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Oktober 2005
Schlüsselerlebnis
von Albertine Sprandel

Jeden Morgen vor halb acht beschließen meine Wohnungsschlüssel, sich unsichtbar zu machen.
In meiner Jugend bin ich aus dem Haus gegangen und ließ die Tür zufallen. Wenn ich zurückkam, drückte ich die Klinke runter und trat ein. Es war immer jemand da. Entweder die Mutter, die Großmutter oder eines meiner Geschwister.
Ich erinnere mich an mein Zuhause als einen offenen Ort, der einzige Schlüssel von Bedeutung befand sich an der Toilettentür.
Heute sperre ich die Wohnungstür zweimal auf oder zu. Erst neulich las Luise, meine Frau, von einer Einbruchsserie in der Nachbarschaft. „Die Polizei empfiehlt, auch tagsüber das Sicherheitsschloss zu nutzen und nachts den Schlüssel von innen stecken zu lassen“, stand da.

Wenn ich morgens den Flur betrete, um Schuhe anzuziehen, haben sich meine Schlüssel schon entmaterialisiert. Ich bin sicher, sie am Abend vorher auf die Kommode gelegt zu haben. Ich hebe die alte Werbepost und die ungelesenen Wochenblätter hoch, ich suche in der Krimskramsschüssel – nichts. Mit Wühlmonsteraugen nehme ich die Jackentaschen ins Visier. Ich stoße heiseres Kriegsgeheul aus, während Wollstoff, Leinen und Trenchcoathüllen unter meinem Griff erzittern. Dann stemme ich die Kommode von der Wand ab. Vielleicht haben sich die Schlüssel auf den Boden fallen lassen. Ich weiß, dass sie das aus Boshaftigkeit tun würden. Sie wollen mich schon am Morgen an den Rand der Verzweiflung treiben. Damit ich verschlossen und schlecht gelaunt ins Büro gehe, wenn ich überhaupt aus der Wohnung komme.
Sie sagen: „Du musst eine Therapie machen. Du musst lernen, auch in Stresssituationen den Überblick zu behalten. Lächeln!“ Oder sie sagen: „Fang uns doch!“ oder: „Sieh es positiv, wir wollen dir schon am Morgen ein Erfolgserlebnis verschaffen!“
Ich schlage mit der Faust auf die Kommode.

„Papa, können wir jetzt los? Ich komme sonst zu spät in die Schule“, ruft Kathi, unser einziges Kind.
Was wird sie später über ihr Zuhause denken? Ein abgesperrtes Universum mit einem wild fuchtelnden Vater, der keinen Ausweg findet?

Kathi ist ein 'Schlüsselkind'. Schlüsselkinder haben als Erwachsene Beziehungsprobleme, heißt es. Sie trägt ihren Schlüssel an einem Band um den Hals. Es ist ein Band vom FC Bayern München, sie ist sehr stolz darauf. Dafür, dass es bloß ein rotblaues Stoffband mit Anhänger ist, war es viel zu teuer.

„Ich finde meine Schlüssel nicht“, maule ich.
„Ihr müsst wirklich aufbrechen!“, höre ich Luise aus der Küche rufen.
Kathi hüpft an der Eingangstür auf und ab. „Meine kriegst du nicht.“

Ich raufe mir die Haare und breite die Arme aus. Ehe diese von der Schwerkraft angezogen mutlos Richtung Boden sinken, drehe mich auf dem Absatz um. Ich habe eine Idee!
„Ab sofort sperren wir die Haustür nicht mehr ab. Bei uns gibt es keine Wertgegenstände, die gestohlen werden könnten.“
Meine Handflächen unterstreichen den Entschluss mit einer kurzen Schlagfolge auf der Kommode. Dieses Mal habe ich es den Schlüsseln ordentlich gezeigt. Die werden mich nicht mehr ärgern.
Kathi strahlt.
„Können wir dann endlich fahren?“
Luise lugt um die Ecke. Sie verdreht die Augen. Ein kurzer Seufzer löst sich von ihren Lippen, während ihr Blick von mir zur Tür wandert. Auf einmal spazieren Luises Mundwinkel langsam bis zu den Ohren, um einem breiten Grinsen Platz zu machen:
„Nimm doch die, die am Türschloss hängen“, sagt sie und wirft mir einen Kuss zu . „Bis heute Abend.“

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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