'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Birgit Erwin IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
November 2005
Seitensprung aus Liebe
von Birgit Erwin

Er beobachtete sie schon eine ganze Weile, aufmerksam, doch nicht aufdringlich. Er wirkte eher wie ein Mann, der schüchtern ist, obwohl er das bei seinem Aussehen wirklich nicht nötig hatte. Annette hatte sich schon ein oder zwei Mal überlegt, ob sie ihm einfach zulächeln sollte, aber sie hatte es dann doch nicht gemacht. In ihrer Welt tat der Mann den ersten Schritt. Schade, dass ihre Welt so einsam war, dachte sie, während sie den Kopf über ihr Buch senkte. Sie sah erst wieder auf, als der Kellner ein Glas vor sie hinstellte. Mit gerunzelten Augenbrauen musterte sie die Sektflöte.
„Das habe ich nicht bestellt.“
Der alternde Italiener lächelte diskret und väterlich.
„Von dem Herrn da drüben, Signora.“
Es hatte Zeiten gegeben, da war sie noch eine Signorina gewesen, ganz automatisch.
Annette blickte in die angegebene Richtung und begegnete einem fragenden Blick aus blauen Augen. Diesmal wagte der Fremde ein Lächeln. Er strich sich mit der Hand durch das sorgfältig gekämmte Haar, dann hob er sein Glas. Er sah wirklich gut aus, besonders jetzt, da ein paar vorwitzige Haarsträhnen aufragten wie zarte Flügelchen. Zögernd legte sie die Finger um den kühlen Stil der Sektflöte. Er stand auf und kam zu ihr herüber.
„Hallo ... darf ich ...?“ Er zeigte auf den freien Stuhl an ihrem Tisch.
Annette nickte.
„Danke. Vielen Dank.“ Eine Pause entstand, in der sie beide nervös tranken, während sie sich über den Rand der Gläser hinweg beobachteten. „Ich heiße Herbert Wegner.“
Seine Hand war angenehm warm.
„Annette Reiner. Freut mich.“
Es gefiel ihr, dass er schüchtern war, dass er nicht recht wusste, wie er anfangen sollte. Sie beschloss, ihm zu helfen.
„Danke für den Sekt.“
Herberts Lächeln schien vor Erleichterung zu leuchten.
„Es freut mich, wenn er Ihnen schmeckt. Wenn ich ehrlich sein soll, ich hab keine Erfahrung darin, Frauen anzusprechen. Ich mache das nicht sehr oft. Wissen Sie, ich bin verheiratet.“
Der Sekt in ihrem Mund wurde schal; am liebsten hätte sie ihn ausgespuckt. Er musste die Veränderung in ihrem Gesicht gesehen haben, denn er fuhr hastig fort: „Glücklich verheiratet. Es ist nicht so, wie Sie denken.“
„Und wie ist es dann?“, fragte sie kalt.
Er schob sein Glas auf der Papierserviette hin und her, während sich auf seinen Wangenknochen kleine rote Flecke abzeichneten.
Annette sah, dass er Whiskey trank. Er war nicht der Whiskey-Typ, also nahm sie an, dass er sich Mut machen wollte. Gegen ihren Willen stimmte sie diese Erkenntnis milder.
„Also?“
„Ja, es ist so“, begann er und nahm noch einen Schluck. Sie sah die bernsteinfarbenen Perlen an seiner Oberlippe kleben. Beinahe verschämt dachte sie darüber nach, wie es sich anfühlen würde, sie fortzuwischen. Natürlich nur mit dem Finger, sanft und etwas verspielt.
„Meine Frau glaubt nicht daran, dass Männer treu sein können.“
Annette schnaubte zustimmend. Er lächelte kläglich.
„Ihr erster Mann hat ihr das Herz gebrochen. Eine Affäre mit einer Jüngeren. Die alte Geschichte eigentlich. Ich habe lange um sie geworben, und als sie endlich einwilligte, hat sie auf einem Vertrag bestanden.“ Er trank wieder, der Blick seiner Augen hatte etwas Gequältes, das in Annette den Wunsch weckte, die fedrigen Haarsträhnen zu glätten, die ihn so verletzlich aussehen ließen.
„Kein Ehevertrag im eigentlichen Sinne“, fuhr er fort. „Ich habe mich bereit erklärt, ein Mal im Jahr fremd zu gehen.“
Annette ließ die Hand sinken und merkte erst jetzt, dass sie sie gehoben hatte.
„Wie bitte?“
„Ich weiß, dass es sonderbar klingt, aber meine Frau sagt ...“ Er errötete leicht. „Nun ja, sie sagt, alle Männer seien triebgesteuerte ... Tiere.“ Er nuschelte vor Verlegenheit. „Sie sagt, ich würde ohnehin fremdgehen, und wenn ich es einmal im Jahr täte, gesteuert, abgesprochen, dann sei ich während des restlichen Jahres einigermaßen sicher. Sagt sie.“
„Und Sie?“, fragte Annette schwach.
Herbert griff nach seinem Glas. Als er es an die Lippen setzte, stellte er fest, dass es leer war.
„Ich liebe meine Frau. Ich wäre auf jede Bedingung eingegangen“, sagte er schlicht.
„Und nun – ich will nur sicher sein, dass ich Sie richtig verstanden habe – wollen Sie mit mir fremdgehen? Obwohl Sie Ihrer Frau eigentlich lieber treu wären?“
Er nickte. Annettes Kopf schwirrte. Sie stellte die erste Frage, die ihr einfiel.
„Warum ich?“
„Manchmal lässt meine Frau mich von einer Freundin beobachten. Sie waren die einzige hier in der Bar, die attraktiv genug ist, um glaubwürdig zu sein und die auf niemanden zu warten schien. Ich hoffe, Sie halten das jetzt nicht für aufdringlich ...“
Annette überspielte ihr Erröten mit einem Schluck aus dem Glas. Der Sekt war inzwischen warm geworden.
„Aber Sie können doch nicht ernsthaft glauben, dass ich jetzt mit Ihnen schlafe“, protestierte sie schwach.
„Ich bitte Sie!“
Er legte seine Hand auf ihre. Es waren schöne Hände, an denen der Ehering breit und golden funkelte. Für den Bruchteil einer Sekunde wünschte sie, seine Antwort wäre eine andere gewesen. Streng rief sie sich zur Ordnung. Er war ein anständiger Kerl. Es war falsch zu wünschen, dass es anders wäre.
„Was wollen Sie dann?“
„Lassen Sie uns gemeinsam weggehen. Etwas trinken, ein paar Stunden lang, vielleicht in einem Hotel, damit meine Frau mir glaubt. Ich hasse es, sie zu belügen, aber ... was soll ich denn machen, ich liebe sie.“
Er sah so unglücklich aus, dass Annette die Hand ausstreckte und scheu seine Wange berührte.
„Okay“, sagte sie leise.
Seine Augen waren groß und babyblau.
„Ehrlich?“
Sie nickte.
„Ich werde allerdings eine Freundin anrufen, um ihr zu sagen, wohin ich gehe, nur zur Sicherheit.“ Ihre Stimme klang beinahe fragend. „Sie verstehen das doch ... heutzutage ...“
Er beugte sich vor. Einen Augenblick lang befürchtete sie, er würde sie küssen. Vielleicht hoffte sie es auch, aber er tat nichts dergleichen.
„Danke, Annette.“
Sie lachte hilflos. „Soll ich etwas unterschreiben? Damit Ihre Frau Ihnen glaubt?“
„Um Gottes Willen, das würde ich nie verlangen. Erzählen Sie mir lieber etwas über sich. Wer ist meine Retterin?“
„Tja, was soll ich da sagen.“ Annettes Lachen klang ein wenig bitter. „Ich bin Rechtsanwaltsgehilfin, wohne im Neubaugebiet, dritter Stock ... keine Haustiere, kein Mann ... es ist nicht so langweilig, wie es klingt. Ich mag französische Filme und meinen Balkon ...“ Sie lachte wieder. „Außerdem glaube ich, wir können du sagen, meinst du nicht?“
Herbert lächelte und stand auf.
„Ich zahle jetzt. Wenn ich wiederkomme und du noch da bist, werde ich dir ewig dankbar sein.“

„Und sie war noch da?“
Hauptkommissar Dreieich nickte.
„Wie konnte sie dem Kerl die Geschichte nur abkaufen?“
Der Hauptkommissar zuckte die schweren Schultern. „Sie hat es sich eben zu sehr gewünscht. Er hat sich seine Opfer immer sorgfältig ausgesucht. Romantikerinnen, die einsam genug aussahen, um an die Geschichte von dem Seitensprung aus Liebe zu glauben.“
„Aber als sie nach ein paar Stunden nach Hause kam, war ihre Wohnung ausgeräumt.“
„Und der Kerl über alle Berge. Seine Komplizen hat sie natürlich nie zu Gesicht bekommen. Die hat er vom Handy aus angerufen, sobald er Namen und Adresse aus dem Opfer herausgelockt hatte.“
„Blöde Gans“, murmelte Dreieichs Kollege. „Natürlich ist sie nicht die Erste, oder?“
Dreieich schüttelte den Kopf. „Er arbeitet sorgfältig, wenn die Geschichte sich einmal rumgesprochen hat, ist es aus mit dem Erfolg. Das letzte Mal gab es so einen Fall in Hamburg. Die Kollegen gehen davon aus, dass es sich um denselben Täter handelt.“
„Ich verstehe es einfach nicht! Die Geschichte ist doch zu blöd. Wie kann man das glauben? Wie?“
„Vielleicht weil man an das Wunder glauben möchte. Ein Seitensprung aus Liebe. Wollen wir nicht alle die Hoffnung behalten, dass es so etwas gibt? Dass man nicht einfach benutzt und weggeworfen worden ist?“
Dreieichs Stimme war leise geworden. Flüchtig blickte er auf die Stelle, auf der bis vor wenigen Wochen die gerahmte Photographie seiner Frau gestanden hatte. Mit einem leichten Anflug von Verzweiflung stellte er fest, dass es immer noch wehtat.

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthält 8275 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.