Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Dezember 2005
Du sollst leben!
von Lucie-Marike Tautropfen

Es war ein frostig, kalter Wintermorgen, als Selim mit andächtigen Schritten der Traube Menschen folgte, die gleichwohl, wie sie, in dicken Mänteln steckten.
Die Kälte kroch in ihren Körper, doch sie bemerkte es nicht. Zu groß war der Schmerz um ihre Freundin. Ihre Freundin, die sich mit noch nicht einmal ganz 33 Jahren das Leben genommen hatte.
Selim hielt ihre Hände krampfhaft zusammengedrückt, ihr Körper schwankte leicht und sie fühlte sich wie in Watte gepackt.
Sie sah in die Gesichter der zwei Frauen neben sich. Sie entdeckte Trauer und die Frage „warum“.
Diese Frage brauchte sich Selim nicht zu stellen.
Sie wusste um das Schreckliche, was Rajah als Kind ertragen musste und kannte das qualvolle und sehr einsame Leben ihrer Freundin danach.
Sie verstand ihren Entschluss, wenngleich sie sich doch oft wünschte, sie hätte es nicht getan.
Plötzlich blieben alle stehen und Selim sah auf die Erde.
Vor ihr lag das frisch ausgehobene Loch. Selim erstarrte, sie wollte schreien, ja das wollte sie, doch die Tränen erstickten ihre Stimme im Keim.
Der Pastor begann mit einer Rede, die Selim nur entfernt wahrnahm, da sie mit ernüchterndem Blick auf das sah, was ihre Freundin zurückgelassen hatte.
Eine Hand voll Scherben, die sich mit ihren spitzen Kanten, in die Gedanken bohrten und jegliche Illusionen zerrissen.
Splitter, die mit größter Härte, die Missstände der Gesellschaft deutlich machten.
Selim wurde es warm und sie spürte in sich die Gefühle der Wut und Anklage zugleich.
Warum hatte niemand etwas für die kleine Rajah damals getan, die regelmäßig von ihrem Großvater und oft auch von anderen „zahlenden Kunden“ missbraucht wurde?
Weshalb wurde sie nicht geschützt, sondern das Sorgerecht den Großeltern zugesprochen, obgleich einige Nachbarn hinter vorgehaltener Hand, über die Vergehen des Großvaters sprachen?
Selims Hände ballten sich zu Fäusten, als sie ganz nah an das Grab ging, um sich entgültig
von ihrer Freundin zu verabschieden.
Innerlich war sie so angespannt, dass sie am ganzen Körper zitterte.
Sie sah nach unten in ein Meer von Blumen und sagte mit tränenerstickter Stimme zu sich selbst: „ Ich hätte dir so gern geholfen und hoffe du hast endlich Frieden für dich.
“Du kannst ihr helfen“, hörte Selim jemanden hinter sich sagen, und dann wurde es schwarz vor ihren Augen.

***

Als Selim erwachte befand sie sich in einem fremden Bett. Ruckartig setzte sie sich auf und schaute sich um. Wo war sie nur? Was war geschehen?
Ihr Kopf dröhnte und Müdigkeit lähmte ihre Gedanken.
Die Tür öffnete sich und ein kleiner Junge, ungefähr vier Jahre alt, so schätzte Selim, kam in das Zimmer. “Mama aufstehen! Los!“, sagte er und zupfte ungeduldig an Selims Ärmel.
Selim verstand nicht. „Mama?“, fragte sie.
Die Unruhe des Jungen wurde nun immer größer.
Er schien es kaum abwarten zu können.
„Mama, nun komm schon! Ich will endlich sokoladenkuchen essen“.
Sokoladenkuchen? Selim verstand noch immer nicht.
„Mama!“, nörgelte jetzt der Kleine und zog mit aller Kraft an Selims Arm.
Selim hob den Arm, um ihn abzuschütteln, als sie plötzlich erschrak.
Was war das? Das war nicht ihre Hand, die den Jungen abzuwehren versuchte.
Sie hatte sehr kleine Hände, diese aber waren groß und rosiger. Erst jetzt bemerkte sie auch den Goldring, der ihre rechte Hand zierte.
Sie hatte diesen Ring noch nie zuvor gesehen. Erschrocken sprang sie aus dem Bett und begab sich zu dem Spiegel, der neben der unbekannten, großen Fensterfront angebracht war. Der Kleine, nun sichtlich ruhiger folgte ihr und umklammerte nun ihr Bein.
Selim betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, doch was sie da sah, ließ sie erschaudern.
Sie sah zwei tief dunkelbraune, große Augen, eine längliche Nase mit vollem Mund.
Es war ein schmales Gesicht. Die Wangenknochen waren deutlich zu sehen. Um Augen und Mund sah Selim Lachfalten.
Das war nicht ihr Gesicht und sie war doch auch erst 25 Jahre.
Dieser Körper musste aber einer Frau gehören, die mindestens schon 40 war.
Selim betrachtete sich nun ausgiebig. Auch der Körper war ihr fremd. Er war sehr groß und erschien ihr sehr zierlich, ja fast schon zerbrechlich. Ihrer hingegen, war klein und grobknochig.
Ich muss träumen, dachte sie und da hörte sie wieder diesen Satz.
...“Du kannst ihr helfen“...
Genau das war doch der Satz, den sie gehört hatte, bevor sie hier in der Fremde erwachte und sich nun in einem fremden Körper befand.
Sie verstand gar nichts mehr und es war ihr unheimlich.
„Mama! Sokoladenkuchen!“ Diese Worte holten Selim aus ihren Gedanken zurück.
Ich werde das Spielchen mitspielen und vielleicht dann endlich wissen, was hier vorgeht, dachte sie und folgte, wenn auch zögerlich, dem Jungen, der unruhig die Tür aufschob und mit schnellen Schritten den Flur entlang lief.
Wenig später befanden sich beide in der Küche. Sie schaute sich um. Die Küche war sehr groß und sehr geschmackvoll eingerichtet. Eine ältere Frau, stand am Herd und war damit beschäftigt einen frisch geformten Hefezopf in den Ofen zu schieben
In der Mitte befand sich ein großer Holztisch. Es roch nach frisch gebrühten Kaffee und auf dem Tisch erblickte sie Brötchen, gekochte Eier und frisch gebackenen Schokoladenkuchen. Der Kleine neben ihr kletterte nun wohl gekonnt auf einen Stuhl und trommelte wild auf den Tisch. Dabei rief er immer wieder; „Sokoladenkuchen“...“Sokoaldenkuchen" Das ließ die ältere Dame aufblicken. Sogleich sagte sie: “Guten Morgen Anne. Setzen sie sich! Ich habe schon alles vorbereitet“.
Und zum Kleinen sagte sie. „Ja Leon, du bekommst jetzt ein riesen Stück Schokoladenkuchen“.
Anne, das musste ihr Name sein, dachte Selim. Und die Frau war wohl so etwas, wie eine Haushälterin. Überwältigt von den ganzen Eindrücken, setzte sie sich abwartend und nahm das Stück Schokoladenkuchen, was ihr soeben gereicht wurde.
Plötzlich hörte sie wieder diese Stimme.“ Du kannst ihr helfen, aber beeile dich, du hast nicht mehr viel Zeit!“ Selim erschrak abermals. Vielleicht bin ich durch die Trauer auch verwirrt und bilde mir dies hier alles ein und bin in Wirklichkeit gar nicht hier, dachte sie.
Da begann die ältere Dame wieder zu sprechen:
„Ach was für Jammer, dass sie immer arbeiten müssen und jeden Tag soviel Not sehen. Was manche Kinder aber auch alles erleiden, dass ist schon wirklich schlimm. Na ja ich hoffe mal, dass sie heute der Kleinen helfen können, wie hieß sie noch einmal?“
Mit diesen Worten sah die Dame Selim erwartungsvoll an, für die sich langsam Puzzelteil an Puzzelteil fügte. Es musste sich um ihre Freundin handeln, ahnte sie.

Sie blickte in die Augen der älteren Frau und sagte mit etwas belegter Stimme. „Du meinst die kleine Rajah nicht wahr?“
Die ältere Frau nickte und sagte „ Ja genau, die arme Kleine. Hoffentlich geht es für sie heute gut aus. Aber sie werden es schon schaffen Anne. Da bin ich mir gewiss.“ Mit diesen Worten verließ die ältere Dame den Raum.
Selim verstand nun. Sie war in diesem Körper und in diesem Haus, um ihrer Freundin zu helfen.
Jetzt ergaben auch die Worte „ Du kannst ihr helfen“, ihren Sinn.
Was auch immer passiert war, vielleicht war es eine Chance Rajah zu schützen.
Tatendrang, Kraft und auch ein wenig Neugierde legten sich über ihre Gefühle von Angst, Unsicherheit und Unverständnis.
Sie würde es versuchen, egal um welchen Preis, dessen war sie sich gewiss.

***

Wieder dieses schwarze Loch, dachte Selim, die nun in einem Gerichtssaal zu sich kam.
Mittlerweile kannte sie das Gefühl, Zeit zu verlieren und sie hatte sich auch schon etwas an ihre neue Erscheinung gewöhnt.
Sie sah sich um und erblickte mehrere Menschen. In der fast letzten Reihe, saß ein kleines Mädchen mit einer Stoffmaus im Arm. Rajah! Selim erkannte sie sofort. Es war die gleiche kleine Rajah, die sie von den Photos kannte, die ihre Freundin, kurz bevor sie sich umbrachte, ihr gezeigt hatte.
Ja das war sie. Traurig sah sie aus. Schaute zu Boden und schien sich weit weg geträumt zu haben. Neben ihr saß ein älteres Ehepaar.
Der ältere Mann legte nun den Arm um die kleine Rajah, was ihr sichtlich unangenehm war, doch sie wehrte sich nicht, zuckte leicht und ertrug still.
Nun begann eine Art Prozess. Nach einer kurzen Einleitung vom Richter,
wurden nacheinander Leute in den Zeugenstand gerufen.
Selim verstand kaum ein einziges Wort, obwohl sie sich krampfhaft bemühte den Abläufen zu folgen. Ihre ganzen Gedanken wurden nur mit einem Satz gefüllt. „Du kannst ihr helfen“.. ...„Du kannst ihr helfen“...Immer und immer wieder hörte Selim diese Worte.
Sie entsann sich der letzten Minuten in diesem fremden Haus und ihr war klar, dass sie es in der Hand hatte.
Sie schien nun an der Reihe zu sein, denn eine Anne Rieger wurde nun schon zum zweiten Mal in den Zeugenstand gerufen. Mit vollem Elan und der Hoffung etwas ausrichten zu können, begab sich Selim in den Zeugenstand. Das Fragemartyrium begann.
Es prasselte nur so auf Selim ein. Sie antwortete ruhig und gelassen, immer mit dem Blick auf das kleine schüchterne Mädchen in der fast letzten Reihe.
Und da war sie plötzlich, die Frage, die soviel Einfluss darauf hatte, wo die kleine Rajah letzen Endes hinkäme. Die Fragestellung nach dem Befinden Rajahs und eine Einschätzung deren psychischen Verfassung von Diplom Psychologin Anne Rieger.
Selim wusste, was zu tun war. Zitternd vor Aufregung und mit leichtem Schwindel stützte sie sich mit ihren Händen an der Tischkante ab und begann zu sprechen.
Sie sprach sachlich und ruhig, aber in ihr schrie es nach Vergeltung.
Selim schaute dem Großvater in die Augen als sie mit bestimmter und harter Stimme vom Missbrauch an der kleinen Rajah berichtete. Ein raunen ging durch den Saal. Der Großvater
zuckte bei den Worten zusammen, nahm den Arm von Rajahs Schulter, stand ruckartig auf und setzte sich mit Beschimpfungen zur Wehr.
Jetzt erst recht, dachte Selim und ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen, als der Richter um Ruhe bat und die Verhandlung fortsetzte.
Sie erzählte von dem Leben der kleinen Rajah. Von der Not und den Schmerzen, denen sie fast täglich ausgesetzt war und sie erzählte auch von den Beweisen. Photos, viele kleine Bildchen,
die der Großvater von seiner Enkelin gemacht hatte, um die Stunden mit der Kleinen festzuhalten.
Diese waren fein säuberlich in einer Zigarrenschachtel aufbewahrt und lagen zusammen mit der Sonntagstischdecke und wohl duftender Seife im obersten Fach des Schlafzimmerschrankes.
Selim war in diesem Augenblick froh, dass ihre Freundin, soviel Vertrauen gehabt hatte, denn nun konnte sie sich damit Gehör verschaffen, was ihr sichtlich gelang.

Die Verhandlung wurde vom Richter unterbrochen und Selim durfte endlich den Zeugenstand verlassen. Sie blickte zu dem kleinen Mädchen, was nun mit gesenktem Kopf in der vordersten Reihe saß. Eine Frau sprach beruhigend auf die Kleine ein und bot ihr ein Bonbon an. Dieser Anblick berührte Selim so sehr, dass ihr die Tränen in den Augen standen. Sie schluckte sie hinunter und ging mit vorsichtigen Schritten auf die Kleine zu, die nun, wenn auch noch scheu, die Stoffmaus der Frau zeigte und dabei leicht lächelte. Selim war auf einmal sehr froh und sie merkte, wie wieder das lähmende Gefühl der Müdigkeit sie umfing.
Die Umgebung rückte immer mehr von ihr ab und ein nebelartiger Schleier hüllte sie ganz ein. Sie fühlte wohlige Wärme und innerliche Ruhe.

***

Es war ein frostig, kalter Wintermorgen. Selim hielt ihre Hände zusammengedrückt.
Vor ihr lag das frisch zugeschaufelte Loch.
Selim blickte sich um und sah in ein Gesicht, was sie kannte, doch nun viel gesünder und schöner wirkte.
Es war Rajah, die sie erblickte, die sie da an der Schulter berührte und sagte“: Selim, komm, sonst erfrierst du hier noch! Sie hat ihren Seelenfrieden und ich habe endlich meine leibliche Mutter gefunden, nach der ich so lange gesucht habe“.
Mit diesen Worten legte Rajah etwas auf das frisch geschlossene Grab. Es war die kleine Stoffmaus, die Selim bei der kleinen Rajah im Gerichtssaal gesehen hatte und da begriff sie. Es war Wirklichkeit geworden. Sie hatte ihre Freundin gerettet und vor dem Freitod bewahrt.

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