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November 2005
Der Sportler
von Nicole Diekmann

Eigentlich führe ich ein glückliches Leben – rational gesehen!
38 Jahre, strebsamer Mann, gerade eingeschulte Tochter, Haus, Auto, Hund.

Und was macht ein glĂĽcklicher Mensch wie ich? Ich stehe am Herd, wie jeden Tag um diese Uhrzeit, und koche.

GlĂĽcklich?

Kennen sie das GefĂĽhl in einem Laufrad zu stecken?
Sie bewegen dieses Rad mit ihrer eigenen Energie und am Anfang sind sie froh und stolz, dass es so rund läuft. Flugs wird dieses Rad immer schneller und schneller und ab einem gewissen Punkt benötigen sie nicht mehr so viel eigene Energie, um es in Bewegung zu halten. Das Rad läuft einfach und sie laufen einfach mit. Doch dann wird ihnen bewusst, dass sie gar keinen großen Einfluss mehr auf die Richtung und Geschwindigkeit des Rades haben und sie versuchen es anzuhalten. Es klappt nicht!

Der Energieaufwand scheint ihnen zu hoch, ja unerreichbar, um dieses starke, rotierende System nach ihren WĂĽnschen zu bewegen. Trotzdem probieren sie es weiter und weitere Versuche missglĂĽcken! Sie werden panisch und schmeiĂźen sich gegen das kalte GerĂĽst, kommen ins Wanken, straucheln und bekommen dann, kurz bevor sie auf die Nase fallen, wieder den gleichen Dreh wie zuvor.
Irgendwann wird dann die Gegenwehr immer kleiner und sie laufen wieder im beständigen Tempo, in die gleiche Richtung wie zuvor. Eigentlich wollten sie doch auch in die Richtung – am Anfang! Um das Gewissen zu beruhigen, wird hier und da noch einmal ein halbherziger Versuch gestartet, dass Rad zum Stillstand oder zum Richtungswechsel zu bewegen, aber es ist einfach zu anstrengend. Also: gleiche Richtung, gleiches Tempo!

Dieses Gefühl bekomme ich, wenn ich an meine tägliche Routine denke.
Gestern bin ich aus dieser Routine ausgebrochen und habe etwas für mich ganz verrücktes getan. Ich habe das Wort „Routine“ im Langenscheidt nachgeschlagen, obwohl es gar nicht in meinen Zeitplan passte!

Folgende, vielsagende Ăśbersetzung habe ich gefunden:
Rou·ti·ne, die; -,-n 1. keine Mehrzahl Übung, durch Übung erworbene Gewandtheit, Fertigkeit und Sicherheit, Erfahrung 2. durch lange Gewohnheit langweilig gewordene, ohne innere Beteiligung ausgeführte Tätigkeit.

Genauso ist es: durch lange Gewohnheit langweilig geworden, ohne innere Beteiligung, verrichte ich Tag für Tag die Hausarbeit. Jeder Tag gleicht dem anderen. Tag für Tag, Woche für Woche. Ich kann ihnen also genau sagen, was ich in 5 Wochen um diese Uhrzeit mache – ICH KOCHE!
Früher, ja früher gab es eine Leidenschaft in meinem Leben, ein Feuer, dass nie zu erlöschen drohte. Mein Mann und ich konnten die Finger nicht voneinander lassen. Ich wurde von ihm mal mit im Flur ausgestreuten Blumen, einem Dinner bei Kerzenschein, oder einem Picknick im Wohnzimmer überrascht!

Gibt es dieses Feuer und die unersättliche Leidenschaft eigentlich nur bei frisch Verliebten? Bei uns steht das vor 10 Jahren entflammte Feuer derzeit auf Sparflamme.

Natürlich würde ich mein Laufrad wieder zum Stillstand bekommen, wenn ich die eingebrachte Energie mit einem anderen Körper austausche. Aber will ich wirklich meine Energie mit einem anderen austauschen? Ich liebe doch meinen Mann und er liebt mich. Trotzdem wäre eine Prise Chili in unserer derzeitigen Beziehung wirklich nicht schlecht – oder?

Meinen Gedanken nachhängend höre ich die Türklingel. Da steht meine Kleine mit vor Anstrengung ganz roten Wagen, denn unser kleines Eigenheim liegt an der Bergstraße, die ihrem Namen alle Ehre macht. Meine Tochter betritt mit, aus ihrer Sicht, sauberen Schuhen den morgendlich frisch gewischten Parkett und wirft ihre Sachen in die Ecke – wie oft habe ich ihr gesagt ... „Oh super Mami, Essen! Ich hab aber auch einen Mords Kohldampf!“ Sie tut gerade so als ob es eine nie wiederkehre Ausnahme ist, dass sie bei uns etwas Essbares bekommt! Wie jeden Tag essen wir gemeinsam zu Mittag und sie erzählt mir von ihrem Vormittag in der Schule. So wie es aussieht hat sie eine neue, beste Freundin. Etwas unbeteiligt höre ich ihr zu und werde erst hellhörig, als sie von dem Vater von Sira, so heißt ihre neue Freundin, erzählt. „Siras Papa ist ein Sportler, er macht Hochsprung! Warum macht Papa eigentlich keinen Sport?“ Ihre Stimme verebbt in meinem Kopf und die aufgestaute kinetische Energie wird auf einmal unruhig. Ein Sportler! Fester Po, stramme Waden, Kondition...!

„Mami? Mami! Unsere Lehrerin hat gesagt, wir sollen sagen, dass heute Elternabend in der Schule ist – hier der Zettel!“ Ich nehme den zerknitterten, 2 Tage alten Zettel an mich und bin schon wieder in meiner Energie versunken: Groß, breite Schultern, feste Hände die zupacken können! Lange Abende mit dem Feuer und der Leidenschaft frisch Verliebter! - Blumen, Dinner, Kerzenschein!

Nachdem ich in diesem Gemütszustand den ganzen Nachmittag verbracht habe und mich ein wenig länger als sonst für den Elternabend zu Recht gemacht habe, komme ich 15 Min. früher als geplant zur Schule. Vielleicht hat man ja die Möglichkeit mit anderen Eltern oder Vätern in Kontakt zu kommen. Leider konnte mich mein eigener Mann nicht begleiten, da er so kurzfristig die wichtigen Geschäftstermine nicht verschieben konnte – natürlich habe ich dafür Verständnis!
Ob Siras Vater wohl da ist? Ob er schon lässig im Klassenzimmer sitzt? Die starken, muskulösen Beine übereinander geschlagen. Sportlich, elegante Kleidung und ein leicht arrogantes aber herzliches Lächeln auf den Lippen. Seine Muskeln bilden sich unter seinem Hemd ab und bei jeder Bewegung spannen sich seine Schulterpartien.

Mit Herzklopfen und leicht feuchten Händen, betrete ich den Klassenraum. Okay, normalerweise kleide ich mich zu dieser Art von Veranstaltung anders. Ich meine die hochgesteckten Haare, die eine halbe Stunde mit einer Honig-Kur bedeckt waren, die hochhackigen Schuhe die an allen erdenklichen Stellen drücken und der knallenge, kurze Rock, könnte nach den allgemeinen Blicken zu urteilen ein wenig zu overdresst sein, aber was macht man nicht alles um sportliches Interesse zu wecken. Mein Blick schweift durch den nett hergerichteten Raum und in verblüfft wirkende Gesichter. Es ist aber kein Sportler zu sehen.
Enttäuscht und ein wenig zerknirscht setze ich mich neben eine sympathisch wirkende Mutter. Die Frau lächelt mich an und mir fällt ihre unbewusst schöne und natürliche Ausstrahlung auf. Sie stellt sich als Siras Mutter vor und fragt mich ob ich Sira kenne.

Das ist wieder typisch. Ich setze mich ausgerechnet neben die Frau, mit deren Mann ich am liebsten mein Laufrad zum Stillstand bringe würde! Eigentlich hätte ich mir auch denken können, dass Hochleistungssportler Frauen lieben, die gerade mal Kleidergröße 38 und nicht wie ich 42 haben. Leider kann ich das Gefühl nicht verdrängen, dass diese Frau unheimlich charmant ist und ich ihr sogar mein Kind anvertrauen würde.

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich immer noch nicht geantwortet habe und werde augenblicklich hektisch. „Sira, ja – Sira ist seit heute die beste Freundin meiner Kleinen. Sira hat meiner Tochter erzählt, dass ihr Papa Hochsprung macht!“ „Hochsprung? Mein Mann?“ Jetzt sieht die Frau neben mir sehr verwirrt aus. „Nein, mein Mann interessiert sich für keinerlei Sport. Er hätte auch gar keine Zeit dazu – er muss immer bis spät in die Nacht arbeiten – zum Teil auch an den Wochenenden. Wie kommt Sira nur darauf? Komisch!“


Zwei Tage später, als ich mit meiner Tochter beim Mittag essen sitze, erfahre ich, dass Sira mit ihrer Mutter ein Gespräch hatte und der Papa danach ausgezogen ist.
„Sira hat ihrer Mutter nur erzählt, dass sie ihren Papa am Telefon belauscht hat. War ein Spiel - Detektiv! Der Papa hat nur geflüstert und Sira hatte es wirklich nicht leicht etwas zu verstehen. Da habe ich es bei euch leichter. Ach ja, der Papa von Sira hat gesagt, dass er heute nicht zur Seite springen könnte.
Siras Papa darf seit dem nicht mehr Zuhause wohnen. Siras Mama hat nämlich danach mit ihm gesprochen. So richtig hat Sira es nicht verstanden, nur dass ihr Papa mit einer Partnerin Sport treibt. Deswegen gehen Sira und ich nicht mehr zum Sport – wir wollen Zuhause wohnen bleiben! Mama, was ist eigentlich der Unterschied zwischen Hoch- und Seitensprung?“

Jetzt liegt es an mir, meiner Süßen den Unterscheid zu erklären und dass die meisten sportlichen Betätigungen nicht zum Rauswurf führen. Erst bei dieser Erklärung wird mir wieder bewusst, wie schön Routine sein kann.

Rou·ti·ne: durch Übung erworbene Gewandtheit, Fertigkeit und Sicherheit, Erfahrung.
Heute Abend wird unsere SĂĽĂźe eine halbe Stunde frĂĽher ins Bett gehen mĂĽssen, denn ich muss noch ein Picknick im Wohnzimmer, bei Kerzeschein, fĂĽr meinen Mann und mich vorbereiten. Ich denke wir werden eine Menge Bewegungsenergie erzeugen und:
JA, ICH FÜHRE EIN GLÜCKLICHES LEBEN – nicht nur rational sondern auch emotional!

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