenden Wagen überrollt werden. Da kann er sich gleich vom Vampir beißen lassen.

Lavie tippt ihm auf die Schulter. Jo gefriert augenblicklich vor Angst.

„Hören Sie, fahren Sie an den Hintereingang des Bristol. Dort helfen Sie mir dann bitte, die junge Dame in ihr Zimmer zu transportieren. Die Getränke haben ihr wohl nicht gut getan. Erst Sekt, dann trinkt sie Red Bull, dann wieder Alkohol – und das in Mengen. Meine Schwester wird mir einen ordentlichen Vortrag halten, wenn sie das herausbekommt. Die Kleine ist meine Nichte, ich habe versprochen, ihr das Nachtleben zu zeigen und dabei auf sie aufzupassen. Ist mir offensichtlich nicht gut gelungen. Zuerst führt mich das kleine Luder an der Nase herum, indem sie mich von Hotel zu Hotel jagt weil sie lieber ohne mich ausgehen will, dann fährt uns der Kerl nach, mit dem sie sich da heimlich getroffen hat und vernascht sie fast auf der Tanzfläche, vor meinen Augen. Sehen sie sich diese Knutschflecken an!“ Und er deutet auf die dunkel verfärbten Stellen am Hals der schlafenden Schönheit, die jetzt auch noch leise zu schnarchen beginnt.

Jo ist heilfroh, dass er so sitzt, dass Lavie sein Gesicht nicht genau sehen kann. Ein leises Rülpsen ertönt von hinten. Dann hörte er Lavie. „Oh Gott, du wirst doch nicht! Hörst du! Wir sind gleich da, reiß dich zusammen. Komm ich mache dir das Fenster auf, hol tief Luft.“ Vorsichtig bugsiert Jo das Taxi zum Lieferanteneingang, butterweich bremst er ab und ist blitzschnell draußen an der Türe. Lavie stützt das Mädchen so gut es geht, während Jo vorauseilt und die Türen öffnet. Am Lift angekommen, lehnt Lavie sie an die Wand, hält Jo sein Geld hin. Dieser wehrt fast entsetzt ab. „Nein, vielen Dank, für diese Fahrt berechne ich nichts, sie haben ja keine Ahnung, wie froh ich bin, dass die Kleine nur betrunken ist!“
Abrupt dreht er sich um, und läuft zum Auto. Monsieur Lavie sieht ihm verständnislos nach und schüttelt den Kopf während Jo den Wagen aus dem Hinterhof des Hotels herausbugsiert und um die Ecke verschwindet.

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