Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Oktober 2005
Die Zauberfee
von Thom Delißen

Der Mann in dem weißen Arztkittel deutete auf einen wohl etwa dreißigjährigen, hageren Mann, der mit hängenden Schultern und in sich zusammengesunken, planlos im Hof umherirrte.
"Das dort ist er." sagte er.


Der Knabe saß auf der weichen Matratze seines Bettes im Kinderzimmer.
Unsichtbar sein, jetzt, ja. Das wünschte sich der kleine Junge sehnlichst.
Die Zauberfee sollte kommen, wie so oft, und ihn herausholen Ihn für niemanden mehr zu sehen machen.
Angefangen hatte alles mit diesem Telefonanruf.
Ganz deutlich hatte er bemerkt, wie sich das Verhalten von Mama änderte. Mit einem Mal war sie fahrig geworden, verwirrt.
Drei Löffel Nesquick in die Tasse, statt der gewohnten zwei, Margarine auf der Tischdecke.
Ihre Hände mit dem Brotmesser zitternd.
"Kommt Daddy?" hatte er gefragt.
Mama hatte Angst, er spürte es.
Ihre Antwort war ein undeutliches Nicken.
Papa war nicht mehr oft daheim, in letzter Zeit. "Scheidung" nannte sich das, so hatte man ihn aufgeklärt.
Ein Teil seines Denkens freute sich, denn Papa, wenn er nun kam, war immer ganz besonders nett zu ihm, stets hatte er ein tolles Geschenk dabei. Das letzte Mal war es ein rasiermesserscharfes, französisches Fischermesser gewesen, das er wie einen Schatz vor seiner Mutter versteckte, nicht zuletzt, weil sein Vater ihm dazu geraten hatte.
Auf der anderen Seite war da die Angst seiner Mama, der Streit, den es jedes Mal gab. Wie in den Zeiten, in denen Papa noch hier gewohnt hatte.
Wenn er nach Gastwirtschaft roch, dann fürchtete sich auch der Bub.
Er sah, wie die weißen Knöchel der Hände seiner Mutter sich gegen ihre Lippen pressten, eine winzige Träne löste sich aus dem linken Auge.
Sie schüttelte unwillig den Kopf und sah ihn mit einem verzerrten Lächeln an.
"Ja, Spatz. Dein Papa kommt uns besuchen."
Schon kurz darauf war da das Läuten an der Tür und seine Mutter schüttete beim Aufstehen ihre Kaffeetasse um.
Der Vater schwankte, er stank nach Alkohol und hatte glasige Augen. Ohne den Kleinen zu beachten, ließ er sich, stöhnend, schwer auf einen Stuhl am Frühstückstisch fallen.
"Hallo Papa."
"Oh Hallo, Sohnemann. Lass Mama und mich einen Moment allein."
Er nuschelte ein wenig, kein Lallen, doch der Bub wusste, dass er sehr betrunken war. Er rutschte rückwärts von seinem Stuhl und sagte, halb zu seiner Ma, halb zu seinem Vater: "Ich gehe in mein Zimmer, spielen."
Fragend blickte er in beide Gesichter.
"Ja, geh nur, mein Schatz."
Er hatte sich im Kinderzimmer auf sein Bett gesetzt und bald hörte er die wütenden Schreie seines Vaters. Heute war es besonders schlimm.
Er hielt sich die Fäuste an die Ohren, steckte schließlich den Kopf unter das Kissen, doch es half nichts. Und er rief in Gedanken nach der Zauberfee, die ihn unsichtbar machen solle. Immer schon, auch früher, wenn er die wüsten Beschimpfungen, das Schluchzen seiner Mutter hörte, rief er sie, die Fee. Und sie nahm ihn mit, in ihr Reich, dorthin, wo ihn keiner sehen konnte. Und jetzt, er war sich ganz sicher, war sie gekommen. Die Streiterei klang so, als wäre sie unendlich weit entfernt. Unsichtbar. In einer anderen Welt. Er hatte das auch ausprobiert, sich in die Tür des Wohnzimmers gestellt, wo Mama und Papa saßen und sich anschrieen. Sie konnten ihn nicht sehen. Er war in sein Zimmer zurückgekehrt.
"Du verdammte Hure ... das werden wir ja sehn ... halt deine Fresse, jetzt rede ich ...
ich schlag dir den Schädel ein, du Miststück!"
Jetzt, trotz der Fee, hörte er seine Mutter überlaut, gellend schreien.
Mit einem Satz war er auf, rannte über den Korridor in die Küche.
Sein Vater stand, in der Hand den Holzhammer für die Schnitzel, die es mittags hätte geben sollen, die Beine weit gespreizt, über dem reglosen Körper von Mama.
Der Knabe sah, dass sie aus einer Wunde am Kopf blutete. Das durfte nicht sein, das war nicht gut.
Nichts war mehr in Ordnung. Was sollte er tun?
Er liebte seinen Vater, liebte seine Mutter.

Der Kriminalbeamte sagte, beide Hände auf den Schreibtisch gestützt:
"Wir haben den Jungen neben den beiden Toten am Küchentisch sitzend gefunden.
Es sieht so aus, als hätte er zuerst die Mutter erschlagen und dann den schlafenden, stark alkoholisierten Vater erstochen."

"Sehen Sie Ihn?" fragte der Mann in dem weißen Kittel.
"Er glaubt er sei unsichtbar. Jedes Mal wenn ihn jemand anspricht ... aber schauen Sie selbst!"
Ein glatzköpfiger Greis mit grauem Bart, er hielt einen Blechnapf in der Hand, war vor den Mann getreten, der sich für unsichtbar hielt.
Er hob seine Schale in dessen Gesichtshöhe und sagte:
"Eine Gabe, eine Gabe."
Die dürre, zusammengesunkene Gestalt des Mannes schien zu explodieren.
Er richtete sich auf, blitzte den Glatzkopf an und schrie mit gellender Stimme:
"Du kannst mich nicht sehen. Lass mich in Ruhe. Sie sind bei den Engeln und streiten nicht mehr... und mich beschützt die Zauberfee."
Dann sank er wieder in sich zusammen.

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