Ehe Jakob Binder ins Haus trat, vergewisserte er sich mit angstvollem Blick, ob ihm auch niemand folgte. Sein sonst eher blasses Gesicht war stark gerötet. Er zitterte Angstschweiß trat ihm aus allen Poren.
Hektisch stieß er die Wohnungstür hinter sich zu. Als erstes lockerte er mit fahrigen Fingern seine Krawatte, dann ging er mit Straßenschuhen und Mantel in die Küche.
Niemals zuvor war es ihm eingefallen die Küche oder einen anderen Raum seiner Wohnung zu betreten, ehe er nicht seine Straßenkleidung abgelegt hätte.
Er stellte die Tasche, die kaum etwas wog, aber die er bis dahin krampfhaft festgehalten hatte, mit einem Ruck auf den Küchentisch.
Binder betrachtete den Fremdkörper auf der blau weißen Wachstuchtischdecke. Und doch passte sie irgendwie dahin.
Meine Güte, was hatte er getan? Binder konnte es selbst nicht begreifen, er versuchte Klarheit in seine Gedanken zu bringen.
Nach Büroschluss war er in den Bus gestiegen. Als er sich auf seinen üblichen Platz setzte, stieß er mit seinen Füßen gegen etwas.
Es war die Tasche. Sein erster Gedanke war: Was macht dieses Ding da, wo sonst meine Füße stehen? Und irgendwie ärgerte es ihn. Schließlich war dies sein Platz.
Als der Bus anhielt, griff er das Gepäckstück. Doch anstatt es beim Busfahrer abzugeben, nahm er es wie selbstverständlich mit.
Ihm war selber unbegreiflich, warum er so gehandelt hatte; diese Tasche hypnotisierte ihn förmlich.
Nachdem er ausgestiegen war, bekam es Jakob mit der Angst zu tun. Und nun stand diese altmodische Damentasche auf seinem Küchentisch.
Schwer atmend setzte Binder sich auf einen Stuhl, starrte sie an und wagte nicht sie zu öffnen. Er hatte vergessen zu essen - niemals zuvor hatte er versäumt sich sein Abendbrot zu machen.
Bei ihm mussten die Tage immer gleich ablaufen, nie gab es eine Abweichung aber heute war alles anders.
Die Tasche stammte wohl aus den fünfziger Jahren, sie hatte ein großes Karomuster in verschiedenen Blautönen. Die schwarzen Tragegriffe waren nicht aus echtem Leder - für so etwas hatte er einen Blick.
Langsam erwachte Binder aus seiner Lethargie und, da diese Tasche nun mal in seinem Besitz war, rang er sich dazu durch sie zu öffnen.
Vorsichtig zog er den Reißverschluss auf.
In der Tasche befanden sich Briefe und er nahm einen intensiven Geruch von Vanille wahr. Verwirrt stellte er fest, dass er diesen Duft mochte. Jakob gehörte nicht zu dem Typ Mensch, dem Gerüche oder schöne Dinge um ihn herum auffielen. Dass sich die Jahreszeiten änderten, bemerkte er normalerweise nur weil es im Kalender stand. Ansonsten hatte er für so etwas keinen Blick.
Neugierig geworden nahm er einen Brief heraus und als ihm die Adresse in die Augen sprang, war er völlig perplex. Es war seine eigene!
Wie konnte das sein? Er drehte den Umschlag doch es gab keinen Absender dazu. Irritiert und mit zitternden Fingen öffnete er ihn und zog ein hellgelbes, mit Tinte beschriebenes Papier heraus und er wunderte sich mehr und mehr. Lieber Jakob,
ich wusste, dass Sie diese Tasche mitnehmen: Ich wollte, dass Sie sie finden. Seit Jahren schon beobachte ich Sie aus der Ferne und ...
Jakob drehte das Blatt herum, doch auch da fand er keine Unterschrift Nicht nur keine Signatur sondern auch den Rest des Textes nicht.
Mittlerweile waren auch die Abendnachrichten, die er niemals versäumte, vorbei. Aber dies schien alles nicht mehr wichtig für ihn zu sein
Jakob beschloss, auf die Suche nach der Briefschreiberin zu gehen, denn mittlerweile war er fest davon überzeugt, dass sie sein Glück bedeutete.
Doch so merkwürdig, wie die Angelegenheit bisher verlaufen war, entwickelte sie sich weiter: kaum hatte er beschlossen, nach der Frau mit dem Vanilleduft zu suchen, schien das Schicksal diese Sache selber in die Hand zu nehmen. Denn als er sich am Tag darauf zur Heimfahrt mit dem Bus auf seinem Stammplatz niederlassen wollte, lag darauf ein großer Umschlag mit der Aufschrift: An Herrn Jakob Binder, persönlich! Und in der Luft um Brief und Sitzplatz hing der gewohnte Vanilleduft.
Unwillkürlich blickte Jakob die Sitzreihen im Bus hinauf und hinunter, in der Erwartung, dass ihm der Blick einer schönen Frau begegnen würde. Doch das war nicht der Fall – nur ganz am Ende des Busses, an der hinteren Ausgangstür, saß eine alte Frau die seine Mutter hätte sein können.
Während der Bus bereits an der nächsten Haltestelle anhielt, Fahrgäste ein- und ausstiegen, öffnete Binder den Brief.
Lieber Jakob,
sicherlich sind Sie neugierig mich kennen zu lernen. Auch ich bin neugierig, Sie näher kennen zu lernen –obwohl ich Sie schon seit Jahren kenne, zumindest zu kennen glaube. Klingt das geheimnisvoll? Nun, gleich mit den nächsten Zeilen wird sich das Geheimnis lüften. Jakob, Sie erinnern mich sehr an meinen verstorbenen Sohn, Sie sind sein Spiegelbild. Aber es ist nicht nur das Aussehen, Sie ähneln ihm auch in seiner Lebensweise. Er führte ein Leben in Einsamkeit und versank irgendwann in seiner Alltäglichkeit. Er lebte am eigentlichen Leben vorbei
verfiel in Depressionen und hat sich vor Jahren das Leben genommen (Jakob zuckte zusammen, auch er hatte schon oft Todessehnsucht verspürt – aber seit er diese Briefe bekam nicht mehr) und als ich Sie sah... ja da war ich so erschüttert von der Gleichheit und Ihrem Wesen, dass ich mich in Ihr Leben einfach einmischen musste – vielleicht verstehen Sie? (Jakob nickte automatisch). Jakob, wenn auch Sie mich kennen lernen möchten, dann besuchen Sie mich doch in meiner Wohnung: in der Karlstraße sieben warte ich auf Sie.
Er faltete den Brief zusammen. Er war total aufgewühlt. Ja, er wollte die Frau unbedingt kennen lernen. Die Straße kannte er und in diesem Moment hielt sein Bus auch schon davor.
Jakob verließ den Bus. Als er vor dem kleinen Einfamilienhaus in der Karlsstraße Nummer sieben stand, wehte ihm ein Hauch Vanilleduft entgegen, und kaum dass er die Klingel gedrückt hatte wurde ihm die Tür geöffnet. Vor ihm stand eine zierliche Frau die ihn anlächelte: „Wie schön dass Sie gekommen sind - treten Sie ein Jakob.“ Der Klang ihrer Stimme berührte seine Seele, es war ihm alles so vertraut, als würden sie sich schon ewig kennen. Wie verzaubert hörte er ihr zu. Sie erzählte ihm von ihrer Sorge - die sie sich um ihn gemacht hatte und dass sie ihm zu einem glücklicheren Leben verhelfen wollte. Dann zeigte sie ihm ein Foto - fassungslos starrte Jakob auf das Bild des Mannes: er sah aus wie ein Zwillingsbruder von ihm – und Jakob wusste, dass er die Wohnung dieser Frau noch viele Male betreten würde.
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