Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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September 2005
Das Leben und das Sterben
von John Beckmann

Kaufmann öffnete die Augen. Blinzelnd sah er sich in dem geräumigen Inneren der Limousine um. Anscheinend war er eingeschlafen, ohne es zu merken. Er rückte seine Brille zurecht und nahm die Akten von seinem Schoß.
Der Regen prasselte mit unveränderter Gewalt auf den schwarzen Mercedes. Wie ein Schnellboot schoss der Wagen über die nasse Fahrbahn.
Kaufmann drückte einen Knopf in der Armlehne. Mit einem Surren senkte sich die Trennwand. Die Scheibenwischer wirbelten unaufhörlich hin und her und gaben die Sicht auf die scheinbar immer gleichen fünfzig Meter Autobahn frei.
Kaufmann sah auf seine Armbanduhr.
"Wie lange brauchen wir noch?"
"Schwer zu sagen. Bei dem Wetter..."
Der Fahrer, er hatte sich Kaufmann als Hal vorgestellt, antwortete, ohne seinen Blick von der Fahrbahn abzuwenden. Kaufmann hatte ihn von Anfang an nicht gemocht. Hals feminine Züge passten so überhaupt nicht zu seiner massigen Statur und irgendetwas in seinen kalten, blauen Augen missfiel Kaufmann aufs Äußerste. Doch leider war sein Fahrer krank geworden und Hal der einzige Ersatz gewesen, der kurzfristig zur Verfügung gestanden hatte. Außerdem, so musste Kaufmann zugeben, lenkte er das tonnenschwere Gefährt mit einer bewundernswerten Leichtigkeit.
"Hören Sie, Hal, ich habe morgen früh ein wichtiges Meeting in Düsseldorf und wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn ich vorher noch ein paar Stunden Schlaf bekommen könnte. Wir verstehen uns also?"
Hal nickte, ohne in den Rückspiegel zu schauen.
Kaufmann wollte sich gerade wieder seinen Papieren widmen, als er in der Ferne die Lichter sah.
Blaulicht durchbrach die Dunkelheit. Hal drosselte die Geschwindigkeit. Sie passierten einen kleinen Anhänger, der am Straßenrand stand. Dutzende von kleinen Lampen formten ein leuchtendes Warndreieck. Langsam fuhren sie weiter. Zwei Streifenwagen standen quer auf der Fahrbahn. Ein Polizist in Regenuniform bedeutete ihnen anzuhalten. Hal ließ den Wagen ausrollen und öffnete sein Fenster einen Spalt. Sofort schoss Regen durch die kleine Öffnung. Der junge Polizist musste fast schreien, um den Orkan zu übertönen.
"Es gab einen schweren Unfall. Zweihundert Meter weiter vorne. Die Autobahn ist gesperrt. Bitte fahren Sie langsam auf dem Standstreifen. Nach ungefähr hundert Metern kommt eine Ausfahrt."
Hal nickte dem Polizisten zu und schloss das Fenster wieder, bevor Kaufmann etwas sagen konnte.
"Verdammte Scheiße. Gerade jetzt."
Erregt beugte sich Kaufmann nach vorne.
"Können wir nicht einfach auf dem Standstreifen weiterfahren bis die Autobahn wieder frei ist?", fragte er.
"Sie haben gehört, was der Polizist gesagt hat. Manchmal muss man sich seinem Schicksal fügen."
Kaufmann ließ sich wieder zurücksinken und rieb den letzten Schlaf aus seinen Augen.
"Sich seinem Schicksal fügen. Sie haben ja auch keine Termine", murmelte er.
Im Schritttempo erreichten sie die Ausfahrt. Scheinwerfer mischten sich mit dem Blaulicht, an mehreren Stellen blitzten Schneidbrenner auf. Trotz des Regens, der Entfernung und des diffusen Lichts, sah Kaufmann die Szenerie gestochen scharf wie auf einer Hochglanzfotografie. Der graue LKW-Anhänger lag wie ein toter Elefant auf der Seite. Er schien unbeschädigt zu sein, nur die Leitplanke war auf einer Strecke von gut hundert Metern eingedrückt. Dann entdeckte Kaufmann die Trümmerteile. Sie lagen willkürlich verteilt auf beiden Spuren, dem Mittelstreifen und der Gegenfahrbahn. Verwirrt verfolgte Kaufmann ihre Spur zurück zur Unfallstelle. Jetzt erkannten seine Augen den schwarzen Klumpen Stahl zwischen dem Anhänger und der Leitplanke. Kaum noch etwas erinnerte an ein Auto; es war komplett zerquetscht und aufgerieben worden. Plötzlich spürte Kaufmann den kalten Wind, Regen tropfte auf sein Gesicht. Es roch nach Benzin und verbrannter Haut. Dann sah er das Innere des Wracks; das Chaos, die Zerstörung, das Blut und den leblosen Körper. Er hörte die Feuerwehrmänner, wie sie sich durch den Sturm Anweisungen zubrüllten. Das Bild verschwand genauso schnell, wie es gekommen war.
"Der Mann... Er ist tot."
Kaufmann war sich seiner Worte kaum bewusst, doch dieses Mal blickte Hal in den Rückspiegel und nickte ihm zu.


Der Sturm hatte sich gelegt. Die Wolkendecke war aufgerissen und gab den sternenlosen Nachthimmel frei. Kein Auto war ihnen begegnet, seitdem sie die Autobahn verlassen hatten. Nur die Begrenzungspfähle blitzten in regelmäßigen Abständen auf, wenn das Licht der Scheinwerfer sie traf. Noch bevor der Mercedes sie passierte, waren sie bereits wieder zu glanzlosen Andeutungen verblasst. Hinter ihnen war nichts als Dunkelheit, als ob die Welt abseits dieses schmalen Korridors nicht mehr existierte.
Kaufmanns Kopf lehnte an der Scheibe. Er spürte die Vibration des Wagens längst nicht mehr. Immer wieder kehrten seine Gedanken zurück zu dem Unfall, zurück zu den Bildern, die er nicht hätte sehen können. Er versuchte sie als Einbildung abzutun, sie seiner Müdigkeit zuzuschreiben, und auch wenn es ihm nicht ganz gelang, so riss es ihn doch zumindest aus seiner Lethargie.
"Wissen Sie eigentlich, wohin Sie fahren?"
Hal zeigte keine Reaktion.
"Seit einer halben Stunde habe ich kein Straßenschild, geschweige denn eine Abzweigung gesehen. Die nächste Autobahnzufahrt kann doch nicht so weit entfernt sein, oder?", fuhr Kaufmann fort.
"Der Weg ist richtig. Ich bin ihn schon häufig gefahren."
"Das hoffe ich für Sie. Ich habe morgen Früh..."
"Sie haben jetzt genügend Zeit", unterbrach ihn Hal.
"Was?", Kaufmann starrte in den Rückspiegel, "Sie hören mir jetzt mal ganz genau zu. Entweder Sie bringen uns auf dem schnellsten Weg zurück auf die Autobahn oder Sie sind morgen Ihren Job los. Verstanden?"
Hal antwortete nicht, doch seine vollen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Kaufmann drückte so kräftig auf den Knopf in der Armlehne, dass sein Fingernagel brach. Die Trennwand fuhr nach oben und verbannte sein Fluchen auf die Rückbank. Hektisch fingerte er sein Handy aus der Aktentasche und starrte fassungslos auf das dunkle Display. Er drückte mehrmals die Powertaste, nichts geschah. Anscheinend war der Akku leer. Kaufmann schmiss das nutzlose Telefon zurück in die Tasche. Schweiß trat aus seinen Poren, sammelte sich auf der Stirn. Sein Atem ging stoßweise, bunte Punkte tanzten auf der Netzhaut. Kaufmann versuchte tief ein und auszuatmen, und zählte in Gedanken langsam bis zehn. Bei acht beruhigte er sich wieder etwas, seine Wut legte sich.
Er dachte daran, Hal die Anweisung zu geben umzukehren, doch verwarf den Gedanken gleich wieder. Sie fuhren schon zu lange auf dieser schlecht gepflasterten Landstraße und irgendwann würde schon die Autobahnzufahrt oder zumindest ein Straßenschild kommen. Außerdem war er sich mittlerweile nicht mehr sicher, ob Hal überhaupt noch auf ihn hören würde. Eine leise Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass mit seinem Fahrer etwas überhaupt nicht stimmte. Erneut griff Kaufmann in die Aktentasche. Seine Hand zitterte noch etwas, doch der kalte Stahl des Brieföffners fühlte sich gut an. Unruhig wanderte Kaufmanns Blick zwischen der dunklen Straße und seiner Uhr hin und her. Die Zeit verstrich und nach einigen endlos langen Minuten hatte er zwei Dinge bemerkt: Seine Uhr war kaputt oder ihre Batterien genauso leer wie die des Handys und, und diese Entdeckung bereitete ihm weitaus mehr Sorgen, die Begrenzungspfeiler waren verschwunden. Kaufmann öffnete das Fenster und steckte seinen Kopf hinaus ins Freie. Mit der Fahrbahnmarkierung endete die ihm bekannte Welt, dahinter existierte nur ein schwarzer, leerer Raum. Auch spürte Kaufmann keinen Fahrtwind, obwohl sie weiterhin mit hohem Tempo fuhren.
Erneut betätigte er den Knopf. Als das Surren verstummt war, herrschte für einen Augenblick Stille im Inneren des Wagens. Selbst das Motorengeräusch war nicht mehr zu hören, verschluckt von der schwarzen Kuppel, die sie umgab.
"Wo bin ich? Wo bringen Sie mich hin?"
Seine Stimme war brüchig, als habe er lange Zeit nicht gesprochen.
"Keine Sorge, Herr Kaufmann. Sie sind gleich da."
"Bitte bringen Sie mich wieder zurück. Ich..."
"Dafür ist es jetzt leider zu spät."
"Ich habe Geld, viel Geld. Ich kann Sie bezahlen. Ich..."
"Ich weiß."
Kaufmann schwieg. Er sank tiefer in seinen Sitz. Mit jedem Ausatmen schien ein Stück Leben seinen Körper zu verlassen. Ihm war nie aufgefallen wie weich die Polster waren. Der Brieföffner glitt aus seiner Hand und fiel zu Boden. Die Straße war auch verschwunden, sie fuhren jetzt auf einer Brücke. Und unter ihnen, in unendlicher Tiefe, floss ein Fluss aus reinem Schwarz. Kaufmann schloss die Augen.


Der Wagen hielt an.
"Wir sind da", sagte Hal.
Langsam öffnete Kaufmann seine Augen.
"Wo...?"
Mehr brachte er nicht heraus.
"Es gibt viele Namen für diesen Ort. Und genauso viele Beschreibungen, je nachdem an welchen Gott Sie glauben. Aber alle meinen sie dasselbe."
"Aber ich... Ich bin noch nicht tot."
"Nein?"
Die Bilder kamen zurück. Der Regen, die Dunkelheit, das Wrack und der zerstörte Körper. Das linke Bein war von der Fahrertür zerdrückt worden, aus dem Brustkorb ragte das Ende der B-Säule. Das Dach hatte den Kopf in einem grotesken Winkel vom Hals abgeknickt. Trotz der Verstümmelungen erkannte Kaufmann seinen Körper. Die Gewissheit traf ihn nicht wie ein Schlag, nicht wie etwas, dass man mit angstgeweiteten Augen begreift. Es war eher wie etwas, dass er schon lange gewusst hatte, dass er tief in seinem Inneren begraben hatte, in der Hoffnung, es vergessen zu dürfen.
"Manche merken es kaum, weil Sie nie richtig gelebt haben", sagte Hal.
Kaufmann stieg aus. Die schwarze Unendlichkeit empfing ihn, er hatte das Gefühl zu schweben. Er beobachtete die kleiner werdenden Rücklichter, bis die Dunkelheit sie verschluckte.
Eine Zeit lang stand Kaufmann in dem riesigen, leeren Raum. Dann ging er los.

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