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November 2005
Der kleine Prinz vom Seepark
von Christine Hettich

Ich schließe die Tür hinter mir zu, langsam, ohne Eile und sogar ohne Groll. Ich habe ihm keine Szene gemacht. Wozu auch? Er hätte ohnehin nichts verstanden, wie immer. Es passiert täglich, eine Frau verlässt ihren Mann, geradezu lächerlich banal. Ich gehe also, atme einmal tief durch, das war’s. Ich spüre nichts besonderes, das enttäuscht mich jetzt fast. Ist das wirklich alles? Schon überkommen mich erste Zweifel. Soll mein neuer Lebensabschnitt tatsächlich dermaßen unspektakulär beginnen? Hätte ich ihm nicht lieber eine Szene machen sollen? Zum Abschied sozusagen? Nur wie denn, bitteschön? Saß er doch wie immer vor dem Fernseher, Kopfhörer auf.
“Du, Schatz, ich verlasse dich jetzt“, hätte ich ja zumindest sagen können. Womöglich wäre aber nur so was wie: „Ist gut, bleib nicht zu lange weg, was essen wir denn heute Abend?“ zurückgekommen. Nein, diese Peinlichkeit wollte ich mir lieber ersparen.
Draußen blendet mich die Oktobersonne. Das ist ja richtig passend. Oktober, Herbst, ich bin auch nicht mehr die jüngste. Lebensabschnitt: Herbst. Immerhin scheint noch die Sonne. Gehen wir also zum Seepark. Aha, da haben wir es schon, das muss natürlich lauten: „Ich“ gehe zum Seepark.

Dieser sommerliche Herbsttag ist ein Geschenk des Himmels.
Kinder rennen über die Wiese. Paare schlendern Händchen haltend. An den Tischen haben sich Grüppchen gebildet, manche unterhalten sich heftig. “Die Regierung ist schuld“, heißt es da. Zu trinken gibt es nichts mehr, um diese Jahreszeit ist der Biergarten schon geschlossen. Ich frage mich, warum die Besitzer ihre Öffnungszeiten streng nach einem festgelegten Datum, statt ganz einfach nach dem Wetter richten. Das gehört zu den Dingen, die ich nie verstehen werde, stamme ich doch aus einem Land, in dem die Bistrotische und Stühle schon beim winzigsten Anzeichen eines schüchternen Sonnenstrahls wie Pilze aus dem Boden schießen. Woran die Regierung schuld sein soll, habe ich auch nicht mitbekommen.

Schon von weitem sehe ich ihn am Seeufer sitzen. Groß, blonde Locken, Engelsgesicht. So könnte man sich Antoine´s kleinen Prinzen als Erwachsenen vorstellen.
„Hallo, wer ist das, auf deinem T-Shirt?“
Hm, ich habe es mir schließlich gewünscht, dass er mich anspricht, wie wär´s also mit antworten?
„Niemand bekanntes, nur eine Fantasiefigur.“
„Ach so.“

Ich setze mich neben ihn und leider fällt mir nichts Geistreicheres ein als: „Schönes Wetter für die Jahreszeit.“
„Ja, herrlich.“
„Bist du öfters hier?“
Das „du“ kommt ganz natürlich über meine Lippen, was mich nun doch ein wenig überrascht. Als spontan und unkonventionell würde ich mich nicht gerade bezeichnen, nicht mehr, das habe ich längst verlernt, dachte ich jedenfalls.
„Das hier“, und der blonde Prinz macht eine ausladende Handbewegung, „das hier, ist mein Wohnzimmer.“
„Ganz schön groß.“
„Ja, das kann man so sagen.“
Er lächelt und dieses Lächeln entzückt mich. Er ist so süß. Ich weiß, Männer wollen nicht süß sein. Sie wollen männlich, stark, höchstenfalls gutaussehend sein, aber nichts süß. Dieser hier, ist aber anders, er hat was kindliches, kleiner Prinz eben. Früher wäre er genau mein Typ gewesen: Groß, blond, blaue Augen. Ja, das war eben früher, als ich noch in südlicheren Gefilden lebte und diese Spezies eher selten war. Hier allerdings, gibt es sie wie Sand am Meer und schon sind sie nichts Besonderes mehr. Es ist also nicht das Aussehen, das mich so reizt, nein, es ist etwas anderes, vielleicht dieses Unschuldige, Verletzliche. Sogar die Bierflasche, die er in regelmäßigen Abständen zum Mund führt, findet Gnade in meinen Augen, und auch die Tatsache, dass das schöne blonde Haar einen Kamm gut gebrauchen könnte. Er ist eben etwas verloren auf diesem Planeten, der kleine Prinz. Macht ihn dies nicht umso liebenswerter?
„Willst du auch ein Bier?“
„Nein danke, ich trinke kein Alkohol.“
„Warum nicht, bist du Alkoholikerin, ich meine, eine trockene Alkoholikerin?“
„Natürlich nicht“, antworte ich entsetzt. „Es ist nur so, dass es mir schwer fällt, rechtzeitig mit dem Trinken aufzuhören wenn ich erst einmal damit begonnen habe. Darum lasse ich es lieber gleich sein, das ist alles.“
„Das ist die Definition von Alkoholismus, die Sache mit dem nicht aufhören zu können.“
Und dies sagt er jetzt, als wäre es das natürlichste der Welt. Alkoholikerin! Ich! Stimmt das denn? Jedenfalls hat es bisher noch niemand so klar und präzise ausgesprochen. Mit diesem Gedanken werde ich mich später befassen, vielleicht.
„Ich bin Alkoholiker, leider nicht trocken, ich schaffe es nicht. Wenn ich nicht trinke, habe ich Angst.“
„Wovor?“
„Vor allem Mögliche, insbesondere vor Menschen.“
Ich wusste es, es tut nicht gut, wenn kleine Prinzen erwachsen werden, das ist nicht ihre Welt und sie verlieren sich, zwangsläufig.
Arno - so heißt er - hat offensichtlich schon genug Bier konsumiert um seine Angst vor Menschen, zumindest im Moment, vergessen zu haben. Er ist sehr mitteilungsfreudig und es ist mir ein leichtes Spiel, recht viel über ihn in Erfahrung zu bringen, ohne allzu sehr von mir preisgeben zu müssen. Ich fühle eine tiefe Zufriedenheit, so wie es immer der Fall ist, wenn ich eine Situation unter Kontrolle habe. Dreiunddreißig ist er. Ich habe ihn für höchstens siebenundzwanzig gehalten, das kommt wohl von dem kindlichen Blick. Da wir beim Alter sind, will er meines wissen. Das hätte ich kommen sehen müssen, wie dumm von mir, dass ich die Konversation in diese Richtung gleiten ließ. Das empfinde ich als eine Niederlage, hatte ich doch bisher alles so gut im Griff.
Nun ja, ich bin eben fünfundvierzig, da gibt es nichts zu beschönigen. Er ist erstaunt, das ist nicht gespielt, aber auch nichts besonderes, dies ist die übliche Reaktion. Langsam glaube ich es, dass ich um einiges jünger aussehe, als ich es bin. Mein Glück. Dass ich aber gerade diesem Kind-Mann (schauen Sie nicht so, es gibt schließlich auch Kind-Frauen, oder?), noch dermaßen gefalle, schmeichelt mir unheimlich. Und ich denke schon, dass ich seine Begierde geweckt habe, da sein kindlicher Blick eine durchaus männliche Komponente erhält, als er mich leicht und sanft berührt.
Ich lasse es geschehen.
Ein Schwanenpaar gleitet vorüber, da unten am Wasser. Es gibt hier nur noch zwei davon. Mehr kann der kleine See nicht verkraften, das würde sein Ökosystem durcheinander bringen, heißt es. Die Übrigen wurden daher ausgesiedelt. Ich frage mich, wo man sie hingebracht hat und ob das überhaupt stimmt. Vielleicht hat man sie einfach getötet?
Mein Blick fällt auf den neuen Aussichtsturm. Mir kommt gerade der Gedanke, dass ich gerne hinauf gehen würde. Ich war sehr traurig letztes Jahr, als ich erfuhr, dass der Alte in Brand gesetzt wurde.
„Warst du schon auf dem Turm?“ fragt Arno, der offensichtlich Gedanken lesen kann.
„Nein, auf dem Neuen war ich noch nicht.“
„Er riecht so gut nach frischem Holz, und von dort oben hast du ein Blick auf das Paradies, mein kleines Paradies. Komm, lass uns hinaufgehen.“
Ohne zu zögern, folge ich ihm. Ich würde dir bis ans Ende der Welt folgen, kleiner Prinz, bis ans Ende der Welt, jedenfalls in diesem Moment. Ich wusste gar nicht mehr, was es bedeutet, spontan zu sein. Etwas zu tun, einfach so, ohne lange zu überlegen, nur weil man Lust dazu hat. Und ich habe Lust mit dir auf diesen Turm zu steigen, ich habe Lust meine Hand in deine zu legen, deine Wange zu berühren. Ich habe Lust auf mehr, viel mehr.
Oktobersonne, soviel Kraft steckt also noch in dir, soviel Leidenschaft, soviel Leben. Wer hätte das gedacht? Das Lied „L´été indien“ (indian summer) kommt mir in den Sinn, ich summe es vor mich hin.
Und als ich später, sehr viel später, zurück nach Hause komme –irgendwann, kommt man immer nach Hause zurück- summe ich es noch.
Mein lieber Ehemann sitzt schon wieder, oder weiterhin, wer weiß das schon, vor dem Fernseher, Kopfhörer an.
„Du warst lange weg, wo warst du denn?“
Und noch bevor ich antworten kann, fügt er hinzu:
„Was gibt es heute Abend zu essen?“

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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