'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespĂŒrt.
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Oktober 2005
Traumtod
von Martina Bartels

Zögernd, einen Fuß vor den anderen setzend, ging Lisa den Friedhofspfad entlang. Sie sah weder nach rechts noch nach links. Der Boden war uneben, die ausgedörrte Erde voller Risse.
„So klein und unbedeutend so ein Riss und doch so entscheidend!“ Ihre Gedanken ĂŒberschlugen sich. Immer wieder hörte sie die Worte ihres Arztes.
„Es tut mir leid Lisa, meine Vermutung hat sich bestĂ€tigt, auf dem Röntgenbild kann man es deutlich erkennen, ein Haarriss am Mittelfußknochen, daher kommt der Schmerz.“
Sie wollte seine AusfĂŒhrungen nicht hören und war ihm ins Wort gefallen.
„Kann ich damit weiter... ?“ Ehe sie den Satz beendet hatte, schĂŒttelte er den Kopf.
Stille umgab sie. Gespenstische Stille.
„Es ist wie in den Sekunden vor dem großen Auftritt. Atemlose Spannung, ehe der Applaus aufbrandet.“ Ein kleines LĂ€cheln umspielt ihren Mund. „Vergiss es, es ist vorbei. Nie wieder!“
Ihr Gang wurde schleppender. Wie von einer unsichtbaren Last gebeugt schlurfte sie ĂŒber den Rasen und ließ sich unter einer Trauerweide ins Gras sinken. Mit dem RĂŒcken an den Baum gelehnt, spĂŒrte sie durch den dĂŒnnen Stoff des Kleides die raue Rinde.
Erst jetzt sah Lisa die Vögel in den Zweigen, doch sie hörte keinen Gesang.
Zwei Jungen spielten Fangen und kamen nÀher. Lisa zog die Beine an, damit die Kinder nicht stolperten. Einer trat ihr auf den Knöchel. Ihre Lippen bewegten sich, aber es blieb alles still.
FĂŒr einen Moment schloss die junge Frau ihre Augen. Obwohl sie von frischem GrĂŒn umgeben war, lag in der Luft ein modriger Geruch. Lisa konnte die FĂ€ulnis schmecken.
Schauer liefen ĂŒber ihren RĂŒcken und sie rieb sich fröstelnd die Arme.
„Weiter“, drĂ€ngte eine innere Stimme.
Seufzend stand die Frau auf und ging zurĂŒck auf den Weg. Jetzt musterte sie das gegenĂŒberliegende Feld genauer.
Verwitterte Steinkreise waren mit Moos ĂŒberzogen. Vereinzelt lag verbranntes oder vermodertes Papier darin. Sie glaubte, verrostete oder angelaufene SchmuckstĂŒcke zu erkennen.
Ihre Kehle war trocken. Immer wieder befeuchtete sie mit der Zunge ihre spröden Lippen. Der schmale Pfad mĂŒndete in einen Weg.
Plötzlich wimmelte es von MĂ€nnern und Frauen. Verwirrt ĂŒber dieses GedrĂ€nge blieb Lisa stehen und beobachtete das Geschehen. Die Leute hasteten vorbei. Flossen ineinander. Manche den Kopf gesenkt, andere stolz den Blick erhoben.
Eine Dame mit einem dicken Buch und einer Schachtel in der Hand eilte an ihr vorbei, so dicht, dass sich ihre Schultern berĂŒhrt haben mĂŒssen, trotzdem hatte sie nichts gespĂŒrt. Irritiert strich sie ĂŒber ihren Arm, fĂŒhlte die nackte Haut. UnglĂ€ubig schĂŒttelte Lisa den Kopf, ehe sie langsam weiter ging.
Erst jetzt bemerkte Lisa, dass viele der Leute SchmuckkĂ€stchen, Schachteln, BĂŒcher, alte Schallplatten und CDs mit sich trugen. Ein Mann hielt einen riesigen StoffbĂ€ren an die Brust gedrĂŒckt. Seine Hand streichelte das Fell und seine Lippen bewegten sich, als wĂŒrde er dem Teddy etwas erzĂ€hlen. Doch Lisa hörte kein Wort, nicht mal ein flĂŒstern. Auch keine Schritte, nichts.
Die Menge schob sie vorwĂ€rts. Alle Menschen strömten in die gleiche Richtung. Lisa wusste nicht, wohin der Weg fĂŒhrte, wie eine an FĂ€den gezogene Marionette lief sie mit.
Es schien, als hĂ€tten sie ihr Ziel erreicht und drĂ€ngten durch ein Tor auf einen kargen Acker. Links und rechts lagen haufenweise kleine Steine. Die Leute nahmen so viele davon, wie sie tragen konnten, ließen sich irgendwo nieder und begannen Kreise zu legen.
Mechanisch griff Lisa einige Steine und zog sich an den Rand zurĂŒck. Ihr Blick schweifte umher, suchte das Tor, doch da war nichts. Neben ihr kniete ein junges MĂ€dchen, das ihren Kreis vollendet hatte. Sie hockte da und schrieb in ein Buch. Ihre Hand flog ĂŒber das Papier, fĂŒllte Seite um Seite. Kurze Zeit spĂ€ter schloss sie das Buch und legte es auf den Boden. Mit bloßen HĂ€nden grub sie eine Mulde in ihren Steinkreis und legte das Buch hinein. Holte ein Feuerzeug aus ihrer Tasche und zĂŒndete es an allen vier Ecken an. TrĂ€nen liefen ĂŒber ihre Wangen, als sie sah, wie sich die Flammen in das Papier fraßen.
Stumm saß das MĂ€dchen da und wartete, bis nur ein kleines HĂ€ufchen Asche ĂŒbrig war. Fast trotzig warf sie die Erde zurĂŒck in die Mulde, klopfte sie fest, stand auf und verließ ihren Platz ohne einen Blick zurĂŒck zu werfen. Lisa hatte das MĂ€dchen die ganze Zeit beobachtet und auch ihre Augen waren feucht.
Sie legte ihre Steine ebenfalls zu einem Kreis und hob in der Mitte eine Grube aus. HartnĂ€ckig buddelte Lisa tiefer und tiefer, bis zum Ellenbogen. Erschöpft wischte sie mit den schmutzigen HĂ€nden ĂŒber ihr trĂ€nennasses Gesicht.
Sie stand auf und starrte in das Loch. Wie eine Ballerina hob Lisa ein Bein hoch und zog das zarte BallettschĂŒhchen vom Fuß. Ebenso das andere. SorgfĂ€ltig band sie das rosa Seidenband darum und warf das BĂŒndel in die Kuhle. Hastig schob sie die Erde zurĂŒck und klopfte sie fest. Dann rannte Lisa barfuss davon, als sei der Teufel hinter ihr her. Schneller, immer schneller.
„Das Tor, ich bin wieder durch das Tor gegangen!“ Der Gedanke verflĂŒchtigte sich sofort wieder. Keuchend blieb sie stehen und lehnte sich an einen alten Baum. GegenĂŒber stand die Trauerweide, unter der sie auf dem Hinweg gesessen hatte.
Lisa sah verhĂ€rmte Gestalten, die an den GrĂ€bern kauerten. Lautlos saßen sie da und wiegten ihre Körper hin und her zu einer unhörbaren Melodie.
Vor Entsetzen hielt sie die Luft an.
„Untote!“, dachte sie voller Panik.
„Schau sie dir ruhig an“, sagte plötzlich eine Stimme neben ihr.
Da stand ein Mann. Groß, schlank, mit einem makellos schönen Gesicht. Wie gemeißelt, ebenso regungslos. Selbst als er sprach, war keinerlei Mimik zuerkennen.
Seine wohlklingende Stimme war schmeichelnd.
Der schwarze Anzug maßgeschneidert, die Schuhe aus weichem Leder handgenĂ€ht. Die Frau erkannte das sofort, denn auch sie hatte ihre Ballettschuhe selber genĂ€ht.
In der Hand hielt er eine Schaufel und eine Spitzhacke.
„Schau sie dir an“, wiederholte er eindringlich. „Sie alle haben ihre TrĂ€ume begraben und konnten sie trotzdem nicht loslassen. Jetzt sind sie jĂ€mmerliche Kreaturen, die weder leben noch tot sind.
„Geh, geh weg“, erklang es von den GrĂ€bern, „hör nicht auf ihn, lauf so schnell du kannst.“
Wie gelÀhmt stand Lisa da, sah auf den Mann und versuchte zu verstehen.
„Sie wollten nicht auf mich hören“, sagte er verĂ€chtlich. „Ich wollte ihnen helfen, auch dir kann ich helfen!“
„Ich brauche keine Hilfe“, erwiderte sie mit dĂŒnner Stimme.
Sein Lachen durchschnitt die Stille.
„Du hast es nicht mal geschafft deine TrĂ€ume zu verbrennen, du hast sie lediglich in der Erde versenkt. Ich grabe sie aus und bringe sie dir zurĂŒck!“
„Nein, nein!“, stammelte Lisa. „Ich will sie nicht mehr, sie sind gestorben!“
Aufmerksam sah er sie an.
„Deine TrĂ€ume sind nicht tot.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Sein Gesicht sah aus wie eine grausame Fratze.
"Und selbst wenn dieser eine Traum wirklich gestorben ist, was ist mit den anderen, die erst geboren werden? Wie oft willst du hier stehen und deine GrÀber ausheben? Was willst du mit diesen ganzen nutzlosen TrÀumen? Vertrau mir, ich helfe dir!"
„Wie?“, fragte Lisa leise.
„Ich lösche sie aus. Es ist ganz einfach.“
„Was muss ich dafĂŒr tun?“, wollte sie wissen.
Sein Blick ruhte fest auf ihrem Gesicht.
„Gib mir deine Seele und deine TrĂ€ume werden von dir gehen. Seelenlose Menschen haben keine TrĂ€ume. Ausgelöscht.
Unsichtbar – wie du.“
„Bitte tu es nicht“, wimmerte es von den GrĂ€bern. „Er lebt durch die TrĂ€ume weiter, wird unsterblich!“
Lisa fĂŒhlte sich ganz leicht, beschwingt wie vor ihrem letzten Ballettauftritt.
„Was machst du mit meinem Traum?“ Ihre Stimme erschien ihr fremd. Monoton und gedĂ€mpft.
Seine Augen glĂ€nzten wie Weihnachtskugeln im Kerzenlicht. „Ich lebe davon!“
Ehe sie die Bedeutung der Worte verstanden hatte, verwandelte er sich in eine Primaballerina. Deutlich erkannte Lisa ihre Schuhe an seinen FĂŒĂŸen als er davon tanzte.
Höhnisches Lachen durchschnitt die Stille und war weit bis hinter die Mauern des Tores zu hören.

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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