Ich musste kurz eingeschlafen sein. Der Minutenzeiger der Standuhr zeigte mir an, dass lediglich zehn Minuten vergangen waren. Sofort war ich hellwach und erinnerte mich an die schrecklichen Stunden, die ich soeben hinter mich gebracht hatte.
Das Dröhnen der Hubschrauber-Rotorblätter drang durch die Mauern. Die Gardinen im Zimmer bewegten sich im Wind, als der Helikopter abdrehte. Entsetzt sprang ich ans Fenster. Im Garten und auf der Straße lagen Blätter, vielleicht fünf, sechs Stück erkannte ich auf den ersten Blick. Sie waren orange, signalfarben.
Sofort kam mir der Gedanke, wie wichtig diese Mitteilung dort unten auf meinem Rasen sein könnte und ich rannte los. Die Enttäuschung war groß. Sinngemäß stand dort neben dem Datum und einer begründenden Überschrift, wir sollten die Stadt sofort – das Wort sofort war zweimal unterstrichen – in Richtung Westen verlassen. Hilfe werde ab jetzt nur noch zentral geleistet. Unterschrieben vom Bürgermeister.
Mein Traum vom Wohnen auf dem Lande starb soeben - zweifach.
Vor etwa fünf Jahren war dieser Traum mitsamt Haus im Süden der USA Wirklichkeit geworden und sehr real und überschaubar. Die Geburt meines ersten Sohnes, ein sehr gutes Einkommen, optimale Kinderbetreuung vor Ort – wir bekamen unser 2. Kind.
Zwei Monate ist das nun her. Und nun war mein Baby tot, gestorben vor wenigen Stunden. Unglückliche Umstände, die niemand zu verantworten hatte, führten zu diesem Drama. Die Bilder quälten mein Innerstes.
Erst die Sturmwarnung. Eigentlich kein Problem. Wir hatten in Festbauweise gebaut. Bis auf fehlende Fenster und kein Dach mehr über dem Kopf war alles in Ordnung. Aber wir waren abgeschnitten vom Rest der Welt. Der Fernseher und das Radio liefen nicht. Wir hatten keinen Strom. Die Handys schienen wie in einem Funkloch und der Sturm hatte die Wasserversorgung zerstört.
Mein Mann Thomas verließ die Straße, um Hilfe zu holen. Den Fünfjährigen nahm er mit.
Ich blieb bei meinem Baby. Es war nicht transportfähig. Vor ein paar Stunden verstarb es während des Stillens.
Der neunte Tag nach dem Sturm. Ich hatte keinerlei Nachricht, was draußen los war. Das erste, was ich an Informationen erhielt, war dieser Zettel.
Ich zog mein bestes Paar Walking-Schuhe an und legte ein Ersatzschuhe in den Rucksack. Fünf Flaschen Mineralwasser zu je eineinhalb Litern würden reichen müssen. Zwei Päckchen Reiswaffeln – davon könnte ich mehrere Tage überleben. Eine Rescue-Creme gegen Insektenstiche, ein Antibiotikum und Kieselerde. Mein Baby legte ich in eine Decke gewickelt in den Babytragesack auf die Brust.
Gleich bei der ersten Warnung hängten wir uns die „Identifikationskärtchen“ um den Hals. Das war eine gute Vorschrift, die allerdings nur wenige befolgten. Auf diesen Kärtchen, ebenso signal-orange, wasserdicht laminiert, standen Angaben zwecks Familienzusammenführung.
Petra von Bausenhagen, geb. am 15.8.1969, Thomas von Bausenhagen, geb. von Ritterswürden, geb. am 23.1.1968, Julian von Bausenhagen, geb. 12.9.2000 und Julia von Bausenhagen, geb. am 04.07.2005.
Selbstverständlich war die Angabe der Adresse und der Blutgruppe ebenso Pflicht.
Richtung Westen.
Zunächst brachte ich mehrere hundert Meter auf unserem Grundstück hinter mich. Auf der Straße angekommen, sah ich entsetzt, wie der Sturm gewütet haben musste. Kaum ein Baum ist stehen geblieben; Büsche ebenso entwurzelt. Autos waren Schrott und Bänke, Gartenmöbel, Sonnenschirme, Planschbecken, Schaukeln, Kinderräder lagen überall herum.
Die Häuser in Festbauweise standen noch, aber wirkten gespenstisch ohne Fensterscheiben und Dachpfannen.
Die Straße und jedes Haus wirkte verlassen. Sie schienen es, denn plötzlich hörte ich einen Wecker. Der schrille Ton kam aus dem Hause Nr. 14. Meines Wissens wohnte dort ein älteres Ehepaar. Ich ging zur Haustür; sie war angelehnt. Der Ton führte mich weiter in die 2. Etage. Der alte Mann schaute mich traurig an, hob die Hand und drückte endlich auf den Wecker. Er müsse etwas trinken, regelmäßig, sonst würde er verdursten nach drei Tagen, meinte er. Er stelle ihn daher stündlich ein.
Neben ihm standen zwei Kisten Mineralwasser. Die wohl letzte Flasche hielt er in der Hand, setzte ab. Sie war leer.
Erst jetzt sah ich, dass der Mann sich eingenässt hatte und im Rollstuhl saß. Auf die Frage nach seiner Frau, antwortete er, sie sei schon seit Tagen fort, um Hilfe zu holen.
Voller Mitgefühl gab ich ihm eine Flasche Wasser von mir ab. Ich würde dem nächsten Hilfetrupp, dem ich begegnete, Bescheid geben.
Mein Digital-Pedometer zeigte 4000 Schritte an. Ich war also schon zwei Kilometer gelaufen, ohne wirklich etwas Außergewöhnliches gesehen zu haben. Der Anblick des Schadens war beinahe unerträglich. Eine Geisterstadt.
Ein Lastkraftwagen der Mühlabfuhr sammelte alles ein, was herum lag und noch zu gebrauchen schien. Dem Polizisten, der mir auf einem Fahrrad entgegen kam, erklärte ich, dass ich einen hilflosen alten Mann zu vermelden hätte. Mit mir sei alles okay. Er fuhr weiter.
Meine Brüste schmerzten. Julias Mahlzeiten sind bisher schon zweimal ausgefallen. Zu plötzlich verstarb die Kleine. Obwohl ich es schon tagelang ahnte. Als Ärztin sah ich es an ihren Pupillen. Der Ast, der durch das Rollo sowie das Fenster schleuderte und sie am Kopf traf, lag noch in ihrem Bettchen. Julia starb an den Hirnblutungen.
Wieder flogen Zettel vom Himmel auf die Straße. Die Regierung musste also davon ausgehen, dass nicht alle Einwohner die Stadt freiwillig verlassen hatten oder noch freiwillig verlassen würden.
Mein Pedometer zeigte nunmehr 30.000 Schritte. Ich hatte vergessen, dem Polizisten zu sagen, dass die Ehefrau des alten Mannes schon lange fort sei.
Die Füße schmerzten bereits, als ich am Fenster eines „Blue House“ – bed & breakfast, ein weißes Tuch wedeln sah.
Trotz der Sehnsucht, endlich Thomas und Julian wieder in meine Arme schließen zu können, war mein `Eid des Hippokrates` stärker, und ich ging auf die Haustür zu.
Auf mein Rufen reagierte niemand. Wahrscheinlich würde ich wieder eine alte hilflose Person vorfinden. Ich war in dem Zimmer angekommen, in dem ich das weiße Tuch vermutete. Plötzlich stand jemand hinter mir und drehte mir den Arm auf den Rücken. Der Schmerz war auszuhalten, der Mundgeruch des Mannes übel, als er sprach.
„Na, Kleine, wie wäre es mit uns beiden?“ Er wollte wohl an meinen Busen fassen, griff aber in das Bündel, das ich an meiner Brust trug. Er ließ von mir ab. Diese Gelegenheit durfte ich nicht versäumen. Ich kickte ihm zunächst ans Knie. Als er meinem Arm los ließ, schnellte mein Knie in seine goldene Mitte. Er sackte zusammen. Ich sparte meine Kräfte, ihm zu sagen, er solle sich selbst f....
Auf der Straße war es menschenleer. Ich hatte den Schreck schnell überwunden. Als Ärztin in einem Justizvollzugskrankenhaus trainierten wir dreimal in der Woche Selbstverteidigung. Das rettete schon einigen meiner Kolleginnen das Leben.
Mein Pedometer zeigte 40.000 Schritte an – Zeit für die erste Reiswaffel. Das Martinshorn eines Krankenwagens ließ mich aufhorchen; er hielt direkt vor meinen Füßen. Ein Mann kam mit einem Baby auf dem Arm aus einer Tür. Die Sanitäter liefen mit einer Bahre ins Haus, und trugen sie belegt wieder hinaus. Ein Leinentuch bedeckte den Kopf der Person, das musste bedeuten, es war zu spät für die Mutter. Das Baby schrie. Ich kannte diesen Schrei, darum bot meine Hilfe an. Der Mann, er stellte sich als der Vater vor, nickte nur völlig apathisch und ließ alles geschehen.
Seine Frau wurde in den Krankenwagen geschoben und ich legte das Baby an meine Brust. Es fing sofort an zu saugen. Es schlug die Augen auf, um sie gleich wieder vor Erschöpfung zu schließen. Dann schlief es ein. Es hatte nicht genug getrunken. Es brauchte sofort Nahrung. Am besten Babynahrung.
Der Sanitäter reagierte pragmatisch und befahl, ich solle mitfahren. Das Baby würde ohne mich nicht überleben. Wenn es wach werde, müsse es sofort animiert werden zu saugen. Das sah ich auch so.
Ich stieg ein. Ich war runter von der Straße. Meine Füße schmerzten. Meine Brüste auch. Der Anblick meines eigenen toten Babys noch mehr. Aber es sollte weitergehen – Richtung Westen.
Wir verließen die Stadt. Am Ortsausgang stand das uns allen bekannte Schild. Es war nicht umgeknickt. Dort war nach wie vor zu lesen: You are leaving New Orleans. Und: Thank you for your visit.
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