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Dezember 2005
“Paul”
von Stefan Schweikert

“Eisenbahn”, rief Paul und lief los. Sein Blick galt allein dem weihnachtlich geschmĂŒckten Schaufenster des SpielwarengeschĂ€fts auf der anderen Straßenseite. Rebecca vermisste plötzlich die WĂ€rme seiner kleinen Hand in der ihren. Sie drehte sich um, erblickte den LKW, der wie beseelt von dem Wunsch zu töten auf ihren Sohn zuraste. Mit einem beherzten Sprung wollte sie ihn aus der Bahn des dreißig Tonnen schweren Projektils stoßen, doch ihre FĂŒĂŸe schienen mit dem Gehweg verwachsen. Der Fahrer hupte, Bremsen quietschten, die GerĂ€usche vermischten sich zu einem entsetzlichen Schrei. Einem Schrei, den Paul nicht mehr ausstoßen konnte. Sein sechsjĂ€hriger Körper wurde erfasst und wie eine Gliederpuppe auf die Gegenfahrbahn geschleudert.

Seit einem Jahr der gleiche Traum! Rebecca presste das Gesicht ins Kissen, schluchzte, glaubte ganz fest, wenn es ihr gelĂ€nge, eines Nachts Paul zu retten, wĂŒrde sie am Morgen sein Lachen aus dem verwaisten Kinderzimmer hören: “Mama, machst du mir Schoko-MĂŒsli zum FrĂŒhstĂŒck?”
Sie stand auf, zog die schlichte schwarze Kombination an, ging zum Friedhof und legte Blumen auf Pauls Grab.
Obwohl nicht religiös – wie soll man zu einem Gott beten, der einem den einzigen Sohn am Nikolaustag nimmt -, betrat Rebecca die Friedhofskapelle, setzte sich in die erste Reihe und betrachtet den leidenden Christus am Kreuz. HĂ€tte er zweitausend Jahre in die Zukunft geblickt, wĂŒrde er sich noch einmal fĂŒr diese missratene Menschheit opfern?, fragte sie sich.
Mit geschlossenen Augen, sog sie den schwachen Geruch von Weihrauch ein. Die Stille tat ihr gut.

Damals, vor acht Jahren, hatte Rebecca Klaus nicht eingeweiht, als sie die Pille absetzte. Er sagte nichts, als Rebecca ihm “Du wirst Papa!” eröffnete. “DU wolltest das Kind und hast MICH als Samenspender benutzt! Danke!”, stand eine Woche spĂ€ter auf einem Zettel an seinem leeren Kleiderschrank. Die Freunde und Kollegen schĂŒttelten den Kopf: “Mit fĂŒnfunddreißig noch Mutter – O.K. Aber dafĂŒr die Karriere opfern? Rebecca, du bist auf dem Sprung nach ganz oben! Wenn du dich jetzt mit einem Balg belastest, lebst du in fĂŒnf Jahren von Sozialhilfe. Überlass das Kinderkriegen den Assos. Wir sind fĂŒr Höheres geschaffen.” Rebecca lachte: “Wann, wenn nicht jetzt? Außerdem leben wir bald im einundzwanzigsten Jahrhundert. Kind und Karriere sind kein Widerspruch!”
Nach drei Jahren wollte sie zurĂŒck in ihren Job und musste feststellen, dass fĂŒr eine vierzigjĂ€hrige Alleinerziehende im Management kein Bedarf war.
Rebecca bedauerte es nicht lange, tauschte die Designerklamotten gegen Konfektion von C&A oder H&M und war trotzdem glĂŒcklich, es gab ja Paul.
Jetzt gab es ihn nicht mehr.

“Wenn du eine Entscheidung noch einmal treffen könntest, welchen Weg wĂŒrdest du gehen?”, fragte eine Stimme, kalt wie ein elektronischer Ansagetext. “Nach all dem, was du jetzt weißt.”
Rebecca schreckte auf. War sie eingeschlafen? Da war niemand. Nur Christus schaute weiterhin teilnahmslos zu ihr hinab.
“Ich biete dir einen Weg, einen TĂŒr, eine Gelegenheit die Zeit zurĂŒckzudrehen”, fuhr die Stimme fort. Rebecca war sicher, dass sie nur in ihrem Kopf existierte, trotzdem kam das Echo von den WĂ€nden zurĂŒck: “Ein Weg, eine TĂŒr, eine Gelegenheit!”
Sie erhob sich, fröstelnd, glaubte Schwefel unter dem Weihrauch zu riechen.
“Geh zum Portal hinaus und alles bleibt, wie es ist”, sagte die Stimme. “Ich biete dir jedoch eine anderen Weg!” In einem Seitenschiff – die Kapelle erschien plötzlich groß wie eine Kathedrale – öffnete sich eine niedrige Pforte.
Rebecca ging darauf zu, zögerte, schaute noch einmal zurĂŒck. “Die Chance alles ungeschehen zu machen?”, fragte sie.
“Die Gelegenheit eine Entscheidung noch einmal zu treffen”, erwiderte die fremde Stimme.
GebĂŒckt trat Rebecca durch die Pforte. “WĂ€hle weise!”, mahnte die Stimme, als sich die TĂŒr hinter ihr schloss.
Nieselregen, graue Wolkenfetzen am Himmel, wie zuvor. Rebecca schĂŒttelte den Kopf. Die Stimme schwieg. Alles nur ein Tagtraum, geboren aus MĂŒdigkeit, Trauer und unterdrĂŒckten religiösen GefĂŒhlen?
“Nach Hause, ein heißes Bad”, dachte sie, zog den Mantel enger und eilte zwischen den GrĂ€bern hindurch.
Dann wurde ihr bewusst, dass auf den Grabsteinen zwar Daten waren, aber keine Namen, sondern kurze Texte wie: “Rebecca entschließt sich, die Hausaufgaben zu machen”, “Rebecca kauft das rote Kleid”, “Rebecca schlĂ€ft mit Klaus”, “Rebecca setzt die Pille ab”.
Eisblumen am Fenster gleich, kroch die KĂ€lte ihren RĂŒcken hinauf. Wie viele Entscheidungen musste man in seinem Leben treffen, ahnungslos, wohin sie fĂŒhren?
Ihr Blick schweifte ĂŒber das GrĂ€berfeld. Reihe um Reihe erstreckte es sich bis in die Unendlichkeit. Und an allen Steinen waren TĂŒrklinken. Plötzlich erschien Rebecca der Friedhof wie ein bizarrer Adventskalender, bei dem sie nur ein TĂŒrchen öffnen durfte, ein einziges.
“WĂ€hle weise!” Die Stimme war wieder da.
Rebecca fand, was sie suchte: 6. Dezember 2004, stand auf dem Stein, “Paul ruft: ‚Eisenbahn‘. Rebecca lĂ€sst seine Hand los.”
“Nur ein Augenblick und alles wird gut!”, sagte die Stimme.
Ihre Hand schwebte ĂŒber dem TĂŒrgriff.
”Ein Chance, das Leid zu beenden!”
Ihre Finger krĂŒmmten sich.
“Eine Gelegenheit, die Zeit zurĂŒckzudrehen!”
Rebecca zog die Hand zurĂŒck und ging weiter. Aufmerksam las sie weiterhin die Texte. Vor einem anderen Stein blieb sie stehen.
Die Stimme schien ĂŒberrascht: “Oh! Eine interessante Wahl!”
Dieses Mal zögerte Rebecca nicht. “Ein Weg, das Leid zu vermeiden”, flĂŒsterte sie.
Es dauerte wirklich nur einen Augenblick.

Rebecca betrachtete sich im Spiegel. FĂŒr ihre FĂŒnfundvierzig sah sie in dem nagelneuen Chanelkleid verdammt gut aus. Ob Klaus sie deshalb oder ihres Geldes wegen nicht fĂŒr eine JĂŒngere verließ, spielte keine Rolle.
Vor acht Jahren war der Wunsch nach einem Kind fast ĂŒbermĂ€chtig geworden. Klaus war dagegen, Kollegen und Freunde rieten ab, letztlich war es eine unbestimmte Angst, die das Begehren unterdrĂŒckte. Zu lieben heißt leiden, und Rebecca hatte das GefĂŒhl, in einem anderen Leben genug gelitten zu haben.
Aber tief in ihr blieb die Sehnsucht, diese Entscheidung noch einmal treffen zu dĂŒrfen. In TrĂ€umen, aus denen Rebecca auf einem trĂ€nennassen Kissen erwachte, sah sie das traurige Gesicht eines Jungen. Er hatte sogar einen Namen: Paul.

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