Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Dezember 2005
Starke Bande
von Heidi Hoppe

Sie schafft mich, diese kleine Maus, gerade einmal vier Jahre alt. Aber jetzt im Moment sitzt sie ganz friedlich unter dem Tisch und spielt plappernd vor sich hin. Ich nutze ganz nach Großmutterart die Gunst der Stunde und stricke bunt geringelte Socken für das kleine Fräulein. Alina wollte ‚Höhle’ spielen. Sie schleppte unsere alte Sofadecke heran und bemühte sich, sie über den runden Tisch zu ziehen. Ich half ihr dabei. Nun hockt sie da unten mit ein paar Spielsachen, entrückt von dieser Welt. - Wie sich doch Dinge wiederholen. –

***

Dieser alte Esstisch mit Nussbaumfurnier gehörte meiner Großmutter. Sie war Schneidermeisterin. Als unser Kieferntisch plötzlich ein Bein von sich streckte, kam mir das Erbstück wieder in den Sinn. Peter, meine bessere Hälfte und ich trugen ihn vom Boden herunter ins Esszimmer. Wir stellten ihn an seinen Platz. Ich fuhr mit dem Zeigefinger auf der blanken Platte den Spuren nach, die meine Oma dort mit dem Ausrädelrädchen hinterlassen hatte. Pünktchen für Pünktchen schlängelten sich Wege über den Tisch und hinterließen dort eine Landkarte. Mit der Schneiderei hatte sie sich nach dem Krieg Essen und Trinken verdient. Sie ging von Bauernhof zu Bauernhof und nähte für die Familien. Als Gegenleistung erhielt sie Butter, Milch oder eine Scheibe Speck.
Oft nahm sie mich mit.

***

Wie schön Alina doch spielt. Ich komme flott voran mit den Socken, bis mich ein
„Rrriiinng!“ aus meinen Gedanken reißt.
„Rrriiinng!“ ein metallen klingendes Geräusch. Dieses Geräusch versetzt mich sogleich in meine Kindheit, direkt in das Zimmer meiner Großmutter. Ich sehe sie vor mir. Omi mit spärlichem Dutt und silbernem Haar. Sie war immer gepflegt gekleidet. Über ihrem Kleid trug sie eine Schürze. Darin befand sich ein riesengroßes Herrentaschentuch, blau kariert. Es war schmuddelig; und wie es stank! Jetzt hatte ich den Geruch wieder in der Nase. Ein undefinierbarer Cocktail von ranzigem Fett über Gänsebraten, Holunderbeersaft und gegorener Milch. Sie spuckte dann kurz und kräftig hinein und fuhr mir damit durchs Gesicht, um es zu säubern, oder um mir die Nase zu putzen. Da gab es keine Gnade. Diese Prozedur musste ich mehrmals täglich über mich ergehen lassen.

Trotzdem war ich gern bei Großmutter. Meine Eltern hatten eine kleine Bäckerei. Da gab es immer viel zu tun. Sie waren froh, wenn mich meine Oma hin und wieder in ihre Obhut nahm. Kaum bei ihr angekommen, kramte ich die hölzerne Rosinenkiste hervor die aus dem Bestand meines Vaters stammte. Sie beherbergte Bauklötze, beklebt mit Märchenmotiven. Man konnte sie ähnlich wie bei einem Puzzle zusammenlegen. Ausrangierte weiße Porzellantöpfchen mit feinem Goldrand, die die Aufschrift ‚Zucker’, ‚Mehl’ oder ‚Soda’ trugen, gehörten ebenfalls zu meinen Schätzen.

Wollte ich Kaufmannsladen spielen, legte Omi eine Decke über ihren Wohnzimmertisch und ich verkroch mich darunter. Ich räumte die Spielsachen zu Recht. Dann konnten die ersten Kunden kommen. Eine Kundin war Uschi, meine Lieblingspuppe mit blondem Echthaar. Das Haar hatte im Laufe der Jahre schon ziemlich gelitten. Es glich inzwischen dem Pelz einer räudigen Katze. Uschi gehörte früher meiner älteren Schwester. Wir spielten hin und wieder Friseur und wollten Uschi eine schicke Frisur verpassen. Als ich damals an ihren Locken herumschnippelte, bildete ich mir ein, die Haare würden nachwachsen. Wenn die Puppe den Kaufmannsladen betrat, nahm ich einen Teelöffel und ratschte damit an der dicken Metallfeder, die sich unterhalb der Tischplatte befand, um die Einlegeplatten zusammenzuhalten. „Rrrinnggg“ die Ladenklingel ertönte. Das Verkaufsgespräch konnte beginnen. Ich fühlte mich wohl, fühlte mich geborgen in diesem Versteck, spürte die Anwesenheit meiner geliebten Großmutter.

Oft blieb ich über Nacht. Omi hatte nur ein Zimmer. Es war Küche, Wohn- und Schlafzimmer zugleich. Sie schlief in einem dunkel gebeizten Wand-Klappbett und ich auf dem Sofa. Wenn es Abend wurde, zog meine Großmutter die vergilbten Rollos herunter. Ich machte Katzenwäsche in einer Waschschüssel, zog mein Nachthemd an und legte mich hin. Da Omi nur dieses eine Zimmer hatte, durfte ich so lange aufbleiben, bis auch sie ins Bett ging. Sobald ich auf dem Sofa lag, schön eingekuschelt unter einer dicken Federdecke, setzte sie sich zu mir. Wir beteten gemeinsam. „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Amen.“
Dann bekam ich einen Gute-Nacht-Kuss. Omi löschte das Licht. Es war stockdunkel. Ich spitzte meine Ohren und lauschte den Gebeten meiner Großmutter. Während sie sich auszog murmelte sie vor sich hin, zuerst das Vaterunser, dann das Glaubensbekenntnis, darauf folgte ‚Der Herr ist mein Hirte’. Ich hörte wie sie sich auszog. ‚Ratsch’. Sie zog den langen Reißverschluss ihres Kleides herunter. Dann löste Omi die Knöpfe ihres Strumpfhalters. Zwei vorn, zwei hinten, an jedem Bein. „Klack, klack, klack, klack’, klack, klack, klack, klack’, sie legte sie auf die Glasplatte ihres Nachttisches. In diese Geräusche mischte sich das Gemurmel ihrer Gebete. Zum Schluss – das war am Spannendsten – ein gleichmäßiges Gnucken, insgesamt vierundzwanzigmal. Es entstand beim Öffnen der Haken und Ösen ihres fleischfarbenen Korsetts das sich mühte, ihre üppigen Formen ein wenig zu bändigen. Jetzt wurde mit einem leisen Stöhnen das Federbett zur Seite geworfen und Großmutter legte sich in das quietschende Bett. Ich hatte jedes Mal ein wenig Angst, dass es zusammenkrachen würde. Stand es doch nur auf zwei beweglichen Stützen, die vor dem Herunterklappen des Bettes in die richtige Stellung gebracht werden mussten. Ich lag immer noch gebannt da und lauschte. Jetzt mussten gleich die letzten Worte kommen. Omis Gebet, welches sie zum Schluss dahinmurmelte, dachte sie sich immer selbst aus. Sie sprach darin von den Erlebnissen des vergangenen Tages, aber die letzten Worte waren immer gleich. Sie lauteten: „Ich leg mein Herz in deine Hände und das meiner kleinen Rita auch.“ Kurz danach schlief ich seelenruhig ein.

***

„Rrriiing“ - Alina spielt Kaufmannsladen, wie ich damals unter diesem Tisch. Gerade in diesem Moment fühle ich mich mit meiner Großmutter verbunden.

-Du bringst mir meine Kindheit zurück, lässt mich die Wärme, die Herzlichkeit spüren, die mir meine Oma geschenkt hatte vor vielen Jahren und die ich an dich weitergebe. Du hörst meine klappernden Stricknadeln und da ist es wieder, dieses
„Rrriiing“ -

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