Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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November 2005
Seitensprung geradeaus
von Gerhard Becker

Endlich Feierabend! Gaby packte ihre Handtasche, verabschiedete sich von ihren Mitarbeitern und verließ mit eiligen Schritten das Büro. Sie hatte einen Termin beim Friseur und musste sich beeilen, wenn sie pünktlich sein wollte. ‚Mist´, dachte sie, als sie sah, wie ihre Straßenbahn gerade abfuhr. Gewiss – es hätte nicht lange gedauert und es wäre die nächste gekommen, aber jetzt, wo jede Minute zählte ... Dann sah sie IHN wieder, jenen braungebrannten und muskulös aussehenden Mann, bei dem Intelligenz, Schönheit und Kraft eine vollkommene Einheit zu bilden schienen. Offenbar wusste er, wie seine Erscheinung auf Frauen wirkte. Immer wenn er sie sah, warf er ihr Blicke zu, die allzu deutlich ausdrückten, was er dachte und wollte. Mal zwinkerte er ihr zu, mal lächelte er vieldeutig oder er wiegte sogar einladend seinen Kopf. So geht das schon über zwei Wochen, wenn sie auf die Bahn wartete. Obwohl sie bewusst einen überdeutlichen genervten Gesichtsausdruck zur Schau stellte oder einfach wegsah, sobald ER sie mit seinen Blicken nervte, gab dieser keinesfalls auf.
„Warum schauen Sie dauernd so ablehnend, wenn ich Sie ansehe?“, fragte überraschend der Aufdringliche. Sie hatte gedankenversunken nicht bemerkt, dass er plötzlich direkt an ihrer Seite stand. Bevor sie flüchten konnte, hatte er schon ihre Hand ergriffen: „Tino, Tino Franke“, stellte er sich vor. Überrascht wollte sie sofort die Hand zurückziehen, aber zu ihrer Verwunderung war sein fester, aber nicht grober Händedruck keinesfalls unangenehm. Im Gegenteil – fast beängstigend spürte sie, wie ihr Widerstand schwand. Sein Gesichtsausdruck wirkte ehrlich, offen und gar nicht machohaft, wie es ihr oft schien.
Ich darf das nicht, ich darf das nicht ..., stammelte Gaby in Gedanken.
„Ja gern“, hörte sie sich sagen, während sie in das warmherzig lächelnde Gesicht von Tino sah, als er sie unverblümt fragte, ob er sie zu einer Tasse Kaffee einladen dürfte. Was tust du da? Du musst zum Friseur, ärgerte sie sich über sich selbst. Sie wollte sich sofort korrigieren, doch Tino schien irgendetwas zu ahnen: „Oder haben Sie schon etwas vor?“, fragte er.
„Nun ja, ich wollte eigentlich zum Friseur, wissen Sie.“
„Zum Friseur? Ich dachte, da waren Sie erst gestern.“
„Sie Charmeur“, lachte Gaby.
„Nein im Ernst. Ihre Haare sehen wunderbar aus!“, sagte Tino mit aufrichtiger Bewunderung.
Aber Fred ist anderer Meinung, wollte sie gerade antworten, unterdrückte jedoch augenblicklich ihre Worte. ‚Ach du meine Güte, was wird Fred sagen?´, schoss es ihr durch den Kopf.
„Verraten Sie mir Ihren Namen?“ riss Tino sie aus ihren Gedanken.
„Gaby Reinert, entschuldigen Sie bitte. Ich weiß nicht, ob ich wirklich mit Ihnen Kaffeetrinken sollte?“
„Aber warum nicht? Heute ist so ein schöner Tag. Zum Friseur können Sie auch noch gehen, wenn es schneit“, scherzte er, denn es war gerade der schönste Hochsommertag.
„Also gut, aber nicht länger als eine Stunde“, willigte sie ein.

Gaby und Tino wählten wegen der starken Sonnenstrahlung einen schattigen Platz unter einer Linde, die vor dem Cafe stand. Sie führten anfänglich eine sehr entspannte und fröhliche Unterhaltung. Schnell einigten sich die Beiden auf ein Du. Es kam ihnen vor, als wären sie schon ewig miteinander bekannt. Wie eine Decke umhüllte eine seltsame Vertrautheit Beide, die Gaby zunehmend Unbehagen bereitete. Sie bemerkte aber auch, dass Tino ebenfalls gegen irgendetwas ankämpfte. Hatte er etwas zu verbergen? Die entspannte Atmosphäre drohte zu kippen.
„Du wirkst nervös. Ist etwas nicht in Ordnung“, fragte er.
„Das gleiche wollte ich dich fragen“, antwortete sie lächelnd. „Weißt du – ich muss dir das jetzt sagen – ich bin schon vergeben“, setzte sie fort, wobei ihr die letzten Worte sehr unsicher über die Lippen huschten, als wäre sie gar nicht mehr so überzeugt, dass es so ist.
„Und ich muss dir auch etwas sagen. Bitte sei mir nicht böse, was du jetzt gleich zu hören bekommst. Ich könnte es mir auch einfach machen und schweigen. Aber ich kann nicht. Das hast du nicht verdient. Ich weiß es schon seit gut drei Wochen ...“
„Was hast du gesagt? Habe ich richtig gehört?“
„Ja - leider. Die erste Woche habe ich dich nur beobachtet. Und mir war sofort klar ...“
„Moment! Du kanntest mich?“
„Nein ich kannte dich nicht. Nicht persönlich jedenfalls. Dein Freund ist Fred Beier.“
„Du kennst ihn?“, wunderte sie sich.
„Ja. Ich kenne ihn sogar ziemlich gut. Haben zusammen die Schulbank gedrückt. Besonders mochten wir uns zwar nicht, trotzdem waren wir erfreut, nachdem eine Ewigkeit seit unserem Wiedersehen vergangen war und wir uns vor vier Wochen zum erstmalig wieder trafen. Da hat er mir sofort von dir erzählt. Ich will ihn jetzt nicht schlecht machen Er lief früher jedem Rock hinterher. Hab mich schon gewundert, dass er es mit dir ernst meinen wolle. Das war mir neu an ihm. Aber er vertraut dir nicht vollkommen. Warum ist mir ein Rätsel.“
„Ich glaube, ich brauche jetzt einen Schnaps!“, unterbrach sie Tino.
„Mir ist das so peinlich. Wenn es nach Fred gegangen wäre, hätte ich schon vor vierzehn Tagen ... Aber ich wollte nicht. Hast es nicht verdient. Doch er erpresste mich.“
„Mit was denn?“
„Es gab einen Verkehrsunfall, kurz nachdem wir uns erstmals getroffen hatten. Ich fuhr direkt hinter ihm und er bremste plötzlich verkehrsbedingt. Da fuhr ich auf. Muss mit meinen Gedanken sonst wo gewesen sein. Jedenfalls hatte er zu meinen Gunsten auf die Polizei verzichtet, sonst wäre ich meine Fleppen wahrscheinlich losgeworden. Hatte in diesem Jahr oft Pech mit Flensburg. Seine Hilfe rettete mich. Ich hätte sonst auch gar nicht meinem Job weiter nachgehen können. Meine Notlage schien ihm zu gefallen. Er drohte mir plötzlich anonym der Polizei Informationen mit Fotos von dem Unfall zukommen zu lassen, wenn ich ihm nicht helfen würde. Ich weiß zwar nicht, woher er plötzlich die Fotos hat, denn mir ist gar nicht aufgefallen, dass er fotografiert hatte. Und jetzt habe ich Angst, es dir zu sagen.“
Tino machte wirklich einen verstörten Eindruck. Gaby war besorgt, aber gefasst. Sie fühlte, dass er tatsächlich in etwas hineingezogen worden war, was ihm widerstrebte. Und dahinter steckte Fred ihr Freund, von dem sie glaubte, er sei ihre große Liebe ...
„Nun red schon. Ich bin dir nicht böse. Versprochen!“
„Wirklich?“
„Ja wirklich. Außerdem geht mir plötzlich ein Licht auf. Fred fragte mich immer sehr genau aus, wie du dich verhalten hast. Jetzt kann ich mir denken warum. Und was die Fotos betrifft, so weiß ich, dass er eine Minikamera in einem Kugelschreiber besitzt. Er brauchte nur ‚blind` zu fotografieren, einige brauchbare Aufnahmen wären garantiert dabei gewesen.“
„Dieser Idiot. Wie kann er dir, der er früher die Mädchen wechselte wie Unterhemden, misstrauen, wo du doch so eine wunderbare Frau bist. Ich denke, er ging von seinem eigenen Charakter aus.“
„Du solltest mich prüfen, nicht wahr? Er hatte dich auf mich angesetzt, stimmt´s?“
„Ja, jeden Tag rief er mich an, ob ich nicht endlich ... Mir ging das auf die Nerven. Und da habe ich beschlossen, es heute unbedingt zu schaffen, mit dir Kaffee zu trinken und dir reinen Wein einzuschenken.“
Sie musste trotz der Angespanntheit lachen: „Das hört sich gut an: Mit mir Kaffee trinken und mir gleichzeitig Wein einschenken ... Carl Spitzweg wäre dazu bestimmt ein Bild eingefallen: Wein trinkender Kaffeetrinker oder so ähnlich.“
Tino konnte sich nur zwanghaft ein Lächeln abringen. Er war viel zu aufgeregt, um mitlachen zu können: „Ich wollte dir das nicht antun. Wäre mir schäbig vorgekommen, auf diese Weise meine Haut zu retten. Was mich aber am meisten ärgert ..., ach lieber nicht.“
„Was lieber nicht? Denkst du, du kommst jetzt so davon? Also raus mit der Sprache!“, forderte sie ihn zum Weitersprechen auf und lächelte ihn dabei beruhigend an.
„Ach, ich muss es wohl sagen: Ich bin in dich verliebt! So jetzt ist es raus. Ich weiß, eine Chance habe ich sowieso nicht. Erstens bist du schon vergeben, wie du sagst und ich es ja auch weiß, zweitens, nach dieser Sache hier...“
Sie lächelte Tino an: „Wenn du dich da nicht irrst. Du bist ein feiner Kerl und du gefällst mir auch sehr. Ohne dich wäre ich ganz bestimmt in mein Unglück gerannt. Ich hätte das Fred nie zugetraut. Aber sein merkwürdiges Verhalten in der letzten Zeit – jetzt wird ein Schuh daraus. Nein „vergeben“ bin ich nach dieser Schweinerei bestimmt nicht mehr. Und die werde ich ihm auch nicht vergeben. Ich habe ihm vertraut und wie dankt er mir? Dafür wird er zahlen müssen.“
„Zahlen? Wie willst du das anstellen?“, wunderte er sich.
„Ganz einfach mein Lieber: Es war ein wunderbarer Seitensprung mit dir!“
„Wie bitte? Aber wir haben doch nichts ...“
„Das wissen nur wir beide – kapito? Ich werde ihm ,beichten’ dass ich mit dir heute geschlafen habe und dass es wunderschön war. Dann werde ich meine Sachen packen....“
„Das willst du ihm wirklich sagen? Na du bist vielleicht ein Luder“, lachte er.
„Was bleibt mir übrig?“
„Aber wenn er seine Drohung wahr macht?“
„Keine Sorge mein Lieber. Die Fotos vernichte ich vorher noch, bevor ich ...“
„ ... bevor du sagst, du hattest einen Seitensprung mit mir?“
„Genau. Ich weiß, wo er seine Bilder ablegt. Und natürlich brauchst du mich nicht daran zu erinnern, dass ich auch an die Negative denken muss.“
„Es gibt aber keine.“
„Es gibt keine? Ach ja, wie konnte ich es vergessen: Freds Kugelschreiberkamera fotografiert ja digital. Und was machen wir jetzt? Selbst wenn ich die Fotos von seinem PC lösche, er kann sie auf irgendwelche CD-ROMs gespeichert oder sogar im Internet angelegt haben“, sagte sie ratlos.
„Mir reicht´s. Jetzt sage ich: Keine Sorge meine Liebe. Ich lasse mich nicht länger erpressen. Außerdem – wenn er es übertreiben sollte - bist du ja auch Zeuge. Ob er es dann riskiert dadurch selbst strafrechtlich ...“
„Und wenn ich nun gar kein Zeuge sein will?“
Bevor sein Gesichtsausdruck gefrieren konnte, lachte Gaby. „Du kleines Biest“, hauchte er und fiel in ihr Lachen ein.
„Und du willst wirklich sofort ausziehen? Ist das nicht ein bisschen schnell?“, fragte er.
„Nein, im Gegenteil. Jetzt weiß ich, dass ich das schon längst hätte tun sollen. Aber ich muss jetzt wirklich los. Also dann bis übermorgen!“, drängte sie plötzlich zur Eile.
„Bis übermorgen?“, wunderte er sich.
„Ja, oder willst du dich nicht mehr mit mir treffen?“, fragte sie und grinste.
„Na klar, ja doch“,
„Oder geht dir das auch zu schnell?“, provozierte sie ihn.
„Luder! Natürlich nicht. Selbst ein Düsenjet ist mir jetzt zu langsam ... Aber wo wollen wir uns treffen?“ fragte er voller Freude. Mit so einem Ausgang hatte er nie gerechnet.
„Bei dir natürlich. Zum Seitensprung!“

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