Mariannes neunzehnjährige Tochter Sandra stopfte wütend ihre Habseligkeiten in den Kleinwagen und rief: „Und dass Du `s nur weißt! Ich bin froh, endlich diesem Kleinstadtmief zu entkommen!“
Ihre Mutter stand in der Tür des Reihenhauses: „Und von was willst du leben? Hast nicht einmal Geld, Dir eine Wohnung einzurichten!“
Wie erleichtert war die Mutter gewesen, als nach Monaten des Schweigens endlich ein Brief eingetroffen war, in dem Sandra ihr mit teilte, dass sie in einem Antiklädchen jobben würde und sich so nach und nach wohnlich mit Designermöbeln eingerichtet habe. Ja, es folgte sogar ein begeistertes Telefonat: „Mama! Das ist was anderes, als deine spießige Wohnwand aus furnierter Eiche. Ich lebe in Hochglanzlack und Edelstahl. Ein leichter und klarer Stil. Der Herd mit Heißluft. Da muss man den Braten nicht mehr angießen. Der wird automatisch saftig.“
„Seit wann kannst du kochen“, wollte Marianne sagen. Aber sie hatte es hinunter geschluckt. Und machte stattdessen den Vorschlag, die Tochter zu besuchen. Immer wieder in der Folgezeit.
Aber Sandra hatte stets Ausflüchte. Einmal war es der Laden, Inventur und Umbauten, ein anderes Mal eine Geschäftsreise und dann Frust wegen einer verlorenen Liebschaft, oder eine arge Erkältung: „Schließlich will ich dir von der Großstadt was zeigen. Und das braucht Zeit. Alleine wärest du hier verloren, Mama. Ist schon was anderes als dein Kaff.“
Marianne legte den Hörer auf und gähnte. Sie war müde geworden. Zu matt, um Diskussionen mit Sandra zu führen.
***
`Mag ja sein, dass diese Großstadt was anderes ist´, dachte Marianne und schlug den Kragen ihres Wollmantels hoch, als sie vor dem Bahnhof in ein Taxi stieg, `aber ich bin nicht zu blöd, mich in einen Zug zu setzen, und mich anschließend chauffieren zu lassen.´ Natürlich wäre ihr eine Fahrt mit der Untergrundbahn und notwendiges Umsteigen ein Graus gewesen.
Nun stand sie vor dem Antikladen und war beruhigt, weil alles sehr seriös aussah, und es sich dort um ein wirklich gepflegtes Sortiment handelte. Kein billiger Trödel. Marianne lugte seitlich durch das Schaufenster hinein. Ein alter Mann polierte einen reich verschnitzten Spiegel.
„Montags ist nie viel los, da habe ich frei und genieße das lange Schlafen.“
Marianne hatte ihren Besuch nicht angekündigt. Deshalb hatte sie auch den Montag als Anreisetag gewählt. Sie hob ihren Koffer an, begab sich gegenüber in eine Telefonzelle und wählte Sandras Nummer.
„Mama? Warum rufst du so früh an?“, hörte sie die verschlafene Stimme ihrer Tochter. Verschlafene Stimme? Ein leises Krächzen war das.
„Du hast wieder zu viel geraucht“, wollte Marianne sagen. Schluckte es aber ... O ja! Sie hatte längst gelernt, Vorwürfe nicht auszusprechen, und sagte: „Ich bin hier und habe mir gerade den Laden angesehen, wo du arbeitest. Gefällt mir gut.“ Und ohne Luft zu holen fügte sie an, „keine Sorge! Ich bin nicht hinein gegangen.“
„Du bist hier?“ Drei Worte in fünf Tonlagen. Das war typisch für Sandra, wenn sie überrascht war.
Marianne nickte.
„Mama! Bist du noch dran?“
„Ja.“
„Und jetzt?“
„Jetzt holst du mich hier ab. Oder soll deine arme alte Mutter im Großstadtdschungel umkommen?“ Marianne zwang sich zu einem Lachen.
Sie hörte, wie Sandra hustete. „Mein Auto ist in der Werkstatt! Warum hast du nicht gesagt, dass du kommen willst?“
`Das tue ich doch bereits seit Monaten´, dachte Marianne und sagte aber: „Nun stell dich nicht so spießig an. Ich habe einen marinierten Braten für deinen Superherd im Handgepäck, und übernachten kann ich im nächsten Hotel, weil du bestimmt nur ein schmales, modernes Bett mit Chromfüßen hast. Wo ist das Problem?“
Schweigen.
Nun fand sie ihre Idee zu diesem Ãœberraschungsbesuch nicht mehr so gut.
„Sandra? Bist du noch dran?“
„Ja.“
„Und jetzt?“
„Taxi“, hauchte die Tochter und hängte ein.
***
Sandra nahm ihrer Mutter Koffer und Tasche aus der Hand, stellte beides im Flur ab und zog sie hinein in ihren Wohnraum: „Mama, das hier ist ein kombinierter Raum. Wohnen, Schlafen, Kochen und Arbeiten. Da steht mein Futon-Bett, dort das Edelstahlregal und gegenüber zwischen den Fenstern, da ist der Schreibtisch mit Glasplatte und weiter hinten, wenn man den Vorhang beiseite schiebt, da koche ich mit dem Heißlufth... „
„Moment!“, unterbrach Marianne. Sie drehte sich in dem Raum um die eigene Achse und breitete beide Arme aus. „Ich sehe kein Bett, ich sehe auch kein Regal, und ich kann nicht die Spur eines Schreibtisches erkennen!“
Sandras Mutter hielt in ihrer Drehung inne und wollte zum Vorhang gehen, aber die Tochter stellte sich ihr in den Weg: „Wetten!“, schrie sie, „dass du auch keine Küche mit Heißluftherd siehst? Typisch für dich!“
Marianne fasste Sandras Unterarm und zischte: „Was soll das? Hauch mich an! Trinkst du?“
Sandra befreite sich mit einem Ruck aus dem Griff der Mutter: „Das hätte ich mir denken können! Du bist gekommen, um meinen Zigaretten- und Alkoholkonsum zu kontrollieren!“
Die Mutter schob Sandra beiseite und riss den Vorhang auf. Auf dem Boden lag eine alte, abgewetzte Matratze und eine verschlissene Wolldecke.
Sie zog beide Augenbrauen hoch, verdrehte die Augen und bückte sich, um die Tüte einer Fast-Food-Kette aufzuheben. „Aha“, flüsterte Marianne, „du kochst also Hamburger im tollen Heißluftherd. Wunderbar!“
„Mama!“ Sandra nahm ihr die Tüte aus der Hand und sagte leise, „kann ich was dafür, wenn du so wenig Kreativität besitzt?“
Die Mutter setzte sich auf den Holzboden, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust: „Sehr bequem so ein Designersofa. Hätte ich nicht gedacht. Bin ich nun kreativ genug?“
Sandra setzte sich im Schneidersitz davor: „Siehst du. Geht doch. Möchtest du einen Kaffee? Die Kaffeemaschine ist von Dolani, das ist ein italienischer Designer, aber du kannst auch einen Cappuccino haben.“
Marianne atmete tief durch: „Du kiffst!“ Sie stand auf, ging zum Fenster und stocherte mit ihrem Zeigefinger in der trockenen Erde der verwelkten Zimmerlinde herum. Plötzlich – sie wusste nicht warum – musste sie lachen: „Und das hier? Ist das ein echtes Gewächs oder ist das auch von einem Designer kreiert worden? Wie heißt denn das Kunstwerk? Welkes Blatt auf trockener Erde?“
„Hä?“ Sandra trat neben ihre Mutter, „du weißt doch, dass ich Topfpflanzen hasse!“, und warf die zusammen geknüllte Tüte der Fast-Food-Kette achtlos auf das Fensterbrett.
Die Mutter hielt den Keramiktopf vor Sandras Augen: „Und was ist das hier?“
Sandra drehte sich um und ging hinter den Vorhang: „Ich sehe nichts!“
Marianne stellte die Pflanze auf die Fensterbank zurück und folgte der Tochter, die es sich auf der Matratze bequem gemacht hatte.
„Ich kiffe nicht! Rauche nur ab und zu ne Ziggi. Und Saufen tu ich auch nicht.“ Sandra schüttelte den Kopf und kicherte. „Du bist sauer, weil dir die Leichtigkeit und das Luftige meiner Einrichtung besser gefällt als das Schwere und Dunkle deiner Museumsmöbel.“
Das war zuviel für Marianne!
Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief in den Flur, um Koffer und Tasche an sich zu nehmen.
„Mama, pass auf! Da steht...“ ,rief Sandra ihr hinterher.
Aber Marianne war bereits gestürzt. Die Tochter eilte herbei, half ihrer Mutter hoch und streichelte ihre Wange: „Ach herjeh! Du hast den Schirmständer übersehen und bist drüber gestolpert!“
Die Mutter rieb sich ihre schmerzende Hüfte und schaute sich um: „Schirmständer?“
Sandra nickte: „Bist nicht die erste, die das gute Stück übersehen hat. Gebürstetes Edelstahl.“
Marianne drehte sich herum. „Ich sehe keinen ... “, wollte sie sagen, würgte stattdessen ein kurzes „Aha“ heraus.
Sandra lächelte und hätte gerne gesagt: „Na bitte! Geht doch! Ein bisschen Phantasie nur und ... “ Schluckte den Satz aber hinunter und drückte ihrer Mutter wortlos Koffer und Tasche in die Hand.
***
Das Klingeln des Telefons riss Marianne aus dem Schlaf.
„Mama! Wenn du magst, kannst du dieses Wochenende kommen. Aber übernachten musst du im Hotel, weil mein Bett ... “
Marianne rieb sich die Augen und gähnte: „Kind, ich weiß. Dein Bett ist eigentlich eine alte Matratze mit einer verschlissenen Decke drauf.“
„Mama? Wie kommst du denn auf so was? Hast du was getrunken?“
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