Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Dezember 2005
All inclusive
von Brigitte Regitz

Mittelalter live – prangte in großen Lettern an der Schaufensterscheibe. Darüber leuchtete Reisebüro Bon Voyage. „Ach, ist der Laden jetzt endlich wieder vermietet?“ war Pauls erster Gedanke. Dann fiel ihm die Doku-Soap Abenteuer Mittelalter ein, die er sich regelmäßig im Fernsehen ansah. Die mussten ja ganz schön schuften, aber trotzdem reizte es ihn, auch eine solche Erfahrung zu machen. Da Samstag war und er nicht zur Arbeit musste, ging er auf das Geschäft zu. Innen sah er zwei junge Frauen Prospekte einsortieren. Paul betrat den Laden mit einem fröhlichen: „Wunderschönen guten Morgen, meine Damen!“
„Den wünschen wir Ihnen auch“, erwiderten die beiden und fuhren dann wie aus einem Mund fort: „Und was können wir für Sie tun?“
„Ich wüsste gerne Näheres über Ihr Angebot Mittelalter live“, sagte Paul und nahm dabei auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch mit dem Namensschild Elfi Schneider Platz.
Sie erklärte ihm, dass es sich um eine Busreise zu einer Burg in einer geheim gehaltenen Gegend handelte, bei der – wie in der Fernsehserie – alles Mittelalter gerecht umgebaut worden war. Es war auch dafür gesorgt worden, dass Handys dort kein Netz fanden. Der Echtheit halber sollten die Teilnehmer keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Der Mindestaufenthalt betrug eine Woche. An- und Abreisetag war Dienstag. Die Unterbringung erfolgte in Räumen, die mit Strohmatten und Decken für vier Personen ausgestattet waren.
Es wurden Getreide, Obst und Gemüse angebaut und Schafe und Kühe gehalten. Ein Tierarzt stand zur Verfügung und zum Schlachten kam ein Fachmann aus dem Dorf. Die Urlauber hatten sich mit den Produkten aus ihrer Arbeit zu versorgen. Für Getränke und Essen fielen daher keine Kosten an.
Trotzdem war der Reisepreis hoch, fand Paul, sah aber ein, dass natürlich Investitionen gemacht worden waren, die wieder hereinkommen mussten. Er schloss einen Reisevertrag ab. Drei Wochen später sollte es losgehen.
Am vereinbarten Dienstag erschien Paul vor dem Reisebüro. Von weitem sah er schon eine kleine Gruppe wartender Menschen. Er kam mit einem Mann mittleren Alters ins Gespräch und zu dem setzte er sich auch in dem Bus, der kurze Zeit später vorfuhr. Zur Begrüßung wurde ein kleines Frühstück serviert, ein mit Käse belegtes Brötchen, ein Joghurt und eine Tasse Kaffee. Paul war zufrieden. „All inclusive“ gefiel ihm. Er lehnte sich nach diesem Imbiss auf seinem Sessel zurück. Dann fielen ihm die Augen zu.
Paul erwachte mit einem trockenen Geschmack im Mund. Es kam ihm so vor, als höre er ein leises Summen. Er schlug die Augen auf und erschrak. Da liefen gerade zwei Männer in Raumanzügen an ihm vorbei! Er wollte sich die Augen reiben, bekam die Arme aber nicht hoch. Nun bemerkte er, dass er in einer Art Kabine stand und seine Beine und Arme angeschnallt waren. Er wollte etwas rufen, aber es kam kein Laut aus seinem Mund. Im selben Augenblick fielen ihm wieder die Augen zu.
Als Paul das nächste Mal erwachte, saß er im Reisebus, der gerade vor einer mittelalterlichen Burg anhielt. Sein Nachbar stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite und sagte: „Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier. Hoffentlich habe ich nicht geschnarcht.“
„Nein, haben Sie nicht“, antwortete Paul. „Ich habe auch geschlafen“. Er war erleichtert, im Mittelalter angekommen zu sein und nicht in die Zukunft zu reisen. Ihn fröstelte bei der Erinnerung an seinen Traum vom Raumschiff.
Sie stiegen auf einem gepflasterten Platz vor der Burg aus, wo sie vom Burgvogt begrüßt wurden. Der wies ihnen ihre Räume zu und forderte sie auf, die bereitgelegte Kleidung anzuziehen und sich dann im Versammlungsraum einzufinden, der sich rechts, direkt neben dem Eingang zur Burg befand.
Paul war froh, nur eine Woche gebucht zu haben. Derart kratzig hatte er sich die Bekleidung nicht vorgestellt und in den Holzschuhen konnte er auch nicht gut laufen. Sie sollten sich aber als sehr nützlich herausstellen, denn er wurde einer Gruppe zugeteilt, die den Kuhstall auszumisten hatte. Darüber hinaus sollte Pauls Gruppe einen Brunnen ausheben. Dafür gab es sogar Zeitvorgaben. Würden sie die nicht einhalten, bekämen sie nur kleine Essensrationen, hatte der Burgvogt gedroht.
So schufteten sie, was das Zeug hielt. Schließlich wollte niemand von Pauls Gruppe dafür verantwortlich sein, dass sie mit wenig Essen bestraft wurden. Den anderen Arbeitsgruppen ging es allerdings nicht besser. Am Abend waren alle so erschöpft, dass sie nach dem Essen auf ihre Strohmatten sanken und in einen tiefen Schlaf fielen. Die erträumte Lagerfeuer-Romantik fand nicht statt.
In der sechsten Nacht konnte Paul nicht einschlafen. Er hatte zuviel von dem leckeren Spanferkelbraten gegessen, den es zur Feier des Sonntags gegeben hatte. Er wälzte sich hin und her, schlief ein, erwachte wieder, hörte ein entferntes Surren und bemerkte ein Lichtflackern an der Decke des Schlafraums. Leise stand er auf. Er wollte niemanden durch seine Unruhe wecken. Er schlich sich zu der schmalen Öffnung in der Wand und schaute nach draußen.
Da stand, nein schwebte, ein Transportfahrzeug. Oben war eine Ladefläche zu sehen, unten hatte das Gefährt eine große Gummiwulst. Es erinnerte Paul an die Hovercrafts, die auf einem Luftteppich von Calais nach Dover fuhren. Das Lichtflackern rührte von den Scheinwerfern her. Paul wollte wieder zu seiner Strohmatte zurückkehren, da sah er eine lange dürre Gestalt. „Sieht aus wie ein Strichmännchen“, dachte er. Er hielt den Atem an und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Dieses Strichmännchen war unbekleidet. Es hatte eine dunkle Reptilienhaut, einen kleinen Kopf mit großen runden Ohren, die seitlich abstanden, einen langen Hals, schmale Schultern, sehr lange dünne Arme und Beine, große, runde Hände und Füße. Dieses Strichmännchen hob Säcke auf die Ladefläche des Transportfahrzeugs. Plötzlich kamen zwei weitere Strichmännchen. Sie zogen jeweils zwei Säcke neben sich her und legten sie an dem Fahrzeug ab. Dann gingen sie weg und verschwanden aus Pauls Sichtfeld.
Paul war wie elektrisiert. Er hielt den Atem an. Sollte er die Anderen wecken? Nein. Erst einmal selber nachschauen. Barfuss lief er los. Wie er zur Scheune kam, wusste er. Er musste nur vorsichtig und langsam gehen, um im Dunklen nicht zu stolpern. Deshalb kam es ihm vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, bis er endlich an dem kleinen Tor an der Rückwand der Scheune ankam.
Mit Bedacht drückte er die Klinke hinunter und schob die Tür sachte auf. Die Scheune war im vorderen Bereich hell erleuchtet. „Scheinwerfer“, schoss es ihm durch den Kopf. Er schlüpfte schnell hinein, schloss die Tür und versteckte sich dann hinter einem Strohballen. Schemenhaft sah er draußen mehrere Strichmännchen. Dann näherten sich zwei, traten in das Licht der Scheinwerfer, blieben einen Augenblick stehen und verwandelten sich mit einem leisen Knistern in Menschen-Gestalten, die in mittelalterliche Gewänder gehüllt waren.
Paul fuhr das Grauen so in die Glieder, dass er die nächsten Minuten wie gelähmt hinter dem Strohballen hockte. Gedanken flogen ungeordnet durch sein Gehirn. Er versuchte vergeblich, sich zu beruhigen. Schließlich entschloss er sich, zu seinem Schlafraum zurück zu kehren. Seine Abwesenheit sollte möglichst nicht auffallen. Immerhin konnte er nach diesem Erlebnis nicht mehr sicher sein, dass es sich bei seinen Raum-Gefährten nicht um Strichmännchen handelte. Als er endlich zurück war, kroch er auf seine Strohmatte, deckte sich zu und begann systematisch langsam und tief zu atmen. Dabei stellte er sich eine Sommerwiese mit Mohn und Kornblumen vor und so gelang es ihm, einzuschlafen.
Am nächsten Morgen wurde er wach, weil jemand an seiner Schulter rüttelte. Er fühlte sich wie gerädert, stand auf und erledigte alle Arbeiten mechanisch. Seine ungewohnte Wortkargheit führte bald dazu, dass ihn die Anderen fragten, ob es ihm nicht gut ginge. Er hätte stechende Kopfschmerzen, sagte er dann und arbeitete verbissen weiter. Es war Montag. Noch eine Nacht und dann würde er die Rückreise antreten.
Da Paul glaubte, in den Lebensmitteln sei ein Schlafmittel, ließ er dieses Mal das Frühstück im Bus unter seinem Sitz verschwinden. Bald darauf merkte er aber, dass er schläfrig wurde. Krampfhaft versuchte er, wach zu bleiben. Er sah sich angestrengt im Bus um. Die Anderen schliefen, manche schnarchten leise vor sich hin. Als er nach vorne zum Busfahrer blickte, fiel ihm auf, dass der in einer geschlossenen Kabine saß. „Gas“, dachte Paul. Im selben Augenblick schlief auch er ein.
Als er wieder zu sich kam, ruckte der Bus und stand dann vor dem Reisebüro Bon Voyage. Es war dunkel. Paul sah auf seine Armbanduhr. Gleich Mitternacht, stellte er fest. Er stieg mit den Anderen aus, suchte sich draußen zwischen den ausgeladenen Gepäckstücken seine Reisetasche, rief: „Und tschüss“ und eilte nach Hause. Dort warf er sich aufs Bett, dachte noch: „Morgen werde ich...“, dann war er eingeschlafen.
Mit einem Ruck wachte er auf. Die Sonne schien in sein Schlafzimmer. An die letzte Sequenz seines Traums erinnerte er sich noch: Es waren Strichmännchen, die Säcke auf ein Transportfahrzeug verluden. Mit einem Sprung war Paul aus dem Bett. Er lief ins Bad, rasierte sich, putzte die Zähne, warf sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht. Das musste reichen. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Er trank noch hastig einen Schluck Wasser aus der Flasche in seiner Küche, dann verließ er die Wohnung.
Wenn er sich beeilte, würde er seinen Freund Bert noch vor der Mittagspause in der Redaktion der lokalen Zeitung antreffen. Der war der Einzige, mit dem Paul diese mysteriöse Angelegenheit besprechen konnte. Er sprang die Treppen vor seinem Haus hinunter und lief zur Bushaltestelle. Der Bus musste gleich kommen. Paul sah nach rechts zum Reisebüro. Der Anblick traf ihn wie ein Blitzschlag. Es war keins da. Statt dessen klebten auf dem Schaufenster Plakate „Zu vermieten“. Paul wollte gerade darauf zugehen, als er den Bus kommen hörte. Er drehte sich um und stieg ein. Drei Haltestellen später sprang er aus dem Bus, rannte die Straße entlang, bog rechts ab und stürmte die Treppe zum Zeitungshaus hoch.
„Wohin so eilig?“ fragte ihn der Pförtner.
„Zu Bert Gilbert“, antwortete Paul verdutzt. Der Mann ließ ihn sonst immer durchgehen, ohne Fragen zu stellen.
„Der ist heute nicht da.“
„Wieso denn nicht?“ fragte Paul verunsichert.
„Na hören Sie mal, heute ist Sonntag!“
„Heute ist Sonntag? Wieso Sonntag? Welcher Sonntag?“
„Heute ist Sonntag, der 6. Juni.“
Paul schnürte sich der Hals zu. Er hatte seine Reise Mittelalter live am Dienstag, dem 14. Juni angetreten.

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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