Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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November 2005
Quälende Gewissheit
von André Steinbach

G. ging wie gewöhnlich, aber diesmal zur Mittagszeit über die Neckarbrücke, um seiner Verlobten einen Besuch abzustatten. Es war ein Tag mitten im Sommer 1969, die Neckarwiesen waren überfüllt mit Studenten, die ihre Zeit zwischen Vorlesungen dazu nutzten, Sonne aufzutanken und den Neckarschiffen nachzuschauen, die regelmäßig kleine Wellen ans Ufer spülten. Da waren kleine holländische, deutsche, französische und belgische Fähnchen gehisst, die auf den Frachtern im Gegenwind flatterten. Er war gut gelaunt und sang vor sich hin in der Sonne.
Es war nur ein kurzer Weg zur Buchhandlung, wo seine Verlobte arbeitete und alle ihn schon so gut kannten, dass manchmal sogar hinter vorgehaltenen Mündern eifrig getuschelt wurde. G. war auch gut bekannt mit der besten Freundin seiner Verlobten, der er ab und zu einmal schöne Augen machte. Aber das war nur platonisch, da sie nicht nur gut aussah, sondern auch ein nettes und gutmütiges Wesen hatte, ja jemand, der sie nicht näher kannte, hätte sie auch glatt für etwas naiv halten können, was sie aber keinesfalls war.
Als G. sie nach seiner Verlobten fragte, sagte sie ihm, dass der Lebensgefährte einer älteren Kollegin sie abgeholt hätte und sie habe nur vage gehört, dass sie in der Nähe etwas essen wollten. In einem kleinen gemütlichen Restaurant, ja sie konnte sich zwar nicht genau daran erinnern, aber sie hätte so etwas wie „griechisch“ gehört.
G. schaukelte sich in seiner Wut so langsam hoch, ließ sich aber weiter nichts anmerken und tat vor allen so, als wüsste er bescheid und habe es nur vergessen. G. bedankte sich und ging den gleichen Weg wieder zurück, den er gekommen war. Er wusste, dass seine Verlobte nur knappe zwei Stunden Mittagspause hatte und dass sie normalerweise nicht irgenwo in ein Restaurant essen ging, sondern nur eine Kleinigkeit in ihrer gemütlichen Wohnung zu sich nahm. „Nein, hatte sie ihm einmal gesagt, „wenn ich auch noch mittags eine komplette Mahlzeit essen würde, weißt du wie ich dann aufgehen würde? Nein, das wollte sie natürlich keinesfalls, denn schließlich hatte sie eine gute Figur, die sie unter allen Umständen auch halten wollte.
Da G. auch einen Schlüssel zur Wohnung seiner Verlobten besaß, dachte er es wäre wohl am besten sich Gewissheit zu verschaffen. Ob seine Verlobte wirklich mit dem Freund ihrer Kollegin essen gegangen war? Er konnte es einfach nicht glauben. Er grübelte vor sich hin und ging mit schnellen Schritten über die Theodor-Heuss-Brücke auf die andere Neckarseite nach Neuenheim wo seine Verlobte wohnte. Er lief zu schnell, als dass er Augen für die Neckarkähne gehabt hätte, die unter ihm vorbei fuhren.
Als er die Wohnung seiner Verlobten schließlich erreichte, zitterten seine Hände beim Aufschließen der Haustür. Es war ruhig, als die die Treppenstufen nach oben ging. Dann ganz vorsichtig und geräuschlos, damit ihn niemand hören konnte, schloss er die Wohnungstür auf. Die Tür zur Küche war angelehnt, aber die Schlafzimmertür war geschlossen und als er langsam sich in diese Richtung begab und sein Ohr an die Tür hielt, wurden seine Befürchtungen zur Tatsache. Er hörte Stöhnen und das Federn des Metallbettes. Dann, er war ganz blass geworden, sah er durchs Schlüsselloch, wie seine Verlobte und der Lebensgefährte der Kollegin seiner Verlobten, der so etwa zwanzig Jahre älter sein musste, als G., mitten im Geschlechtsakt waren. Beide waren nackt und G.'s Verlobte saß mit dem Rücken zur Tür auf dem Schoß des Mannes, der abwechselnd ihre Brüste küsste.
G. hatte genug gesehen. Sein Herz pochte bis zum Hals und er spürte, wie eine plötzliche Schwäche ihn überfallen wollte. So leise, wie er gekommen war, verließ er die Wohnung seiner Verlobten wieder und kehrte zur Buchhandlung zurück, wo sie arbeitete. Er wusste, dass sie regelmäßig die Antibabypille nahm und das würde sie wohl ausnützen, dachte er zumindest. Er fragte wieder nach seiner Verlobten, und eine Angestellte erwiederte, dass sie aus der Mittagspause noch nicht zurückgekommen sei, aber er solle sich doch etwas gedulden, sie müsste ja jeden Moment wieder zurück sein.
G. wartete und wartete, doch in der Buchhandlung wurde es ihm zu eng. Er musste seinen Kragen öffnen und seine Kravatte lockern, weil er kaum Luft bekam. Er verließ die Buchhandlung, nachdem er dem Personal gesagt hatte er wolle draußen warten und sollte er doch wider Erwarten seine Verlobte missen, sollten sie ihr doch bitte ausrichten, dass er – wie üblich nach Geschäftsschluss – vorbeikommen wolle.
Auch auf der Straße vor der Buchhandlung hielt er es nicht lange aus. Selbst die im Schaufenster ausgestellten Bücher und Plakate konnten seine Gedanken nicht zerstreuen. Warum tat sie das? Wie lange ging das wohl schon so mit ihr und dem Freund der Kollegin? Ahnte ihre Kollegin etwas davon? Aber so oft er sich auch diese Fragen stellte, so wenig fand er Antworten darauf.
Dann schließlich – er hatte wohl eine halbe Stunde in der Nähe der Buchhandlung gewartet, das heißt er war nervös hin und her gegangen und eine Zigarette nach der anderen geraucht, war aber stets weit genug entfernt von der Buchhandlung geblieben, damit ihn von dort niemand sehen konnte.
G. schaute immerzu auf seine Automatik-Armbanduhr, einem Verlobungsgeschenk, und so langsam legte sich seine Wut. Sollte er noch länger warten? Wie würde seine Verlobte bei ihrem Zusammentreffen reagieren? Wie sollte er selbst reagieren? Es waren zu viele Fragen, auf die er keine Antwort finden konnte.
Für ihn war die Zeit stehen geblieben. Noch konnte er nicht an das glauben, was er gesehen hatte. Dann schließlich war sie da. Da sie ja zu spät nach der Mittagspause kam, hatte sie sich auch schon etwas ausgedacht. Ihrer Chefin in der Buchhandlung wollte sie sagen, dass sie wohl etwas im Restaurant gegessen hatte, was nicht in Ordnung war, und dass es ihr danach übel wurde, was ihrer Meinung nach auch einleuchtete, da ja alle in der Buchhandlung wussten, dass sie essen gegangen war. Jedenfalls hatte sie das allen gesagt. Der Lebensgefährte der Kollegin hatte sie einige Straßen entfernt mit seinem Auto abgesetzt, damit niemand irgendeinen Verdacht schöpfen konnte. Er war dann in sein Büro gefahren.
Anita hatte noch keine Zeit gehabt, ihre etwas in Unordnung geratene Frisur zu richten, alles war sehr schnell gegangen. Sie fand gerade noch Zeit, sich anzukleiden und das Bett wieder herzurichten, damit G. nicht argwöhnisch wurde. Sie wollte nichts riskieren, denn G. würde sie wie gewöhnlich nach Geschäftsschluss abholen und dann gingen sie meistens in ihre Wohnung, wo sie zusammen zu Abend aßen.
Natürlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass G. sie in der Mittagspause abholen würde.
G. hatte dies auch ursprünglich nicht vorgehabt, aber das schöne Wetter hatte ihn dazu verführt, Anita in der Mittagspause in der Buchhandlung aufzusuchen.
Als Anita G. bemerkte, ließ sie sich nichts anmerken. Aber auch G. versteckte seine Wut hinter einem „da bist Du ja, ich wollte dich vorhin abholen, aber deine Kollegin sagte mir, dass du essen gegangen seist. Leider wusste sie nicht in welches Restaurant, sonst wäre ich dorthin gekommen.“ Anita war zuerst etwas verblüfft, aber dann fing sie sich gleich wieder und antwortete: „Ja, Bärchen, ich war mit einer Freundin im Akropolis, aber irgend etwas ist mir nicht bekommen, mir war übel und so musste ich zuerst zu mir in die Wohnung gehen um etwas gegen die Übelkeit zu unternehmen. Jetzt geht es schon viel besser.“ So aber jetzt muss ich schnell zur Arbeit, ich bin ja sehr spät dran. Mach's gut, dann bis heute Abend.“ Und ehe G. noch etwas erwiedern konnte, war sie schon in der Buchhandlung verschwunden.
Jetzt wuchs aber G.'s Wut erneut und er überlegte, wie er weiter reagieren sollte. Auf jeden Fall würde er seine Verlobte wie gewöhnlich nach Arbeitsende von der Buchhandlung abholen, das stand für ihn fest. Sollte er Anita direkt darauf ansprechen? Sie konnte ja nicht wissen, dass er sie mit dem anderen ertappt hatte. Sollte er warten, ob sie ihm bei Gelegenheit nicht doch die Wahrheit erzählen würde? Schließlich kam er zu dem Entschluss vorerst einmal nichts zu unternehmen und abzuwarten. Irgendwann würde sich seine Wut schon legen.
Dann eine Woche später bot sich ihm eine gute Gelegenheit reinen Tisch zu machen. Anitas Freundin lud sie und G. zum Abendessen ein und natürlich würde dann auch dieser Lebensgefährte der Kollegin anwesend sein. G. musste nur mit seinen Emotionen zurückhalten und sich nichts anmerken lassen. Es würde sicher eine interessante Begegnung mit offenem Ausgang werden.
Anita tat so, als wäre nichts geschehen und freute sich auf das Wiedersehen. G. hatte einen großen Blumenstrauß besorgt, Anita eine Flasche Merlot, da sie wusste, dass ihre Freundin diesen Wein sehr mochte. Anita saß links von G. Und direkt gegenüber dem Freund der Kollegin, die sich angeregt mit Anita unterhielt. Hin und wieder zuckte Anita kaum merklich zusammen, aber G. fiel es auf. Er bückte sich nach seiner Serviette, die auf den Teppich gefallen war. Was er dann aber sah, ließ seine alte Wut wieder hochkommen. Der Mann gegenüber war mit seinem rechten Fuß aus dem Schuh geschlüpft und streichelte Anitas Schenkel. Dies war also der Grund, dass Anita ab und zu leicht zusammenzuckte. G. blickte beiden ins Gesicht, aber sie taten völlig unbeteiligt.
Dieses Spielchen schien so weiter zu gehen, bis sie gegessen hatten. G. konnte sich nur mit aller Mühe beherrschen, aber noch ließ er sich nichts anmerken. Als er aber bemerkte, dass Anita ihrerseits dieses Spielchen wiederholte, war es um seine Beherrschung geschehen. Wutentbrannt sprang G. auf und ging dem Freund der Kollegin Anitas an den Kragen. „Du Schwein,“ rief er, „was treibst du mit meiner Verlobten?“ Und bevor dieser sich versah, landete die Faust G.'s mitten in seinem Gesicht, so dass er zu Boden ging. Jeder Boxkundige hätte sich über einen solchen Haken gefreut, kurz angesetzt und mit voller Kraft getroffen. Auch Anita und ihre Kollegin waren erschrocken aufgesprungen. Anita begann zu weinen – und noch heute weiß G. nicht, ob sie wegen des zu Boden Gegangenen weinte oder aber weil G. anscheinend herausbekommen hatte, dass zwischen beiden etwas lief. Ihre Freundin stand bleich und regungslos neben ihrem Lebensgefährten, der sich noch immer nicht rührte.
Dann rief sie mit sich überschlagender Stimme: „Was haben sie da getan, Karl, warum haben sie Gerhard geschlagen?“ Jetzt konnte G. nicht mehr an sich halten. Sollte sie doch endlich wissen, dass ihr Lebensgefährte sie hinterging. Und er berichtete alles, was er gesehen hatte, aber mit dem Erfolg, dass beide Frauen jetzt weinten. Dann nahm G. Seine Verlobte an der Hand und sagte: „Es reicht, wir gehen, so etwas muss ich mir nicht antun!“ Seine Verlobte folgte ihm wortlos, zitternd und noch immer bleich. Sie wusste nicht, was jetzt geschehen würde, wo anscheinend G. ihr Spiel durchschaut hatte. „Hast du mir etwas zu sagen?“ fragte G., aber Anita erwiederte nichts und schaute an ihm vorbei. Dann streifte er seinen Verlobungsring ab und sagte zu Anita gewandt: „ Ich bringe dich jetzt in deine Wohnung. Mehr habe ich nicht zu sagen. Von jetzt an werden sich unsere Wege trennen.“
Er war selbst überrascht, dass er so ruhig bleiben konnte, als er dies aussprach. Anita, die weder ihm zugehört hatte, noch begriff, was er meinte, ging wortlos neben ihm her, bis sie zu ihrer Wohnung kamen. G. schloss auf und sagte zu ihr: „Vielleicht wirst du ja mit diesem Kerl glücklich!“ Anita ging wortlos ins Haus, ohne sich umzusehen und G. zog die Tür hinter sich zu.
Am Tag darauf schickte er in einem gefütterten Briefumschlag Anita ihre Wohnungsschlüssel zurück, ohne aber etwas Geschriebenes beizulegen. Von Anita hörte er nichts mehr, aber anfangs war auch sein Ärger so groß, dass er alles was geschehen war, verdrängen konnte. Doch nach und nach kam die Erinnerung zurück und er fragte sich, wie es Anita jetzt wohl gehen würde. Hin und wieder zog er aus einem alten Schuhkarton Fotos hervor, die noch aus einer glücklicheren Zeit stammten.
G. hatte sich bei seiner Firma kurze Zeit nach dem Bruch mit Anita für eine Auslandstätigkeit beworben und verbrachte fünf Jahre in Mexiko. Jetzt, wieder zurück in Heidelberg, kehrten die Geschehnisse von damals zurück.
Die Ungewissheit quälte ihn so sehr, dass er wieder die Buchhandlung aufsuchte und eine der Freundinnen von Anita fragte, ob sie wüsste, wie es seiner ehemaligen Verlobten gehen würde. „Ach, Anita,“ meinte die Freundin, „die ist seit drei Jahren verheiratet und lebt jetzt in Frankfurt. Sie soll dort bei einer großen Buchhandlung arbeiten, aber ich habe schon lange nichts mehr von ihr gehört. Sie scheint uns alle hier in Heidelberg vergessen zu haben.“ G. ging zum Hauptbahnhof, wo er eine Fahrkarte für den nächsten D-Zug nach Frankfurt kaufte.

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