Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Dezember 2005
Anders
von Gabriele Maricic-Kaiblinger

Als er aufwachte, war alles anders.
Er stand auf, öffnete das Fenster. Fremdes, grünes Hügelland breitete sich vor ihm aus. Unten standen zwei Frauen. Eine schaute zu ihm hinauf, grüßte: „Good morning, John“.
Erschrocken trat er vom Fenster zurück.
Da stimmte doch etwas nicht! Ein übler Scherz von seinen ausgeflippten Freunden!?
Zu zehnt hatten sie gestern Norberts Junggesellenabend gefeiert. Vielleicht hatte er ja einen Schwips gehabt, aber bestimmt nicht mehr! Um zwei Uhr früh war er nach Hause gegangen, hatte sich schlafen gelegt. Und nun wachte er auf und befand sich an einem fremden Ort.
Sollten seine Freunde ihm etwas in ein Getränk gegeben, ihn dann heimlich aus seiner Wohnung geholt und hierher gefahren haben? Die Stimmung war ausgelassen gewesen gestern und er hatte noch damit geprahlt, mit jeder Lebenslage fertig werden zu können. Eine Probe?
Er kannte die beiden Frauen unter seinem Fenster nicht, aber vielleicht einer seiner Freunde? Aber warum sprachen sie Englisch? Irgendwie ergab dieser Scherz oder diese Probe gar keinen Sinn. Warum heute?! Wo doch Norbert heiratete und sie alle eingeladen waren.
Er nahm die Kleider vom Stuhl, zog sie gedankenverloren an und merkte, dass die veraltete Kleidung gar nicht seine war. Er seufzte tief, verließ den Raum. Vor ihm ein lag ein langer Gang, an dessen Ende eine Holztreppe nach unten führte. Als er vor die Haustüre trat, standen die beiden Frauen noch da. Ihre Kleidung war ebenfalls einfach und alt. Fünfziger Jahre? Die beiden unterhielten sich auch untereinander englisch.
„Wer hat euch angestiftet? Bestimmt war es Hermanns Idee! Meint ihr nicht, es sei Zeit, den Spaß zu beenden?“ fuhr er die beiden – nur verständnislos blickenden – Frauen an.
„Was ist los mit dir? Wieso sprichst du Deutsch?“
Gut, wirklich gut, dachte er, aber langsam zu blöd.
Er wiederholte seine Worte auf englisch.
„Was meinst du? Wovon sprichst du da?“ Die Frau starrte ihn an.
„Ich muss zur Hochzeit! Wie komme ich hin?“
„Wohin?“
„Nach Innsbruck.!“
„Wo soll das liegen?“
„ÖSTERREICH, verstehst du!? Wie also komm’ ich nun von hier nach Innsbruck? Ha! So weit werden sie mich wohl nicht weggebracht haben.“
„Österreich!? Mit dem Schiff vielleicht.“
„Schiff? Schiff! Wo bin ich hier?“
„John“, rief nun die Frau und Tränen traten ihr in die Augen. „John, was ist nur los mit dir? Bist du krank?“
„Wo bitte bin ich hier?!“
„In der Nähe von London, John. In unserem Elternhaus. Hast du deine Heimat über Nacht vergessen?“
„London? Ich bin in England?!“ Er war verblüfft. Das konnte kein normaler Scherz mehr sein.
„Soll ich ... soll ich vielleicht den Doktor anrufen?“ fragte die Frau zaghaft.
„Doktor ...? Eine Zeitung. Ja! Eine heutige Zeitung. Ist eine da?!“
„Sie liegt drinnen. Auf dem gedeckten Frühstückstisch. Wie immer.“
John, alias Robert Kircheler, stürmte ins Haus, öffnete die nächstbeste Tür und war tatsächlich in der Küche angelangt.
„Hey“, schrie er und lief mit der Zeitung wieder vors Haus. „Ich wollte eine Zeitung von heute, nicht diese uralte!“ „Schau doch aufs Datum!“
„Tu’ ich ja. Hier“, sagte er und hielt ihr die Zeitung unter die Nase. „16.4.1955.“
„Ja und ... ?! Was glaubst du, was wir heute haben?!“
„Den 17. 4. 2005!“ sagte er, seine maßlose Wut nur mühsam unterdrückend.
„Jetzt ist’s genug, sprich mit mir, wenn du wieder normal bist!“
Die Frauen gingen davon. Er starrte ihnen nach, verwirrter als zuvor.
Ich kann doch nicht in der Zeit zurückversetzt worden sein, und in ein anderes Land ... nein, so was gibt’s doch gar nicht! Es musste einfach ein ... ein gut inszenierter, aber böser Scherz sein.
Von der Anhöhe, auf der er sich befand, blickte er ins Tal hinunter. Ihm fiel auf, dass fast alle Häuser des Dorfes gleich groß -mit roten Backsteindächern- aussahen. Auf der gegenüberliegenden Seite ebenfalls ein Hügel, auf dem sich ein Kloster befand.
Nach zwanzig Minuten kam er unten an. Kleine Läden, ein Dorfbrunnen, ältlich gekleidete Menschen. Aus einer Bäckerei sah er die eine Frau kommen.
Also gut, dachte er bei sich, wenn ich wissen will, was hier gespielt wird, muss ich vorerst mitspielen.
Er ging der Frau nach, tippte ihr auf die Schulter.
„Tut mir leid wegen heute morgen. Ich hatte einen so realistischen Traum, dass ich tatsächlich glaubte, ich sei ein anderer, als ich aufwachte. Ich ... ich habe einiges vergessen ... sogar deinen Namen ...“
Die Frau lächelte zaghaft. „Ann. Ich bin Ann ... deine Schwester.“
Er hakte sich bei ihr unter und sie erledigten Einkäufe. In jedem Geschäft wurde er freundlich begrüßt. Was ihn wunderte war, dass keiner dieser Menschen erstaunt war über ihn. Dass sie taten, als wäre er schon immer hier gewesen. Das konnte doch kein Scherz mehr sein! Ein ganzes Dorf spielte wegen ihm Theater?! Nein, dies musste eine Wirklichkeit sein – eine grausame, makabre Wirklichkeit!
Voll bepackt spazierten sie zurück.
„Was ist das dort? Ein Kloster?“
„Das weißt du auch nicht mehr? Obwohl du als Kind jede freie Minute drüben warst und den armen alten Pater Peter genervt hast, weil dich dieses uralte Gemäuer so fasziniert hat?“

Am Nachmittag ging Robert langsam den Hügel zum Kloster hinauf. Oben setzte er sich ins Gras und blickte hinab zu den Backsteinhäusern. Er schloss die Augen und dachte nach.
Ob ich jetzt für die anderen zu Hause plötzlich verschwunden bin? Oder – ob John mein Leben lebt und er genauso verwirrt ist, wie ich hier? Oder ist mein Leben in Innsbruck nun einfach ausgelöscht und es ist, als hätte es mich dort nie gegeben?
So spulte er seine Gedanken, kam auf die verrücktesten Dinge, aber zu keiner Erklärung.
Hinter dem Kloster lag ein Friedhof. Auch hier war die jüngste Jahreszahl 1955. Mutlos machte er sich auf den Weg zurück.

Am nächsten Morgen war er immer noch hier.
Was wird mit mir gespielt? Was wird mir hier nur angetan?
„Sag mal, was arbeite ich hier eigentlich?“ fragte er plötzlich, während er frühstückte. „Sag bloß, dir geht’s heute immer noch nicht besser? Ich kann nicht glauben, dass du deine geliebte Arbeit vergessen hast.“
Als Robert keine Antwort gab, sprach sie weiter.
„Wir bewirtschaften hier gemeinsam den Hof unserer Eltern.“
„Ich soll einen Hof bewirtschaften? Aber ... das kann ich nicht.“
Robert, Lehrer an einer Volksschule, sehnte sich umso mehr in sein wirkliches Leben zurück.
„Du machst mir Angst John. Bitte geh’ zum Doktor. Er soll sich auch mit Psychologie auskennen.“
„Ach Ann, ich brauche keinen Psychiater. Was mit mir passiert ist, darauf hat auch der keine Antwort.“
„Aber was ist denn mit dir passiert?“
„Ich weiß es nicht, kann es dir nicht erklären. Du würdest es nicht verstehen. Ich verstehe es selbst nicht!“
„Ich habe Angst, wenn ich dich so reden höre.“
„Ich habe selber Angst.“
Er ging er zu ihr hin und legte ihr seine Hand auf die Schulter.
„Komm, zeig’ mir bitte, was ich zu tun habe.“

Da auch die nächsten Tage keine Änderung der Situation brachten, fügte sich Robert gezwungener Maßen immer mehr in Johns Leben.
Ann und John hatten beide keine eigene Familie. Kurz nach dem Krieg waren ihre Eltern gestorben und sie übernahmen den mittelgroßen Hof. Oft sah sich Robert Fotos von John an und erschrak stets wieder, wenn er sich selbst auf diesen Fotos erkannte.

Eine mystische Anziehungskraft ging von dem Kloster aus. Eines Tages schlich er abermals drum herum, begutachtete das alte Gemäuer und den Friedhof, als könnte er so eine Antwort auf das unfassbare Geschehen seiner Lebensänderung finden. Plötzlich öffnete sich eine Tür. Ein Geistlicher trat heraus.
„Komm herein“, sagte er ruhig.
Kurz zögerte Robert, dann folgte er dem Geistlichen durch einen langen Gang, besah sich Speiseraum, Aufenthaltsraum, Schlafzellen, Küche, hauseigene Kapelle. Überall ließ ihn der Geistliche reinsehen, ohne viel dazu zu erklären. Nur in der Bibliothek verweilten sie länger. Robert war fasziniert von diesen dicken alten Büchern, dieser Sammlung einzigartiger Raritäten.
„Was sind das für Bücher?“
„Oh, alles Mögliche. Kirchengeschichte, Bücher über das Leben verschiedener Heiliger, Bibeln, Naturheilbücher, Bücher über Geheimnisse, ...“
Robert fiel ihm ins Wort. „Bücher über Geheimnisse?“ sagte er mit lauter Stimme.
„Über das Leben, das Universum, Astrologie, Prophetie, die Zeit, ...“
„Die Zeit ...?“ Robert fiel ihm abermals ins Wort. Plötzlich kam es ihm vor, als wüsste der Geistliche mehr über ihn und sein plötzlich anderes Leben.
„Ich hab’ schon zuviel gesagt“, antwortete der Geistliche kurz angebunden und wies zur Tür. Sein Gesichtsausdruck war mit einem Mal verschlossen.
Robert fand es klüger, für heute nachzugeben und zu gehen. Aber er würde wiederkommen. Er wollte wissen, was mit ihm geschehen war und hier, nur hier konnte er Antwort auf seine Fragen finden. Dessen war er sich jetzt sicher.

Von nun an ging er fast täglich zum Kloster. Doch der Geistliche ließ sich nicht mehr blicken. Erst nach ein paar Monaten war es soweit, dass sich die Tür des Klosters wieder öffnete.
„Komm“, sagte der gleiche Geistliche und ging abermals voran.
In Robert überschlugen sich die Gefühle. Nur schwer konnte er seine Ungeduld zügeln.
„Du zeigst es mir heute, nicht wahr? Du weißt, was mit mir los ist?!“
Der Geistliche öffnete die Bibliothek und als beide drin waren, schloss er ab.
„Es gibt eigenartige Phänomene auf dieser Welt“, begann er zu sprechen, „Dinge, die wir uns nicht erklären können.“
„Was ist mit mir passiert?“ wollte Robert wissen.
„Du kommst aus der Zukunft.“
„Nein, ich bin in die Vergangenheit versetzt worden.“
„Ist das nicht das Gleiche?“
„Käme ich aus der Zukunft, dann wäre ja diese Zeit die derzeit Reale, aber ...“
„Vieles ist real und auch nicht. Dimensionen und Zeiten existieren parallel – und auch nicht. Es ist schwer zu verstehen, es ist ... eigentlich überhaupt nicht zu begreifen. Dafür ist unser menschlicher Geist zu begrenzt.“
„Aber ...“
„Es gibt im Universum schwarze Löcher, Zeittunnel. Es gibt Geschichten über Menschen, die einfach verschwunden sind oder plötzlich aufgetaucht, ohne dass man herausfinden konnte, woher. Nicht viele Leute wissen von diesen Geschehnissen und die, die davon gehört haben, glauben meistens nicht daran. In deiner Zeit ist man da schon ein wenig aufgeschlossener solchen Phänomenen gegenüber.“
„Aber ich lebe das Leben von einem anderen und keinem kommt das sonderbar vor.“
„Du b i s t der andere.“
„Das bin ich nicht!“
„Jetzt schon.“
„Aber ich will zurück!“
„Das passiert - oder auch nicht – so wie dein Erscheinen hier, unbeeinflussbar.“
„Aber ... ich dachte ... hier gibt’s eine Lösung.“
„Ich konnte dir nur erklären, dass es so etwas gibt. Aber wie es passiert und warum, darauf findest du auch hier keine Antwort.“
Robert fühlte, wie seine Kehle eng wurde.
Das gibt’s doch nicht! Mein einziger Hoffnungsschimmer ... Wenn hier keine Lösung zu finden ist, wo dann? Soll „John“ jetzt für immer mein Schicksal sein?
„Vielleicht ist es eines Tages wieder so wie es war. Vielleicht bist du eines Tages wieder in deiner Zeit.“
„Und du? Glaubst du das auch?“
„Ich weiß, dass vieles möglich ist, so unmöglich es auch scheint.“
Damit kann ich nichts anfangen, wollte Robert rausschreien, aber er brachte keinen Ton heraus. Sein Geist revoltierte. Das alles war so unfassbar, so unrealistisch, dass es ihn verrückt machte.
„Finde einen Weg!“ schrie er plötzlich. „Schlag in all diesen dicken Wälzern nach und finde einen Weg. Bitte!“
„Es ist besser, du gehst nun.“ Der Geistliche sperrte die Tür wieder auf.
„Nein! Lass mich hier bleiben! Lass mich selbst diese Bücher lesen!“
„Komm.“
„Hier ist eine Lösung. Ich spür es!“
„Hier ist keine. Glaub mir.“
Niedergeschlagen verließ Robert die Bibliothek. Verwirrter denn je zuvor schlich er vom Kloster weg.

Und jeden Abend, wenn er sich schlafen legte, hoffte er aufs Neue, am nächsten Morgen wieder als der aufzuwachen, der er wirklich war.

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