Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Dezember 2005
Arachne
von Estella Barz

Wahrscheinlich war sie durch das leicht geöffnete Fenster schon am vorigen Abend in das Zimmer gelangt. Besonders in den sternenklaren Nächten des späten Herbstes wurde es jetzt empfindlich kalt. Das achtbeinige Wesen aus der Unterwelt zog beleidigt seine Tentakeln ein, als Marie ihm die Gefängniszelle überstülpte. Spinnen mochten nützliche Tiere sein, aber das waren Ameisenbären auch, und trotzdem hielt man sich keine in der Wohnung. Marie schob einen festen Karton unter das Glas, ohne der großen schwarzen, behaarten Besucherin eine Chance auf Entkommen zu gewähren, und hob den Gefangenentransport in die Höhe. Sie öffnete vorsichtig die Balkontür und trat in den hellen Sonnenschein des neuen Tages hinaus. Als sie vor dem Geländer stand und das Glas mit dem Deckel darunter über die Brüstung hielt, schien es ihr, als blinzle das schaurige Wesen, das sich nun so ganz und gar in ihrer Gewalt befand, mit schmerzenden Augen in das gleißende Licht, welches sich nur wenig in der glatten Oberfläche des Glases brach. „Los, ab in den Garten“, rief Marie, dann zog sie der Spinne den Boden unter den Füßen weg, schüttelte das Glas etwas und sah dem Tier bei seiner ungewohnten Reise nach. Ob es von neuem versuchen würde, ins Haus zu kommen? Oder ob es einsehen würde, dass alle Mühe umsonst war? Marie konnte den runden Knopf mit den langen Beinen nicht mehr ausmachen, er hatte sich schnell im reifbedeckten Gras versteckt.
„Hallo, Tante Marie, was machst du da?“ rief eine Stimme aus dem Nachbargarten. Der zehnjährige Tom winkte ihr zu. Es war Samstag, schulfrei. Tom wartete ihre Antwort nicht ab. „Ich habe heute Geburtstag!“ sprudelte es aus ihm hervor. „Kommst du nachher zu Kaffee und Kuchen? Du musst mir aber auch ein Geschenk mitbringen.“
Marie lachte und winkte dem Energiebündel zu, das schon wieder um die nächste Hausecke verschwand. Sie wäre auch gerne noch einmal jung. In einem Alter, in dem man sich auf seine Geburtstagsfeiern freuen konnte. „Dieses Jahr lade ich niemanden ein, basta!“ hatte sie zu Leon gesagt, als sich ihr fünfundvierzigstes Wiegenfest näherte. Leon hatte sie nicht verstanden. „Es ist doch immer lustig, wenn alle kommen“, hatte er gemeint. Er sah nicht ein, dass es für Marie nichts mehr zu feiern gab. Man wurde alt, und älter, und konnte keinen Einfluss darauf nehmen. Sie hatte nun sicher schon mehr Tage hinter sich als noch auf sie warteten. Welche aufregenden Ereignisse sollten ihr denn noch bevorstehen? Selbst die ersten grauen Haare hatte sie sich schon herausgerissen. Für die Falten im Gesicht gab es leider keine so einfache Lösung. Die Kinder waren aus dem Haus, und insgeheim fürchtete sie den Tag, an dem ein kleines Bündel Mensch sie zur Großmutter machen würde. „Oma“ – das klang nach Kittelschürze und Filzpantoffeln, Strickzeug und silbergrauer Dauerwelle. Marie erinnerte sich an ihren dreißigsten Geburtstag, den sie damals bis in die frühen Morgenstunden gefeiert hatten. Wenn sie doch nur die Zeit um ein paar Jahre zurückdrehen könnte! Marie überlegte, was sie bereit wäre, dafür zu geben. Mit einer raschen Handbewegung versuchte sie schließlich, diese Gedanken beiseite zu wischen, und ging wieder in das Zimmer hinein, leicht fröstelnd vom kalten Herbstwind.

Am nächsten Morgen öffnete Marie die Augen und blickte entsetzt auf die große Spinne, die an der gegenüberliegenden Wand schwarz und weit ausgebreitet saß. Lautlos hatte sie sich über Nacht wieder hereingeschlichen! Marie schob ihre Hand neben sich, um Leon zu wecken, doch sie griff ins Leere. Nicht nur, dass ihr Mann schon aufgestanden wäre, nein, das ganze Bett war nicht mehr da! Erschrocken setzte Marie sich auf und sah in dem Zimmer umher. Es war nicht ihr Schlafzimmer. Es war ein Raum, den es eigentlich gar nicht mehr gab. Ein schmales Zimmer, ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch, auf dem Stuhl unordentlich hingeworfen ihre Kleider, ihre Schultasche mit der kaputten Schnalle, im Regal die vielen kleinen Dinge, von denen sie sich nicht trennen konnte, an einer Wand das Poster von den Bee Gees. Marie schloss die Augen und legte sich wieder auf das Kissen. Ein schlechter Traum musste sie wieder in ihr Jugendzimmer geführt haben, und es war besser, weiter zu schlafen und zu hoffen, dass sie bald aufwachen würde.
Marie atmete regelmäßig, als es an der Tür klopfte. „Marie! Es ist schon halb neun!“ Die Stimme ihrer Mutter. Marie schreckte hoch. Sie fuhr mit der flachen Hand über die Bettwäsche. Alles war ganz real. Dann ging die Tür auf. „Marie, du weißt doch, wir müssen pünktlich wegfahren. Was ist? Hast du ein Gespenst gesehen?“ Maries Mutter sah sich in ihrem Zimmer um und entdeckte die Spinne an der Wand. „Ach komm, Marie, die wird dich schon nicht fressen. Steh jetzt auf.“ Die Tür schloss sich wieder. Marie sprang aus dem Bett und lief zu ihrem Schreibtisch. Wie lange war das her! Diese Hefte, diese Bücher! Mit dem Finger fuhr sie auf dem kleinen Kalender an der Wand entlang. Dort hatte sie früher jeden Abend den vergangenen Tag ausgestrichen. Was für ein Datum war heute? Sonntag, der 15. Oktober. Marie erschrak. Ein Tag vor ihrer Abschlussprüfung! Und heute war Onkel Stefans Geburtstag! Sie ließ sich auf den Schreibtischstuhl niedersinken und starrte fassungslos auf den Kalender. Die Abschlussprüfung. Onkel Stefans Geburtstag. Würde sich alles so wiederholen, wie es damals abgelaufen war? Oder gab es die Ereignisse nicht mehr, die sie kannte? Würde sie sich aufs Neue durch die ganzen Jahre hindurcharbeiten müssen? Ihr Berufsanfang, der Tod ihres Vaters, der Führerschein, ihr Liebeskummer, ihre Hochzeit, die Geburt ihrer Kinder? Der Hausbau, Leons Arbeitslosigkeit, ihre Ehekrise? Ja, sie hatte sich gewünscht, noch einmal jung zu sein. Aber doch nicht so jung! Achtundzwanzig hätte völlig genügt, sechzehn zu sein war eine Katastrophe! Die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter, der harte Kampf in der Schule und im Berufsleben, das pubertäre Gefühlschaos!
„Marie! Wenn du jetzt nicht bald fertig bist, kommen wir noch zu spät!“ Marie hörte die Stimme ihrer Mutter durch die geschlossene Tür. Wenn sie jetzt nicht aufstehen und sich anziehen würde, dann – ja was eigentlich? Dann käme die ganze Familie zu spät zu Onkel Stefans Geburtstag. Sie würden den Streit zwischen Onkel Stefan und Tante Gertrud verpassen. Niemand könnte erfahren, dass Onkel Stefan und Maries Vater auf ihrer Reise nach Budapest das Rotlichtviertel besucht hatten. Es wäre einfach ein Geburtstag wie jeder andere. Maries Eltern ließen sich später vielleicht nicht scheiden, und ihr Vater käme nicht bei diesem Autounfall ums Leben. Eine Chance, alles richtig zu machen! Mit meinem Wissen wendet sich vielleicht alles zum Guten, dachte sie.
„Marie, was ist jetzt?“
„Mama? Mir ist so schwindlig“, log sie.

Um zehn Uhr lag Marie noch immer mit einem kalten Waschlappen auf der Stirn im Bett und stellte sich krank.
„Herbert! Ruf deinen Bruder an und sag ihm, dass wir heute nicht kommen“, rief Maries Mutter ihrem Mann zu. Marie konnte nicht verstehen, was ihr Vater mit Onkel Stefan sprach. Doch sie fühlte sich wirklich gut bei dem Gedanken, die Ehe ihrer Eltern gerettet zu haben. So gut, dass es ihr sehr schwer fiel, elend auszusehen.
„Luise? Gertrud möchte dich sprechen.“ Maries Mutter eilte zum Telefon. Die Tür zu Maries Zimmer blieb einen Spalt offen. Luise sprach lange nicht, dann hörte Marie nur ein abgehacktes ‚ja’ und ‚nein’. Das Telefon wurde aufgehängt.
„Du elendes Schwein! Ich weiß alles! Du und dein sauberer Bruder, ihr habt euch mit Huren vergnügt!

Es war nicht gerecht. Hatte sie denn überhaupt keine Macht über ihr Schicksal? Marie dachte an die Spinne vom letzten Morgen, in ihrem alten Leben. Sie war genauso machtlos gewesen. Ausgeliefert. Marie zog sich die Decke über den Kopf. Wie sollte sie das alles durchstehen? Gab es denn keinen Schalter, den man drehen konnte, um die Zeit zu beschleunigen? Was für ein großes Fest würde sie feiern zu ihrem fünfundvierzigsten Geburtstag, wenn er nur bald käme. Was waren schon graue Haare und Falten im Gesicht gegen das hier? Gegen die Aussicht, mehr als das halbe Leben noch einmal leben zu müssen? Marie vergrub ihr Gesicht fest in der Decke, bis es ganz dunkel war und kein Licht mehr durch ihre Augenlider drang. Niemand konnte das hier von ihr verlangen.
Plötzlich spürte sie etwas Eiskaltes in ihrem Gesicht. Erschrocken schüttelte sie sich und öffnete die Augen. Sie erkannte ihren Vater, der sich mit einem Eisbeutel über sie beugte. Er machte ein sehr besorgtes Gesicht.
„Ich dachte, du kommst überhaupt nicht mehr zu dir, Liebes“, sagte er, und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Seine Stimme war eigenartig anders als sonst. „Was ist denn nur los mit dir?“ Langsam schärfte sich Maries Blick, und die Gesichtszüge ihres Vaters veränderten sich. Sie verwandelten sich in Leons. Leon!
„Mein Gott“, stammelte Marie und stützte sich etwas auf. „Ich bin wieder da.“
Leon lachte erleichtert. „Alles Gute zum Geburtstag, Liebes.“ Er stand auf. „Ich bringe dir Frühstück ans Bett.“ Leon verließ das Zimmer und Marie legte sich wieder auf das Kissen nieder. An der gegenüberliegenden Wand saß ein großes, schwarzes achtbeiniges Tier. „Du bist eingeladen“, flüsterte Marie voll Freude und Erleichterung. „Zu meiner Geburtstagsfeier.“

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