Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Oktober 2005
Das Spitzendeckchen
von Monique Lhoir

Während Henry Miller aus dem Taxi stieg, rückte er seine Seidenkrawatte zurecht, klopfte ein unsichtbares Staubkörnchen von seinem grauen Jackett und schaute kurz zum Himmel. Regenwolken zogen vorbei. London bereitete sich auf den Herbst vor. Energisch umfasste er den Griff des Regenschirmes, ein unverzichtbares Requisit in diesen Tagen, und hastete zur Haustür des Penthouses. Mit einem Code öffnete er die Tür, durchlief den mit Marmor gepflasterten Flur und betrat den Fahrstuhl. Im zwölften Stock angekommen betätigte er eine Fernsteuerung, die er am Schlüsselbund trug. Ein leises Surren ertönte und ließ Henry seine Wohnung betreten; automatisch ging die Beleuchtung in sämtlichen Räumen an. Im Eingangsbereich stellte er den Aktenkoffer ab, zog seine Straßenschuhe aus und schlüpfte in karierte Filzpantoffeln. Wie jeden Abend blickte aus dem großen Panoramafenster kurz auf die Themse, betätigte den unauffälligen Schalter an der Wand und wartete, bis sich sämtliche Jalousien geschlossen hatten und ihn somit von der Außenwelt abgeschotteten.
Erleichtert atmete Henry durch, ersetzte das Jackett durch einen seidenen Hausmantel, ging an die Bar und schenkte sich einen Whisky ein. Er setzte sich auf das schwarze Ledersofa, sorgfältig darauf bedacht, keine Falten in die drapierten Kissen zu machen. Alles hatte in Henrys Leben und insbesondere in seiner Wohnung eine Ordnung, eine penible Ordnung. Er arbeitete hart von früh bis spät an der Börse, setzte täglich Millionen um. Auf ihn konnte man sich verlassen, er war gefragt, wenn es um die ganz großen Summen ging. Und das funktionierte ausschließlich mit eiserner Disziplin und klaren Strukturen. Das war seine Überzeugung.
Henry nippte am Whisky und schaute sich zufrieden um. Die Einrichtung wirkte dezent und übersichtlich, alles aus Glas oder schwarzem Lack, symmetrisch angeordnet. Klar, das Design hatte ihm viel Geld gekostet, doch jedes Möbel zeugte von ausgesuchter Eleganz und stand dekorativ an seinem Platz, nicht zu viel, damit nicht der Eindruck von Unordnung entstand. Nirgends entdeckte er ein Staubkörnchen, alles war blitzblank poliert. Täglich, wenn er an der Börse arbeitete, kam ein unsichtbarer Geist, den ihm eine Agentur besorgt hatte. Henry bemühte sich stets, keinen Schmutz zu machen oder die geringste Kleinigkeit liegen zu lassen. Es empfand es als peinlich, wenn dadurch irgendjemand Fremdes auf seine Person schließen könnte. Er wollte nichts verursachen, was menschlich anmutete. Nein, er wollte niemandem auf dieser Welt zur Last fallen, auf der er nur eine kurze Zeit als Gast lebte.
Henrys Blick schweifte über die Lackkommode – plötzlich erstarrte er und riss die Augen auf. „Was ist das?“ Langsam stellte er den Whisky auf den Glastisch, um ja keinen Tropfen zu vergießen. Vorsichtig schlich er zur Kommode, die gewöhnlich eine edle afrikanische Skulptur zierte. Jetzt stand dort ein billiger Kerzenständer auf einem – er sah näher hin – weißen Häkeldeckchen. Mit spitzen Fingern packte er den Fremdkörper und schob ihn zur Seite. Ekel erfasste ihn, als er anschließend das filigrane Ding in die Hand nahm und gegen das Licht hielt. Angewidert verzog er seinen Mund. Offensichtlich handelte es sich um eine Handarbeit, das Muster wies Fehler auf und es war unrund.
„Wer hat mir das angetan“, flüsterte er entsetzt und ließ das Deckchen zurück auf die Kommode fallen. „Ein Boykott, eine Unverschämtheit – nein, ein Attentat auf meine Person.“ Ohne die Kommode aus den Augen zu lassen, tastete er sich rückwärts zum Sofa, stieß dabei mit dem Knie an den Glastisch. Wie gelähmt setzte er sich und stierte das Deckchen an. Er spürte, wie sein Herz zu rasen begann und anschließend unrhythmisch schlug. Angst überkam ihn, im nächsten Moment einen Herzinfarkt zu erleiden und auf diese Art und Weise frühzeitig zu Tode zu kommen. Der unsichtbare Geist würde ihn, ein schrecklicher Gedanke, am nächsten Morgen in seinem Hausmantel finden.
Im Angesicht seines nahen Endes schlug er verzweifelt auf die wohlgeordneten Kissen ein und verursachte so nicht nur Falten, sondern tiefe, knautschige Dellen. Voller Panik schaute er auf seine verwerfliche Tat, schnellte hoch, schnappte sich das Glas, hastete an die Bar und schenkte mit zittrigen Händen einen weiteren Whisky ein. Einige Topfen liefen daneben und hinterließen auf dem polierten Spiegel Pfützen. Mit Tränen in den Augen wischte er sie mit den Fingern weg, worauf sich unansehnliche Schlieren bildeten.
Nun war es mit seiner Beherrschung vorbei. Ein tierischer Schrei löste sich aus seiner Kehle, der in einem Hustenanfall endete. Mit der geballten Faust schlug er sich auf die Brust. Das gefüllte Glas entglitt seinen Händen und fiel krachend auf den glatten Marmorboden, zerschellte und verteilte Tausende von Splittern in der gesamten Wohnung.
In Henry schrie es. Sein gut sortiertes Leben schien zerstört. Er riss den Seidenmantel auf, um sich Luft zu verschaffen. Die Knöpfe sprangen ab, einer kullerte mit einem hämischen Geräusch unter das Ledersofa.
„Das auch noch“, fluchte er und robbte los. Dabei verlor er seine karierten Pantoffeln, die nun in Abständen unsymmetrisch auf den Steinen liegen blieben. Einer davon besaß die Unverschämtheit, verkehrt herum auf dem Filz zu landen.
Das Kinn auf die Knie gestützt blieb er erschöpft vor dem Sofa sitzen und besah sich die Bescherung, die sein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte. Tränen rannen ihm die Wangen hinunter und tropften auf den gebohnerten Marmor.
„Ich brauch unbedingt Ruhe“, murmelte er. „Ich bin völlig überarbeitet. Ich habe Raubbau mit meinem Körper betrieben, in den letzten Jahren nie eine Pause gemacht, nie an mich gedacht. Ich muss schlafen, dringend schlafen. Das ist ein Wink. Ein Wink in Form eines Deckchens von einem unsichtbaren Engel – oder etwa des Teufels?“ Henry bekam eine Gänsehaut und begann zu frieren.
Er rappelte sich schwerfällig auf, zog Hemd und Hose aus und ließ alles auf dem Boden liegen. Genauso entledigte er sich seiner Socken, roch kurz daran und warf sie völlig entkräftet mit nach unten gezogenen Mundwinkeln durch den Raum. Er schaffte es nicht mehr, unter die Dusche zu kommen. Voller Verachtung über seinen eigenen, menschlichen Geruch verkroch er sich unter die Bettdecke, zog sie bis zum Hals hinauf und schlief bald ein.

Die ersten Sonnenstrahlen schafften es durch die Ritzen der Jalousie, als Henry erwachte. Er schnellte hoch und starrte auf die Uhr. Es war bereits nach neun. Um sieben Uhr hätte er an der Börse sein müssen. Er rieb sich die Augen, setzte bedächtig ein Bein nach dem andere aus dem Bett. Er fühlte sich krank, er hatte einen Alptraum gehabt, einen schrecklichen Alptraum. Vorsichtig lugte er ins Wohnzimmer und schloss rasch die Tür. Das war kein Alptraum. Sein Wohnraum sah aus wie nach der Schlacht von Waterloo. Stöhnend legte er die Stirn an das kühle Holz des Rahmens.
Doch dann straffte Henry energisch den Rücken. Nein, so schnell ließ er sich nicht unterkriegen. Er würde an der Börse anrufen und sich krank melden. Aber erst wollte er wissen, wie der unsichtbare Geist aussah, der sein Leben derart ruiniert hatte. Mutig wollte er ihm in die Augen blicken und seine Meinung sagen, ihm mit voller Manneskraft entgegentreten und ihn vielleicht sogar töten. Jawohl, so kampflos räumte ein Henry Miller nicht das Feld.
Er tapste entschlossen ins Bad. Auch hier blinkte und funkelte es vor Sauberkeit. Trotzig drehte er den Hahn auf, ließ absichtlich die Duschtür einen Spalt offen stehen, sodass Wasser ins Bad laufen konnte. Laut singend stellte er sich unter den warmen Strahl, nahm übertrieben viel Gel und sah zu, wie der Schaum sich auf dem spiegelnden Chrom absetzte und anschließend über die Fliesen lief. Er riss mehrere Handtücher vom Haken, schmiss eines auf den Boden, trat mit nassen Füßen darauf herum, wickelte ein anderes um den Kopf und ein weiteres um die Hüften. Triumphierend begutachtete er den vom Schwitzwasser verblassten Spiegel, an dem langsam Wassertropfen wie zum endgültigen Todesschlag hinunterliefen. Henry wischte mit beiden Händen darüber und verursachte genüsslich Schlieren. Nach vollendeter Arbeit trommelte er sich mit beiden Fäusten auf die Brust und ließ einen Tarzanschrei frei.
Ein Echo erklang. Henry hielt erschrocken inne. Das Echo das war nicht seines, es klang – viel heller.
Er stand wie erstarrt, schaute auf das Handtuch, das seine Hüften umschlang, um sicherzugehen, dass es alles Notwendige bedeckte. Vorsichtig öffnete er die Tür und lugte durch den Spalt.
Da stand sie, die Besitzerin des Spitzendeckchens. Ihre Haare waren unordentlich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Erschrocken hielt sie die Hand vor dem Mund und betrachtete das Chaos, das er am Vorabend hinterlassen hatte. Henry öffnete die Tür ganz. Die junge Frau drehte sich erschrocken um, starrte ihn an und ließ erneut einen Schrei los.
Mit nassen Füßen lief Henry über den Marmorboden zur Kommode und nahm das unvollkommene Deckchen auf.
„Haben Sie das gemacht?“, fragte er verlegen.
„Ich ... ich dachte, es gibt der Wohnung etwas Menschliches, sie ist so – tot, als wenn hier niemand lebt“, stotterte sie.
Henry legte die Häkelarbeit zurück, zog sie straff, sodass sie halbwegs eine runde Form erhielt, und stellte den Kerzenständer darauf.
„Es ist wirklich gut geworden“, sagte er leise. „Können Sie auch ein ebenso gutes Frühstück zubereiten?“ Er senkte seinen Blick, als er seinen Magen knurren hörte. Wie auf Kommando rutschte ihm das Handtuch von den Hüften. Rasch bückte er sich, wohl darauf bedacht, ihr nicht sein nacktes Hinterteil entgegenzuhalten, und bedeckte seine Blöße. Henry spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss, eine menschliche Röte.
Sie lächelte verständnisvoll. „Natürlich. Trinken Sie lieber Tee oder Kaffee?“

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