Ach, Mum, dachte Julia. Mum und Mamchen. M. und M. – ihre beiden verrückten Mütter. Da hatten sie ihr doch eben, in der Abflughalle, noch gesagt, wo sie „so eine Art Testament“ finden würde – die letzte Wahrheit.
In einer Flasche Sambuca, die sie gestern beim Kaffee mit ihren Freundinnen geleert hatten. Sambuca mit Fliege – ihr Lieblingsgetränk. Anislikör mit einer Kaffeebohne. Ausgespült und mit einem länglichen, zusammengerollten Umschlag gefüllt stünde die Flasche jetzt auf der Anrichte. Eine Flaschenpost.
Zu Hause drehte die junge Frau das gläserne Behältnis auf den Kopf, schob die Spitze ihre kleinen Fingers in den Flaschenhals und puhlte behutsam das Dokument heraus, um es zu lesen.
Bremen, Juni 1984
Hallo Rob,
Es gibt Frauen, die viele Briefe schreiben, so wie ich diesen jetzt, und sie nie abschicken. Was ich mit dem hier mache, weiß ich auch noch nicht – wegwerfen werde ich ihn diesmal nicht. Mehr als ein Jahr ist das her mit uns, weißt Du noch?
Liebe auf den ersten Blick, und das im Frauenbuchladen, wo ich die Urlaubsvertretung für meine Schwester übernommen hatte. Später das „Abfahrerfest“, bei dem ich Bücher verkaufte, Du Keyboard spieltest, und anschließend fuhren wir tatsächlich ab – aufeinander.
Letzte Nacht habe ich wieder von Dir geträumt, Du musst wissen, seit ich aus dem Krankenhaus zurück bin, sind meine Nächte sehr unruhig, aber anders als damals: ich erwache oft schweißgebadet, das Laken nass, Haare und Nachthemd kleben am Körper, und ich habe Alpträume. Ich habe eingesehen, dass Du mit ein paar Behauptungen in Deinem letzten Brief recht hattest – und gerade deshalb war ich so betroffen, dass ich ziemlich aggressiv reagiert und versucht habe, ebenso Deine wunden Punkte zu treffen. Was mir ja auch gelungen ist. Am meisten getroffen hat mich, dass Du mich etwas “weniger zerbrechlich, selbstbewusster und autonomer“ wolltest.
Ich hätte mich nicht so gehen lassen sollen, ich weiß. Wenn ich heute daran denke, wie ich meinen ganzen Stolz aufgegeben habe,um vielleicht ein Wiedersehen zu erzwingen... Aber dieser Sommer mit Dir war einfach zu schön!
Zum Beispiel, wenn ich im Buchladen meiner Schwester hinterm Schreibtisch saß und Du kamst plötzlich im Käfercabrio vorgefahren, grinstest mir schon durch die Scheibe zu, mit einem lila Tuch um die Stirn, und bist dann in den Laden gestürmt, „um den Hund abzuholen“. Die Frauen starrten uns beide an, Du lachtest mir wieder zu, und ich errötete bis unter die Haarwurzeln, hielt krampfhaft den neuesten „Lesbenstich“ verkehrt herum fest und versuchte, unpersönlich zu lächeln, aber meine Augen glitzerten, und die Wangen glühten vor Verlegenheit. Die Frauen haben gekichert, und ich hab geglaubt, über mich – aber später, als wir darüber sprachen, sagten sie, sie hätten darüber gelacht, wie Du immer „in den Laden geschlichen“ seiest.
Wenn ich oben in der Wohnung meiner Schwester war, habe ich aufgeräumt und dabei oft die Platte gehört, Joan Armatradings „Whatever’s for Us“, die Platte, die Du unbedingt hast ausleihen wollen, als Du mich zum ersten Mal gesehen hattest. Eine Gelegenheit, mit hoch in die Wohnung zu kommen. Wir haben sie noch oft gehört, aber Du hast sie nie mitgenommen. Manchmal habe ich abends das Telefon angestarrt und überlegt, ob ich Dich anrufen soll, aber das war nie ein Problem: meist hat es geklingelt, ehe ich lange überlegen konnte, und Du hast atemlos und hastig, aber ganz klar und selbstsicher gefragt “sehen wir uns heute?“, und „ich komm gegen zehn bei Dir vorbei, okay?“ Wir haben uns immer „gesehen“.
Nur einmal habe ich gesagt, ich bräuchte eine Pause, eine Nacht allein – abgesehen vom Anfang, wo ich Panik gekriegt hatte und Du mich überreden musstest, Dich wieder zu treffen. Da hast Du gesagt, Du hättest solche Sehnsucht, das „Ausmaß der Katastrophe“ sei Dir gerade klar geworden, ich solle doch bitte kommen, Du würdest mich auch ganz in Ruhe lassen. Ich könnte in Dein Bett gehen, Du würdest arbeiten, mir einen Tee kochen und mich nicht anrühren. Da bin ich doch zu Dir gefahren, Du hast mir das schwarze Bett aufgedeckt und Tee hingestellt, hast Dich an den Schreibtisch gesetzt, und ich hab versucht, im Bett zu schreiben. Aber Dein weißlackierter Schreibtisch steht gleich neben dem Bett, und ich musste Dich zwischendurch immer ansehen, wie Du konzentriert da gesessen hast, an Deiner filterlosen Gauloise gezogen und das Papier mit Deiner winzigen fahrigen Schrift bedeckt.
Die dunklen Haare fielen Dir auf die Augenbrauen, die Wimpern warfen Schatten auf Deine hohen Wangenknochen, und ich konnte nicht aufhören, immer wieder zu Dir hin zu gucken... Mit dem „nicht anfassen“ war es natürlich wieder nichts.
Jetzt merke ich, dass ich beim Schreiben in eine Euphorie geraten bin, als erlebte ich das alles noch einmal oder als sei es erst gestern gewesen. Das tut gar nicht gut. Ich will die Geschichte ja nicht wieder aufrollen: unsere langen Nachmittage an den Forellenteichen, Deinem Lieblingsausflugsziel, oder Deinen Besuch hier, als es die ganze Zeit regnete, wir uns drei Tage und Nächte liebten, redeten und in Kneipen sehen ließen, und Du zum Abschied sagtest: „Sei nicht traurig, du! Wir sehen uns doch wieder, musst nur mal a weng weiter gucken!“
Aber wir haben uns nie wieder gesehen.
Und das werden wir auch in Zukunft nicht.
Leb wohl, Rob.
P.S: Du kannst Dich bestimmt an Marie erinnern, die mich in der Wohnung meiner Schwester einmal übers Wochenende besucht und mit einem Blick auf Dich, als wir uns zufällig trafen, etwas spitz bemerkt hat: „Wahre Schönheit kommt von innen“?
Nun, Marie war nicht nur meine Freundin und künftige Geschäftspartnerin. Wir waren ein Liebespaar, wie Du vielleicht geahnt hast. Fiel es Dir deshalb so leicht, mich gehen zu lassen?
Marie hat mir den „Ausrutscher“ mit Dir verziehen und mich überredet, Dich nicht mehr anzurufen. Die harten Worte in meinem letzten Brief wären ohne Maries Einwirkung nie so aus meiner Feder geflossen.
Wir haben jetzt einen kleinen Buchladen zusammen – und eine Tochter. Julia ist 3 Monate alt. Sie kann schon den Kopf heben und lächeln – ein sehr breites Lächeln für ein Baby.
Vielleicht werden wir ihr sagen, dass Marie ihre richtige Mutter sei. Sie hat ja tiefliegende, laubgrĂĽne Augen und ist groĂź und schlank wie Du, auĂźerdem sorgt sie viel besser fĂĽr Julia.
Aber wenn mein Kind einmal alt genug ist, nach einem Vater zu fragen – was sage ich ihr dann?
Ob ich ihr eine Kopie dieses Briefes zeige?
Mona
Die junge Frau zündete sich nachdenklich eine Zigarette an. Als Tochter eines Lesbenpärchens aufgewachsen zu sein, war schon seltsam genug. Über ihren Vater hatten die beiden ihr nur erzählt, er sei nach Australien ausgewandert. Den Namen wusste sie jetzt – sie fuhr den Computer hoch, um die Suchmaschine für sich arbeiten zu lassen. Dann widmete sie sich dem zweiten Brief, der in dem Umschlag gewesen war.
Bremen, Juni 2004
Meine liebe Julia,
wenn Du dies liest – eine Kopie von Monas Brief, den sie mir überlassen hat, lege ich dazu, den kennst Du jetzt also – sind Deine Mütter entweder tot oder, wie es schon lange unser Wunsch ist, in sonnigere Gefilde ausgewandert Du wirst es bemerkt haben: Mona schreibt in ihrem “P.S.“ nicht die Wahrheit. Sonst wärst Du ja sechs Wochen älter!
Sie hat Deinem Vater, nachdem sie Erlangen verlassen hatte, so sehr nachgetrauert, dass ich mich veranlasst sah, im September 83 dorthin zu reisen, um mit Rob zu reden. Ich wollte ihn besser kennen lernen und herausfinden, was er tatsächlich für Mona empfindet (hätte sie noch eine Chance bei ihm gehabt, hätte ich sie frei gegeben). Sehr nett ist er ja, Dein Erzeuger, aber ein wenig oberflächlich. Mona hat sich wohl von Äußerlichkeiten blenden lassen. Mir war schnell klar, dass Rob sie nur benutzt hat, um über eine gerade beendete Beziehung hinweg zu kommen. Du weißt, dass Bremen und E. an entgegengesetzten Enden unseres Landes liegen, und da ich wenig Geld und Rob nur ein Zimmer hatte, musste ich da übernachten. Monas Schwester sollte von meinem Besuch nichts erfahren. So ist es leider nicht beim Reden geblieben... Du weißt auch, dass ich mir aus Männern nie etwas gemacht habe, und die Nacht mit Rob hat daran nichts geändert. Was Mona an ihm fand, konnte ich nicht nachvollziehen – aber für sie war es wahrscheinlich anders, das „Kuscheln“ mit Deinem „Vater“. Ich will nicht ins Detail gehen – Deine Zeugung war für mich eine eher unbefriedigende Angelegenheit, geschah aber nicht gegen meinen Willen. Wie wir Dir immer gesagt haben, bist Du wirklich meine Tochter!
Mona hat das zuerst nicht wahrhaben wollen. Nach Deiner Geburt war sie mit schweren Depressionen im Krankenhaus und bildete sich ein, sie habe Dich geboren.
Ihr habe ich verschwiegen, wer Dein Erzeuger ist, habe einen One-Night-Stand im Suff mit einem Unbekannten erfunden, als sie wieder klar im Kopf und ihr bewusst war, dass ich Deine echte Mama bin.
Deine Mum, Marie
Die junge Frau lächelte, schüttelte die dunklen Haare aus der Stirn und wendete sich dem Computer zu, um nach ihrem dritten Elternteil zu suchen.
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