Ganz schön bissig ...
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Dezember 2005
Mein Schwur an Großmutter
von Ulrike Lauterberg

Von meinen Eltern erfuhr ich, dass es bereits wenige Tage nach meiner Geburt in der Familie Streit gab. Großmutter war an zu Besuch. Immerfort war sie an meinen Stubenwagen gelaufen, um nachzusehen, ob mit mir alles in Ordnung war. Gab ich den kleinsten Laut von mir, stand sie neben mir und nahm mich hoch. Meinem Vater platze bald der Kragen und er brüllte los: ”Lass das Kind doch jetzt mal in Ruhe! Du kannst doch nicht bei jedem Piepser hinlaufen!”
Das war zuviel. Betroffen schnappte Großmutter sich Jacke und Tasche und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus. Ein paar Tage ließ sie sich nicht sehen und nur mein Großvater wusste, wie sehr sie litt. Meine Mutter ging bald zu ihr und sagte: ”Mutti, sei nicht mehr böse, versuche uns zu verstehen. Du verwöhnst sonst das Kind.”
Großmutter antwortete: ”Ich bin nicht mehr böse, aber es ist unser erstes Enkelkind und ich will mich auch daran erfreuen.”
Dann beugte sie sich über den Kinderwagen, hob mich raus und nahm mich in den Arm. Sie war wieder glücklich.

Nach meinem dritten Geburtstag durfte ich Großmutter ohne Begleitung besuchen. An meine Empfindung erinnere ich mich sehr gut. Kirchwalsede war ein kleines Dorf, doch für mich war es, als würde ich die Welt erkunden. Später erzählte mir Großmutter:
"Kind, was war das niedlich, wenn du angetippelt kamst, mit deinem kleinen Körbchen im Arm. Lange vorher habe ich vom Fenster Ausschau nach dir gehalten.”
Einer dieser Besuche ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. An dem Tag passierte mir ein Missgeschick, denn unterwegs hätte ich dringend eine Toilette gebraucht. Zum Umkehren war es zu spät und bis zu Großmutter noch zu weit. Es passierte und ich hoffte, dass es niemand bemerken würde. Doch als Großmutters Nachbarin mir nicht wie sonst vom Gartenzaun lächelnd zuwinkte, sondern rief:
”Igitt, pfui pfui.”, ahnte ich, dass man es nicht nur riechen, sondern auch sehen konnte und schämte mich sehr. Das war das einzige Mal, dass Großmutter mich schimpfte. Auch diesen entsetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht, sah ich nie wieder. Nachdem sie mich geduscht hatte, musste ich einen ihrer riesigen, rosa Schlüpfer mit Bein anziehen. Anschließend legte sie mich zum Mittagsschlaf ins Ehebett.
Als ich aufwachte schmunzelte sie bereits über meine Missetat. Mutter holte mich abends ab und wunderte sich nur kurz über meine merkwürdige Bekleidung. Dann erkannte sie die Situation und nahm schon einen tiefen Atemzug, um mir eine Standpauke zu halten. Doch Großmutter sprach: ”Ach, das ist doch nicht so schlimm. Nun lass sie man. Sie macht es ja nicht wieder.”
Dabei zwinkerte sie mir hinter Mutters Rücken verschwörerisch zu.

Als ich älter wurde, erzählte sie mir vieles aus ihrer Vergangenheit.
Mit großen Augen sah ich sie an, als sie mir an meinem neunten Geburtstag sagte: ”Dein Vater bekam an seinem neunten Jahresfeste einen Brotknust geschenkt.”
”Wie? Nur einen Brotknust? Sonst nichts?”, fragte ich ungläubig und schielte auf meinen bunten Gabentisch.
”Ne ne, nur einen trockenen Brotknust, was anderes hatten wir nicht.
”Aber war Papa da nicht traurig?”
”Ne ne, der hat es sich tüchtig schmecken lassen.”, antwortete sie.
Wie viele andere Menschen flüchteten auch meine Großeltern aus Ostpreußen und durchlebten eine schwere Zeit. Sie mussten ihren geliebten Heimatort Kumenen bei Königsberg verlassen.
Ich erfuhr, dass sie im Jahre 1945 für den Übergang bei einem Bauern unterkamen. Großmutter schlief dort mit ihren beiden Kindern in einem Bett. ”Ja, so war das damals.”
Das waren die Worte, mit denen sie jedes Mal ihre Erzählungen beendete.
Großmutter erinnerte sich. ”Abends stellte die Bauernfamilie die große Pfanne mit Bratkartoffeln und Knipp auf den Tisch. Hm, ... das duftete lecker. Dann aßen alle, auch die Magd und der Knecht gemeinsam daraus. Wenn sie fertig gegessen hatten, nahm sich der Bauer ein großes Stück Speck aus der Räucherkammer und verspeiste diese Köstlichkeit alleine. Ansonsten bekamen wir Reste und die Kartoffelschalen. Daraus kochte ich in der Schweineküche ein Süppchen. Wir waren heilfroh etwas zum Essen zu haben. Ja, so war das damals. ”
Ich konnte es nicht fassen, dass ein Stück trockenes Brot schmecken konnte und es so viel Not gegeben haben soll.

Großmutter erzählte auch, dass sie später auf einem Spaziergang, ein verwaistes Wildschweinbaby fand. Mit einer Liebesperlenflasche zog sie es groß. Aus dem Frischling wurde ein prächtiger Eber. Er war bald so groß, dass er die Stiege - wie meine Großmutter die Treppe nannte - von draußen in die gute Stube laut heraufpolterte. ”Der Hansi war sogar stubenrein.”, erwähnte sie mit Stolz. Schweren Herzens trennte sich Großmutter nach zwei Jahren von Hansi. Er war zu groß und wild geworden. Sie gab ihn an einen Tierpark in Hildesheim ab. Manchmal hielt sie ein Foto mit ihrem Hansi in der Hand und ein wehmütiger Zug legte sich um ihren Mund.

Oft blieb ich für mehrere Tage bei meinen Großeltern. Dort durfte ich spielen und sein wie ich war, neugierig und ungestüm. Nur mittags, wenn beide ein Schläfchen hielten, musste ich mich ebenfalls hinlegen. Das mochte ich nicht. Nur selten schlief ich tatsächlich ein. Dann lag ich in der guten Stube und sah mir gelangweilt die Fotos an der Wand an. An eines der Bilder erinnere ich mich besonders gut. Es war das Porträt von Großmutters Bruder. ”Oma, wo ist dein Bruder?”, fragte ich eines Tages, während sie Staub vom Bilderrahmen wischte.
”Der ist gefallen.”, sagte sie und wieder sah sie traurig aus. ”Oh, ist er zu schnell gelaufen? Hat es doll geblutet? Wo ist er denn jetzt?”, fragte ich weiter. Sie unterbrach das Staubwischen und sah mich nachdenklich an. Großmutter antwortete: ”Na, er ist tot Kind, er wurde erschossen, im Krieg.” Kopfschüttelnd wandte sie ihren Blick von mir ab und putzte weiter an den Bilderrahmen herum.
Ich wurde nachdenklich und schwieg. Das war der Moment, als ich die Bedeutung: gefallen im Krieg verstand.

Bis zu meinem sechsten Lebensjahr lag ich nachts zwischen meinen Großeltern. Es war herrlich. Wenn sie ins Bett kamen, wachte ich fast immer auf, auch wenn sie sich noch so sehr bemühten leise zu sein. Dann wurde ein wenig herumgekichert und mein Großvater sagte zu mir: ”Dann kann ich ja noch ein wenig lesen, wenn du sowieso wach bist.”
”Nein, das Kind muss schlafen.”, schimpfte Großmutter.
Großvater zwinkerte mir grinsend zu und konterte weiter:
”Ih wo, geht doch schnell. Hier Muttchen, bekommst auch einen Teil ab.” Schon flatterten über mich hinweg, bis auf Großmutters Gesicht, ein paar Seiten der Tageszeitung. Zusammen waren sie manchmal richtig komisch und ich musste oft laut lachen. Es war gemütlich und mollig. Das warme Licht der Nachttischlampen, das leise Rascheln beim Umblättern, die warmen dicken Federdecken. Ich fühlte mich wohl zwischen den beiden Alten und liebte sie. Während sie lasen und ich ihren gleichmäßigen Atemzügen lauschte, schlief ich ein.
Es kam aber vor, dass ich mitten in der Nacht aufwachte. Ein rätselhaftes Geräusch hatte mich geweckt, ein leises, metallisch klingendes Plätschern. Kurz darauf raschelte die Federdecke und das große Bett schaukelte. Eines Morgens kam ich zufällig hinter das Geheimnis. Erstaunt beobachtete ich, wie Großmutter einen weißen Blechtopf unterm Bett hervorzog und ihn in der Toilette ausleerte. Mit großen Augen hatte ich sie beobachtet und fragte: ”Oma, gehst du etwa noch aufs Töpfchen?”

Am meisten liebte ich Großmutters Bonbondose. Sie hatte stets ihren festen Platz im Schrank, unterm Fernseher. Weinrot glänzend war sie, mit goldenen Ornamenten verziert und niemals wurde sie leer. Alle ihre Enkelkinder stürzten sich bei jedem Besuch darauf und Großmutter lächelte gütig und sagte: ”Nehmt Euch nur Kinder.”
Vor kurzem, im Urlaub, stöberte ich in einem dänischen Trödelladen herum. Plötzlich jubelte ich laut auf: ”Das ist ja Omas Bonbondose.” Mein Mann kaufte sie mir und stellte fest, dass es eine Kaffeedose von Tchibo war.

Meine Großmutter verstand es sehr gut zu nähen. Irgendwann hatte sie sich eine Nähmaschine mit Fußpedale angeschafft. Ein schnurrendes Geräusch war aus dem Zimmer zu hören, wenn sie fleißig war. Auf und ab gingen ihre Knie und ich konnte kaum so schnell mitschauen. Ihre Brille saß fast auf der Nasenspitze und ich wartete gespannt darauf, dass sie herunterfiel. Sie fiel nie. Häufig musste ich still auf einem Stuhl stehen, während sie eines der Kleider an mir absteckte.
”Wenn ich mal nicht mehr bin, dann sollst du diese Maschine erben, vergiss das nie Ulrikchen.”, murmelte sie mit zusammengepresstem Mund, damit die Stecknadeln, die zwischen ihren Lippen klemmten, nicht herausfallen konnten. Skeptisch schielte ich das große Gerät an und wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte.
Hübsche Sachen nähte sie uns Kindern und wenn etwas fertig war, musste es eine Woche an der Flurgarderobe hängen. Vorher gab sie es nicht aus ihren Händen.
Eines Tages, auf einem Familienfest, trugen meine Cousine, meine Schwester und ich, alle das gleiche weiße Kleid mit blauen Tupfern und jeweils zwei Schleifen an den Taillen. Die Erwachsenen erfreuten sich an unserem Anblick. Begeistert riefen sie Großmutter zu:
”Mutti, was hast du nur für wunderschöne Kleider genäht. Unsere Mädels sehen ja bezaubernd aus.” Wie drei Orgelpfeifen standen wir da. Dreimal Unmengen von Tupfern und sechs große blaue Schleifen zu sehen, war zu viel. Meine Schwester lernte dieses Kleid zu hassen, sie musste alle auftragen und atmete auf, als ihr meines nicht mehr passte.

Großmutter wurde mit den Jahren gebrechlicher und nachdenklicher. Als ich sechzehn war, überragte ich sie um eine Kopflänge. Wir gingen an einem warmen Sommerabend spazieren. Als wir am Waldrand auf einer Bank pausierten, sprach sie:
”Kind, ich werde auch bald mal sterben. All zu lange werde ich nicht mehr leben. Ich hoffe nur, dass du mich nicht vergisst, wenn du mal selber Kinder hast und verheiratet bist.”
”Ach, Oma, du stirbst doch noch lange nicht. Du sollst davon auch nicht reden.”, wehrte ich ab.
Sie lächelte, senkte den Kopf und schnäuzte kurz in ihr umhäkeltes Taschentuch. Wir standen von der Bank auf und machten uns auf den Rückweg.
Ein trauriges Gefühl hatte von mir Besitz ergriffen. Mir wurde bewusst, eines Tages würde sie mich tatsächlich verlassen und ich glaubte zu wissen, was sie von mir hören wollte.
Voller Entschlossenheit hakte ich mich fest bei ihr unter und sagte:
”Omi, ich schwöre dir: Dich werde ich niemals vergessen können.”

Großmutters Nähmaschine steht heute bei mir in der Wohndiele. Obendrauf steht glänzend die weinrote Bonbondose mit den goldenen Ornamenten. Die Bonbons darin, werden niemals ausgehen, dafür werde ich sorgen, denn in einigen Monaten werde ich selber Großmutter sein.

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