Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Marvin Ehrweh wollte es wissen. Lag hinter diesem Tor die Lösung seines Problems? Er drückte den Riegel hinunter. Das schwere Tor sprang auf. Ehrweh stolperte in eine geräumige Empfangshalle. Schwarze Couchgarnituren auf cremefarbenem Teppichboden und dezente Deckenbeleuchtung verbreiteten eine lockere und entspannte Stimmung.
Nach seinem missglückten Romandebut vor zwei Jahren war Ehrweh von dem Ehrgeiz besessen, etwas noch nie da Gewesenes zu schreiben: den detailgenauesten Historienroman über die Französische Revolution, den es je gab. Das Buch sollte noch den skeptischsten Leser glauben machen, der Autor habe als Zeitreisender das Geschehen selbst durchlebt und protokolliert. Nur: Ohne Zeitmaschine war sein Projekt nicht durchführbar. Ehrweh hatte schlaflose Nächte verbracht, bis er eines Nachts in einen tiefen Traum gefallen und an jenem geheimnisvollen Ort erwacht war, den er jetzt betrat.
In diesem Augenblick flog neben Ehrweh eine Tür auf, und heraus stürzte ein Mann ganz in Schwarz, dessen fleischige Lippen fettig glänzten. Als er die beiden erblickte, zuckte er zusammen, verbarg sein Gesicht und machte, dass er schleunigst hinter der nächsten Toilettentür verschwand.
„Das Wunsch-Ich von Rabbi Jakob Wiesenthal“, erklärte Frau Debus. „Unser Schlachthof beliefert ihn täglich mit Schweinefleisch. Er schlemmt in seinem Zimmer, denn ins Park-Restaurant traut er sich noch nicht.“
Ehrweh stellte sich vor, wie dieser Mann kiloweise Schweinefleisch in sich hineinstopfte und schüttelte den Kopf.
„Ihr Hotel scheint ja ein Tummelplatz für Tabubrecher und Getriebene zu sein. Wie ist das, Frau Debus, wenn zwei Gäste mit extrem entgegen gesetzten Ansichten aufeinander treffen? Fliegen da nicht die Fetzen?“
Frau Debus rollte die braunen Augen.
„Da könnte ich Ihnen Sachen erzählen ... aber sehen Sie selbst! Kommen Sie.“
Sie fuhren mit dem Aufzug abwärts und betraten den Park durch eine schmiedeeiserne Pforte, die mit „Treffpunkt der Antipoden“ überschrieben war. Auf einem gepflasterten Platz waren Stuhlreihen und Rednerpulte aufgebaut. An den Außenseiten des Platzes befanden sich nach vorne hin offene Kojen, in denen lärmend gestritten wurde. Männer und Frauen saßen oder liefen herum, redeten aufeinander ein, flehten, fluchten, schluchzten, schrieen sich an, wandten sich seufzend voneinander ab. Immer wieder griffen Hotelbedienstete ein, um Gewalttätigkeiten zu verhindern. Ehrweh fühlte sich an Szenen im Boxring erinnert. Er wollte gehen.
Frau Debus hielt ihn zurück.
„Der Antipoden-Parcours gefällt Ihnen nicht, Herr Ehrweh? Ich kann Ihnen verraten, dass Leute mit extremen Neigungen nach dieser Erfahrung etwas selbstkritischer geworden sind. Schauen Sie mal geradeaus: Die beiden Damen da erarbeiten sich ganz öffentlich eine neue Identität zwischen Hemmungslosigkeit und Askese.“
Eine junge Frau im schwarzen Gewand einer Nonne war an eines der Rednerpulte getreten. Am Pult ihr gegenüber lehnte eine nachlässig gekleidete Mittvierzigerin mit blondierten Locken.
„Muss ich mir wirklich anhören, wie die Nonne die Hure bekehrt?“, seufzte Ehrweh.
Frau Debus legte den Zeigefinger auf die Lippen.
„Passen Sie auf, wer von den beiden wer ist.“
Die Frau unter der Nonnenhaube stemmte die Arme gegen das Pult und rief mit fester Stimme:
„Ich arbeite als Pornodarstellerin und habe es satt, mich wie rohes Fleisch behandeln zu lassen. Es widert mich an, den Ruf einer läufigen Hündin zu haben. Und Sie, Schwester Alfonsa, widern mich an, weil sie genau da hin wollen. Wenn Sie denken, größtmöglicher Männerverbrauch bringe Ihnen größtmögliches Glück, dann irren Sie sich gewaltig!“
Die andere wiegte ihren blondierten Lockenkopf.
„Nee, Kleine, mein Irrtum war, im Kloster zu hocken und langsam zu vertrocknen. Meine Haut knistert ja schon, wenn ich nur den Mund aufmache! Ich sage dir, Betschwester, seit ich hier bin, ist damit Schluss! Mit jedem neuen Mann im Bett blüht mein Körper auf wie ´ne Orchidee.“
Schnell kam es zum Streit. Als die Frauen aufeinander losgehen wollten, gingen zwei Hotelbedienstete noch rechtzeitig dazwischen.
„Das Porno-Starlet“, erklärte Frau Debus,“ nennt sich jetzt Schwester Immaculata, die Unbefleckte. Sie wird ihre Filmverträge stornieren und ein Keuschheitsgelübde ablegen. Die andere will nach zehn Jahren strengster Kloster-Askese als Hure arbeiten.“
Ehrweh starrte seine Mentorin an, als hätte diese gerade den Weihnachtsmann angekündigt.
„Möchten Sie,“ fragte sie lächelnd, „Ihren Antipoden nicht auch gleich kennen lernen? Wir hätten da einen Zeitungsreporter, der alles Faktische gründlich hasst. Er will Märchenbücher schreiben und ...“
„Oh nein, vielen Dank“, wehrte Ehrweh ab. Die Beklemmung fiel von ihm ab, und er lief mit raschen Schritten auf die angrenzende Grünanlage zu. Die Pflanzungen am Eingang bildeten die Buchstabenfolge: „Irrgarten der Einzelgänger“.
Ehrweh lief mitten hinein, gelenkt von mannshohen Hecken aus Buchsbäumen, die die Wege eines Labyrinths markierten. Er begann zu rennen, als Frau Debus seinen Namen rief, rannte mit unverminderter Energie, bis er nur noch das eigene Keuchen hörte - und prallte mit voller Wucht gegen einen hochgewachsenen Mann. Er trug einen weißen Arztkittel mit schwarzem Umhang. An seinen Mundwinkeln klebte geronnenes Blut.
„Sie sollten sich vorsehen, Neuling! Wer mich trifft, von dem lasse ich nicht, bis er blass und leer vor mir liegt. Doch da Sie neu sind, werde ich Sie erst einmal vormerken.“
Ehrweh, der nichts mehr ernst nehmen konnte, vergaß alle Furcht.
„Ach, wissen Sie: Nach allem, was hier so herumläuft, würde es mich nicht wundern, mit Graf Dracula persönlich das Vergnügen zu haben!“
„Spotten Sie nur! Ja, ich bin ein Vampir. Ich war Spezialist für Wundbehandlung am Bundeswehrkrankenhaus in Ulm. Ich nähte und deckte Stichwunden, Platzwunden, was Sie wollen. Bis ich es eines Tages nicht mehr über mich brachte, das Blut all dieser Wunden zu ersticken. Meine Kunst versagte, meine Blutgier siegte, und ich fing an zu trinken.“
Der Vampir leckte versonnen über die blutigen Mundwinkel.
„Meine - äh - Glückwünsche, dass Sie im Hotel der ungelebten Wünsche zu Ihrer wahren Bestimmung gefunden haben, Herr Vampir“, sagte Ehrweh und entfernte sich vorsichtig.
Er irrte noch eine Weile durch das Labyrinth, bis er in das Zentrum gelangte.
Dann schloss er die Augen und rief, so laut er konnte:
„Ich bin verrückt! Und ich bin am Ziel! Mein Roman wird besser und origineller, als ich es mir jemals erträumt hatte! Und das ganz ohne Zeitreise! Sollen doch die Historiker Rückwärtsreisen machen - ich werde meine Leser jedenfalls nicht langweilen mit authentischen Schilderungen von Begebenheiten aus dem revolutionären Frankreich. Nein, ich werde sie hierher holen, alle, die ganze Bagage: Das gesamte Personal der Französischen Revolution wird hier im Hotel antreten und sich einzeln zu seinem Wunsch-Ich bekennen! Robespierre, Marat, St. Just, Corday- die werde ich solange durch Antipodentreffpunkte und Irrgärten schleusen, bis denen das Denken und Morden vergangen sein wird! Unter meiner Regie werden diese Damen und Herren noch einmal Revolution machen, nur, dass diesmal ihr Wunsch-Ich das Denken und Handeln bestimmen wird! Hurra! Das wird ein historischer Science Fiction-Roman, kein Fakten-Langweiler!“
Marvin Ehrwehs Monolog war zu Ende. Übers ganze Gesicht strahlend lief er eilig zur Hotelleitung und bestürmte den Hotelmanager mit dem Wunsch, doch bitte eine Reihe historischer Persönlichkeiten, die er einzeln aufzählte, umgehend wiederzubeleben, um ihnen im Hotel der ungelebten Wünsche ein Quartier zu bereiten.
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