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September 2005
Auszeit
von Beate Novak

Er hüpfte mir vor die Füße und blieb liegen. Rot war er. Rot wie eine Kirsche. Ein kleiner, runder Gummiball. Wo kam er her? Hatte ich ihn gebremst? Ich konnte mich nicht erinnern ihn berührt zu haben. Er war plötzlich einfach da, reglos, wie angeklebt auf dem holprigen Asphalt des Gehweges. Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah mich um. Emsiges Treiben erfüllte die fußgängerfreundliche Straße dieser lebendigen Stadt. Vergebens hielt ich Ausschau nach dem Kind, das ihn vielleicht schon mit weinerlicher Stimme suchte. Eilige Leute rempelten mich an, während ich immer noch unschlüssig auf die Kugel vor mir starrte. Sekundenlang zögerte ich. Sollte ich ihn aufheben oder wegtreten? Ich entschied mich dafür ihn mit einem Schritt zu übersteigen. Doch ich musste ihn wohl beim Nachsetzen des anderen Fußes gestreift haben, denn bereits nach ein paar Metern kullerte er schon wieder vor mir her. Und wieder blieb er ohne äußeren Einfluss direkt vor der Spitze meiner Mokassins liegen. Ich musste lächeln. Irgendjemand trieb hier sein Spiel mit mir. Meine Augen suchten die Umgebung ab, um die versteckte Kamera zu finden, die meine Reaktionen einfangen wollte, doch ich konnte nichts Ungewöhnliches entdecken: Menschen mit Einkaufstüten, deren Arme mit jedem Schritt länger wurden; trippelnde Hunde mit quer heraushängenden Zungen; überquellende Abfalleimer, deren Inhalt auf Alkoholiker und Fast-Food-Junkies schließen ließen; Kinder mit Eistüten, deren Ellbogen sich als Sprungbrett für herunterlaufende Schokotropfen erwiesen, ein Pantomimen-Clown auf Stelzen mit weißem Gesicht und rotem Haarkranz, auf dessen Glatze ein kleiner bunter Papagei emsig auf- und abwippte ...
Ich schüttelte die Gedanken ab, schließlich hatte ich Wichtigeres zu tun, als mich von kleinen, roten Gummibällen ablenken zu lassen. Ich versetzte ihm einen sanften Stoß in die entgegengesetzte Richtung, direkt in die nachfolgende Menschenmenge, in der er zwischen Pumps, Turnschuhen und Sandaletten mustergültig verschwand. Es war viel zu erledigen an diesem Tag. In meiner Hosentasche knisterte der Einkaufszettel bei jedem Schritt und erinnerte mich an meine Lieblingsaffirmation: Zeit ist Geld. Wer in dieser Welt bestehen will, muss sich organisieren können. Ein straffer Zeitplan gehört dazu. Konzentration für die wesentlichen Dinge. Ablenkungen jeglicher Art waren gestrichen. Stolz klopfte ich mir in Gedanken auf die Schulter. Ich hatte mein Leben im Griff!

Eine Ampel schaltete auf Rot. Inmitten der wartenden Traube lernte ich meinen Notizzettel auswendig. Als das Fußgängergrün aufleuchtete, konnte ich ihn bereits von vorne nach hinten und von hinten nach vorne aufsagen. Beim Weitergehen blockierte etwas meinen Fuß. Ich sah nach unten und da lag er wieder. Rot und rund. Ein unschuldiger kleiner Gummiball. Langsam wurde ich zornig. „Such dir ein anderes Opfer! Ich habe keine Zeit für deine Spielereien“, schrie ich hinunter auf meine Füße. Die Menschen hielten mich wohl für ein verwirrtes Wesen, denn urplötzlich erweiterte sich der Radius um mich herum zu einem leeren Kreis. Ich lief puterrot an. Es war mir mehr als peinlich, dass ich mich hatte so gehen lassen. Hier war gesunder Menschenverstand gefragt. Ich würde den Quälgeist einfach einstecken. Basta! Doch bereits beim Hinunterbeugen rollte er einige Zentimeter nach vorne, so dass ich ihn nicht greifen konnte. Mit jedem Schritt, mit dem ich mich ihm näherte, entfernte er sich in gleichbleibender Distanz. Was passierte hier eigentlich? Ich war ratlos, aber langsam begann mich diese Kugel zu beeindrucken. Wie lange würde sie mich begleiten? Folgte sie mir oder ich ihr? Meine Neugierde war geweckt. Ich wollte mich auf ihr Spiel einlassen. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren erfasste mich ein Gefühl kindlicher Spannung.

Es ging die Straße hinunter. Immer passte er sich meiner Geschwindigkeit an, doch die Richtung bestimmte eindeutig er. Nur manchmal blieb er abrupt stehen. Dann war ich diejenige, die den Abstand einhielt, bis er von sich aus wieder weiterrollte. Ich lernte, dass ich mir bei diesen kleinen Pausen die Umgebung betrachten sollte. Die erste Rast legte er am Taubenbrunnen ein. Noch nie hatte ich ihn mir genauer angesehen. Es waren drei Kinderfiguren aus Bronze, auf deren Hände goldene Tauben saßen und Wasser aus ihren Schnäbeln in eine überdimensionale Schale sprühten. Beim Anblick des klaren Wassers überkam mich Durst, und ich nahm eine Handvoll aus der großen Schale. Wie seltsam, es schmeckte gar nicht nach Wasser, es schmeckte nach ...

Der Ball begann sich zu bewegen und rollte gemächlich weiter. Ich folgte ihm durch die engen Gassen der Altstadt, vorbei an den niedrigen Fenstern der Fachwerkhäuser, hinter denen Katzen schräge auf meinen Begleiter schielten, bis hinunter zum großen Marktplatz, auf dem die Bauern der Umgebung ihre selbst geerntete Ware anboten. Hier hielt meine Murmel, wie ich sie inzwischen nannte, ohne Vorwarnung an. Ich sah mich um. Ich stand mitten auf dem weiten Platz mit seinen Buden, hinter denen die Marktschreier ihre Ware feilboten. Was sollte ich hier? Achselzuckend sah ich hinunter. Doch die Kugel zu meinen Füßen rührte sich nicht. Ich schloss die Augen und versuchte das Stimmengewirr zu sortieren: Eine alte Frau pries ihre selbst gepflückten Blumensträuße an; ein Bauer erklärte, dass seine Erdbeeren die süßesten in der ganzen Umgebung seien. Jemand verkaufte “garantiert ungespritzte Äpfel mit Wurm”, seine Kundschaft stimmte ein Gelächter an. Und über alldem lag ein eigenartiger Duft, eine Mischung aus sämtlichen Obstsorten, Kräutern, Gemüse. Es roch fremdartig und doch vertraut, es roch nach ...

Etwas klopfte an meinen Schuh. Als ich die Augen öffnete, hatte sich die rote Murmel bereits wieder in Bewegung gesetzt. Sie rollte unbeirrt über den Marktplatz hinüber zu der Straße mit den hohen, herrschaftlichen Häusern, die sich aneinanderschmiegten, als hätten sie Angst, alleine nicht die Balance halten zu können. Und wieder hieß mich mein kugeliger Stadtführer innehalten. Musik klang an mein Ohr. Irgendwo dort oben spielte jemand hinter einem geöffneten Fenster Klavier. Ich tastete die Fassaden ab und entdeckte einen wehenden Vorhang, der im Takt der Melodie seine Falten schlug. Es war kein geläufiges Stück, das da durch die Luft vibrierte. Und doch klang es seltsam bekannt in meinen Ohren. Es klang nach ...

Mir blieb keine Zeit um nachzudenken, denn der Ball kullerte ein paar Meter vor mir, und ich beeilte mich ihn einzuholen. Er lotste mich über die befahrene Straße auf die andere Seite. Schnurstracks rollte er Richtung Park, torkelte knirschend über die Kieswege, um dann abseits über eine Wiese unter einem alten Baum zum Stillstand zu kommen. Fast war ich ein bisschen enttäuscht über seine Platzwahl. Müde setzte ich mich und lehnte meinen Rücken an den knorrigen Stamm der alten Eiche. Ich spürte die harte Rinde, und meine Hände strichen über das feuchte Moos, das sich wie ein weiches Polster unter mir ausbreitete. Ein kleiner Käfer nahm meinen Arm als willkommene Einladung zu einer Bergtour und kitzelte mich auf dem Weg zum Gipfel. Das Blätterdach der Eiche begann sich zu bewegen, und ein leichter Wind kühlte meine glühende Stirn. Die Augen fielen mir zu, und ein seltsames Gefühl kam mit ungeahnter Macht. Es war ein Gefühl von ...

Ein Geräusch ließ mich hochschrecken. Mein Begleiter rollte unablässig auf einem heruntergefallenen, trockenen Blatt hin und her. Das war wohl das Signal zum Aufbruch. Wohin würde er mich jetzt führen? Ich war erstaunt, als ich bemerkte, dass er exakt den gleichen Weg zurück nahm. Vom Park über die Straße mit dem Klavierspiel, den Marktplatz hinauf, durch die engen Gassen der Altstadt, vorbei am Taubenbrunnen und wieder hinein in die Fußgängerzone. Und fast genau an der Stelle, an der er mir zum ersten Mal vor die Füße hüpfte, hielt er vor einer Bank an. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass auf dieser Bank jemand saß. Es war der Pantomimen-Clown mit dem roten Haarkranz und dem bunten Papagei auf der Glatze, der vorhin auf Stelzen seine Künste feilbot. Ein breites Grinsen erhellte sein Gesicht, als er zu mir aufsah: “Wo haben Sie sie gefunden?” fragte er. Ich musste ihn wohl ziemlich dümmlich mit offenem Mund angestarrt haben, denn er fügte hinzu: “Meine Nase, ich spreche von meiner roten Nase”. Und mit einem Griff nahm er die Murmel vom Boden auf und setzte sie fachmännisch in die Mitte seines weiß geschminkten Gesichts. “Danke, nochmals vielen Dank, dass Sie sie bemerkt und aufgehoben haben. Nicht jeder ist so aufmerksam.” Mit diesen Worten verschwand er mit den Stelzen unterm Arm, den Papagei auf dem Kopf und meinem Stadtführer im Gesicht in der Menschenmenge. Ich war wie vom Donner gerührt. Und plötzlich erkannte ich die Botschaft. Ich wusste mit einem Mal wonach die letzte Stunde geschmeckt, gerochen und geklungen hatte, wonach sie sich anfühlte. Und jetzt sah ich es auch. Es war die Zeit. Eine Stunde Zeit, in der meine Sinne wiederbelebt wurden nach Jahren der Ohnmacht. Eine Stunde Zeit, die mir zeigte, wie erfüllt das Leben sein kann, wenn man die Ruhelosigkeit loslässt und sich seiner Antennen bewusst wird. In diesem Moment fühlte ich die Sonne auf meinem Gesicht, hörte die Wortfetzen vorübergehender Passanten, nahm den Duft von Parfum und frischem Brot wahr, sah eine Handvoll Spatzen sich zeternd um einen Krümel streiten ... und ich konnte es nachhaltig schmecken, das volle Bukett, das sich entfaltet auf den wandelbaren Straßen unseres Lebens.

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