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Dezember 2005
Fräulein Spanke
von Marion Pletzer

Durchgefroren wartete ich an der Haltestelle auf den Bus. Ein kalter Wind pfiff um die Häuser und ich stopfte die Hände ein wenig tiefer in die Taschen meines Mantels. In diesem Moment entdeckte ich die alte Frau im Gewühl der Menschen, die durch die Einkaufsstraße strömten. Sie ging langsam, aber unbeirrt ihren Weg, so als wäre sie allein auf der Welt. An ihrem Arm baumelte eine braune Handtasche. Ich starrte sie an.
‚Fräulein Spanke’, schoss es mir durch den Kopf. Mir war klar, dass sie es nicht sein konnte. Sie lebte sicher längst nicht mehr. Dennoch erinnerte mich alles an sie. Der mausgraue Mantel, der ihren Körper verhüllte und vor dem Hintergrund des Asphalts fast verschwinden ließ. Der leicht gebückte Gang und die Art, wie sie den Kopf beim Gehen nach vorne streckte. Sie kam näher. Ihr Blick huschte unruhig hin und her wie bei einem Vogel.
Ohne mich anzusehen ging die Frau an mir vorbei. Ich sah ihr nach, bis sie vom anonymen Grau der Stadt verschluckt wurde. Mein Gott, wie lange hatte ich nicht mehr an Fräulein Spanke gedacht?

Auf einmal überrollten mich Erinnerungen an längst vergessene Zeiten.
Ich war wieder dreizehn Jahre alt und hockte an einem warmen Frühlingstag auf der breiten Treppe, die zur Haustür des schäbigen Hochhauses führte, in dem ich mit meinen Eltern und Geschwistern lebte. Die Schultasche klemmte zwischen meinen Beinen und ich beobachtete die Umgebung.
‚Die Kleinen sind beim Schulturnen’, dachte ich vergnügt, zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern und genoss diesen Moment der Freiheit. Die nächste Stunde gehörte nur mir allein. Eilig brachte ich den Ranzen in die Wohnung und lief wieder hinunter. Nachbarskinder hatten Himmel und Erde auf den Bürgersteig gemalt. Zwar fand ich mich längst zu erwachsen für dieses Spiel, hüpfte aber doch kichernd in den Kästchen herum. Dann schlenderte ich weiter die Straße hinunter. In diesem Moment bog Fräulein Spanke um die Ecke. Sie trug zwei schwere Plastiktüten. Mit ihrem typisch gebeugten Gang schlurfte sie auf mich zu. Ich fürchtete mich ein wenig vor ihr. Ihr spitzes Vogelgesicht wirkte immer streng. Nie sah ich sie lächeln. Hastig wandte ich mich ab, wurde aber von ihrer hohen Stimme aufgehalten.
„Hallo, Miriam!“, rief sie.
‚Mist’, dachte ich und drehte mich langsam wieder um.
„Guten Tag, Fräulein Spanke“, antwortete ich höflich.
„Sei doch so gut und hilf mir mit den Einkaufstüten, ja? Das Tragen fällt mir schwer.“ In meinem Kopf meldete sich eine Stimme:„Los, hau einfach ab. Soll sie ihre Taschen doch selber tragen. Bist du etwa ihr Laufbursche? Denk an die kostbare freie Zeit, die sie dir wegnehmen will.“ Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe, schwankte zwischen dem Impuls der Stimme nachzugeben und der Furcht vor Papa, der mir Respekt und gutes Benehmen eingebläut hatte. Was, wenn sie mich verpetzte? Ich seufzte leise, nahm Fräulein Spanke eine der Taschen ab und folgte ihr ins Haus. Wir stiegen die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, die zwei Etagen über unserer lag. Als sie die Tür öffnete, schlug mir ein bekannter Geruch entgegen. Bei Oma Herta roch es genauso – leicht muffig mit einem Hauch von Klosterfrau.
„Komm herein, Kind. Sicher habe ich noch ein paar Kekse im Schrank.“
„Danke, aber ich muss die Zwillinge abholen“, entgegnete ich schnell.
„Dafür ist noch Zeit. Die beiden haben doch Turnen heute.“ Sie zwinkerte mir zu. Woher wusste sie das? Ich fühlte mich unbehaglich.
„Stell die Tüte auf den Tisch. Möchtest du einen Kakao?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, schob sie mich auf die hölzerne Eckbank. Während sie Milch in einen Topf füllte, fiel mein Blick auf die Küchenuhr. Gebannt verfolgte ich den Sekundenzeiger, der unermüdlich seine Runden drehte. Meine freie Zeit verflog unaufhaltsam.
„Greif zu!“ Fräulein Spanke riss mich aus meinen Gedanken und stellte eine Tasse mit dampfendem Kakao und einen Teller mit Keksen auf den Tisch.
„Danke“, sagte ich und pustete den dünnen Film auseinander, der sich auf dem Getränk gebildet hatte. Dann nahm ich einen kleinen Schluck.
„Mmh, lecker“, sagte ich überrascht. Oma Hertas Kakao schmeckte immer so fad. Dieser war richtig schokoladig und süß.
„Das freut mich.“ Fräulein Spanke lächelte und ich fand, dass sie auf einmal ganz freundlich aussah. „Es war nett von dir, mir zu helfen.“ Ich nickte und schlürfte weiter an dem Kakao.
„Hoffentlich halte ich dich nicht gerade von etwas Wichtigem ab“, fuhr Fräulein Spanke fort.
„Nein“, log ich und schaute unauffällig zur Uhr. Nur noch dreißig Minuten.
„Was machst du denn so am Nachmittag, wenn die Schule aus ist?“ Ich zuckte mit den Schultern.
„Nichts Besonderes. Schulaufgaben, auf Dirk und Beate aufpassen.“
„Deine Eltern kommen ja immer erst spät abends von der Arbeit. Musst du auch kochen?“, erkundigte sie sich.
„Ja sicher“, antwortete ich. „Ich geh einkaufen, räum die Wohnung auf und wasche Wäsche. Meine Eltern verlassen sich auf mich. Ich bin die Große und Vernünftige, sagt Mama immer.“ Stolz richtete ich mich auf.
„Ein fleißiges Mädchen, das muss ich sagen. Damit bist du sicher den ganzen Tag beschäftigt.“ Anerkennend nickte sie.
„Ja, schon.“ Mein Gesicht wurde rot vor Verlegenheit. Hastig nahm ich einen Keks und knabberte daran herum.
„Und was ist mit dir, Miriam? Was möchtest du?“, fragte sie mich plötzlich.
„Ich?“ Mit aufgerissenen Augen sah ich sie an.
„Ja, du. Was möchtest du?“ Ich schluckte. Tränen schossen mir in die Augen.
„Keine Ahnung“, stotterte ich. „Es ist spät. Die Kleinen warten.“ Ich sprang auf und rannte aus der Wohnung.
Ich lief und lief, bis zu dem kleinen Park, der in der Nähe lag. Meine Schritte wurden langsamer und schließlich setzte ich mich unter einen großen Baum. Seine dünnen, biegsamen Zweige reichten fast bis zum Boden und wiegten sich im Wind. Die Blätter raschelten leise bei jeder Bewegung. Ich fühlte mich sicher, wie in einem Versteck.

Was möchtest du? Die Worte hallten in meinem Kopf wider.
„Sie interessiert sich für mich, “ flüsterte ich. „Nur für mich.“
Bald darauf zogen wir fort und ich sah Fräulein Spanke nie wieder.

Die Bilder aus der Vergangenheit verloschen. Aber noch immer
spürte ich das Gefühlschaos, in das mich Fräulein Spankes kurze, einfache Frage als Kind gestürzt hatte. Erst viel später war ich in der Lage, die vielfältigen Empfindungen zu ordnen, die in diesem Moment auf mich einströmten. Die unterdrückte Wut auf Mama und Papa, die ständig beschäftigt waren und mir nie zuhörten. Trauer und Enttäuschung, die sich allmählich in Resignation verwandelt hatten und mich abstumpfen ließen.
Aber auch das Glücksgefühl, das durch Fräulein Spankes Worte geweckt worden war.
Ein Lächeln huschte über mein Gesicht als mir einfiel, dass ich dieses wundervolle Gefühl wie einen Schatz gehütet hatte.
Wenn ich glaubte, in Pflichten und Aufgaben unterzugehen, rief ich es mir in Erinnerung. Das half mir, die schweren Zeiten zu überstehen. Ohne Fräulein Spanke wäre mein Leben vermutlich anders verlaufen.
Wie konnte ich sie nur völlig vergessen?
Am nächsten Tag machte ich mich auf die Suche nach ihr.

Fräulein Spankes Grab war vernachlässigt. Nur einige immergrüne, niedrige Sträucher wucherten darauf. Auf dem Grabstein wuchsen Moos und Grünspan, die Schrift war schwer zu entziffern.
Johanna Spanke, geboren 24.09.1911, gestorben 15.04.1993.
Beladen mit Harke, Gartenschere und verschiedenen Pflanzen ging ich bald darauf erneut zum Friedhof. Ich schrubbte den Grabstein sauber, schnitt den Lebensbaum herunter und riss die alten Sträucher heraus. Nachdem ich das Unkraut entfernt hatte, pflanzte ich eine blühende Azalee, einen kleinen Rosenstrauch und Phlox als Bodendecker.
Nach zwei Stunden intensiver Arbeit, ging ich einige Schritte zurĂĽck und betrachtete zufrieden mein Werk.
Einen Moment schaute ich still auf das Grab.
„Ich habe Ihnen nie gedankt. Vielleicht kann ich hiermit ein wenig gutmachen“, sagte ich leise. „Bis bald, Fräulein Spanke.“

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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