Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Januar 2006
Vom Werdegang einer Wandertreppe
von Silvia Both

„Holztreppe, was willst du nach der Schule werden?“ fragte die Lehrerin.

„Wandertreppe, Fräulein Geländer!“ Ein Raunen ging durch die Klasse.

Die Marmortreppe schnipste klappernd mit ihren Stufen. „Ich will etwas Richtiges werden, eine vornehme Treppe in einem Schloss, Grafen und Gräfinnen sollen über mich ...“

„Sprich bitte erst, wenn ich dich aufrufe“, ermahnte die Lehrerin sie mit kalter Stimme. Sie wandte sich wieder der Holztreppe zu.

„Denke noch mal darüber nach. In zwei Tagen bekommt ihr euer Zeugnis und dann beginnt der Ernst des Lebens. Du kannst bei Bäckermeister Mehltau einziehen. Er hat eine neue Kellertreppe bestellt, und ich werde dir eine Empfehlung schreiben. Handwerk hat goldenen Boden!“

Die Holztreppe nickte vage, um es sich nicht mit dem Fräulein zu verderben. Später, als sie die Schule durch das Treppenhaus polternd verließen, rückte die Wendeltreppe zu ihr auf. „Willst du wirklich Wandertreppe werden?“

Ihre Freundin nickte entschlossen. „Sobald ich mein Zeugnis habe, gehe ich. Dann bin ich frei!“ Vor Freude machte sie einen kleinen Luftsprung. „Aber wohin ...?“

„Ich will durch die Welt wandern und mir meinen Platz selbst aussuchen,an dem ich verweile. Was hast du denn vor?“

„Ich habe ein Angebot von einem Schauspieler. Er baut sich eine Wohnung in einer leerstehenden Fabrikhalle aus, ich soll die untere Wohnebene mit der oberen verbinden. Eine Galerie aus der Parallelklasse kommt auch mit.“

„Er kann seine Rollen auf dir lernen. Immer rauf und runter in deiner Spirale, und den Text kann er von oben in die Halle deklamieren. Du wirst ein interessantes Leben führen.“ Die Wendeltreppe kicherte aufgeregt.

Zwei Tage später verabschiedeten sie sich vor der Schule voneinander.

„Ich schreib´ dir von unterwegs“, rief die Holztreppe, bevor sie sich auf den Weg nach Süden machte. Immer der Nase nach.

Sie lief und lief, erst auf Asphalt, später auf Feld- und Waldwegen. Als es Nacht wurde, befand sie sich in einem dichten Tannenwald. Sie legte sich auf den weichen Waldboden und genoss die Stille.

„Was machst du hier?“ krächzte jemand. Die Wandertreppe schlug die Augen auf und erblickte eine Krähe auf ihrer obersten Stufe.

„Ich bin auf der Wanderschaft“, sagte die Treppe stolz.

„Pass auf, hier wird es gleich ungemütlich. Die Treibjagd beginnt!“

Schon pfiffen Kugeln durch den Wald und blieben in den Baumstämmen stecken. Die Holztreppe machte, dass sie fortkam. Auf der Landstraße wurde sie von hupenden Treckern und Autos überholt.

Schließlich erreichte sie eine Stadt. Auf dem Bahnhofsvorplatz ruhte sie sich erschöpft aus. „Schau mal, ein neues Kunstwerk“, sagte eine Dame im Vorbeigehen zu ihrer Freundin. „Es sieht wie eine ganz normale Treppe aus. Was meint der Künstler damit?“

„Vielleicht will er das Auf und Ab des Lebens darstellen.“

Ein paar Kinder rannten über den Platz und jubelten, als sie die Treppe entdeckten. Während sie auf ihr herumkletterten, versuchte sie sich nicht zu bewegen, obwohl sie kitzlig war. Doch als ein Straßenfeger mit der Kehrmaschine eine Staubwolke aufwirbelte, musste sie niesen und die Kinder fielen herunter. „Cool“, schrie ein Junge, „das Klettergerüst bewegt sich.“ Als es dämmerte, wurden die Kinder von ihren Müttern abgeholt.

Die Treppe erhob sich und wollte den Platz verlassen.

„He du, komm´ mal her!“

Sie schaute sich suchend um, niemand war zu sehen.

„Hier unten!“

Zu ihren Füßen lag der Eingang zur U-Bahn, dessen Treppenmuster ihr bekannt vorkam.

„Ich bin´s. Kennst du mich nicht mehr?“

„Marmortreppe! Du hier? Wolltest du nicht eine Schlosstreppe werden?“

„Ich wusste ja nicht, dass die Konkurrenz so groß sein würde“, murmelte die U-Bahn-Treppe kleinlaut. „Da dachte ich: Lieber von allen mit Füßen betreten als völlig funktionslos.“

Auf ihrem weiteren Weg durch die Stadt sah sich die Wandertreppe genau um. Sie entdeckte lustige Rolltreppen, schiefe Steintreppen, jede Menge Granit-, Beton-, Kunststoff- und Stahltreppen, Aufzüge, auch einen alten Paternoster, eine Strickleiter an einem Balkon. Sogar der Fluss besaß Staustufen.

Froh sich nicht festlegen zu müssen, wanderte sie weiter in die Berge, immer höher hinauf. Sie stapfte durch würzige Wiesen, dann rutschte sie durch Geröll und versank schließlich im kalten Schnee. Endlich auf dem Gipfel lehnte sie sich an das ächzende Gipfelkreuz. Sie genoss tief atmend den Ausblick. Die Welt lag ihr zu Stufen.

„Hilfe, Hilfe!“

Wer hatte gerufen? Im Osten ging die Sonne auf. Die Rufe klangen immer schwächer. Die Wandertreppe rutschte suchend durch den Schnee. Plötzlich öffnete sich vor ihr eine Gletscherspalte. Sie konnte sich nicht festhalten und schoss hinunter. Mit lautem Knirschen verkeilte sich ihre unterste Stufe in der eisigen Wand. Ein freudiger Aufschrei begrüßte sie. „Eine Treppe! Das ist die Rettung!“

Eine Frau fasste nach dem Holz und zog sich hoch. Sie verschnaufte kurz und kroch dann auf den Treppenstufen aus der engen Spalte heraus. Oben angekommen streichelte sie die oberste Stufe, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. „Danke, du hast mich gerettet. Ohne dich wäre ich erfroren.“ Die Wandertreppe knarrte ergriffen.

Dann verschwand die Frau. Zurück blieb ein blauer Himmel, umringt von weißem Schnee. Die Treppe erstarrte. Es gelang ihr nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. „Hier also“, dachte sie verzweifelt, „ist mein Weg zu Ende. Bei Bäcker Mehltau hätte ich vielleicht doch ein ereignisreicheres Leben geführt.“

Seufzend fügte sie sich in ihr Los. Nur langsam gewöhnte sie sich an die eintönigen Tage und Nächte. Sie verbrachte viel Zeit mit der Beobachtung des Wetters, das in den Bergen schnell wechselte, lauschte dem Pfeifen des Windes um den Gipfel und dem Rieseln des Schnees.

Doch eines Tages durchbrachen Stimmen die Stille.

„Hier muss es sein! Hoffentlich finden wir sie!“

Menschen beugten sich über die Gletscherspalte, die sich in den vergangenen Wochen kaum verändert hatte. Nur die Treppe wirkte durch den hereingewehten Schnee aufgeplustert.

„Da ist sie!“ Die gerettete Frau war zurückgekehrt. Warme Dankbarkeit pulsierte durch das tiefgefrorene Holz der Wandertreppe. Die Frau und ihre Begleiter machten sich an ihr zu schaffen, umwickelten sie mit Seilen und zogen kräftig, bis sich ihr Halt lockerte und sie nach oben zu schweben begann, dem blauen Himmel entgegen.

„Vorsicht!“

Die Treppe glitt über die Kante und lag staunend da. Ihre Retter keuchten und lachten, entfernten den Schnee und strichen über das eiskalte Holz.

„Eiche, solide gearbeitet“, sagte einer, „die hätte in fünfhundert Jahren noch hier gesteckt.“

„Ich habe eine bessere Verwendung für meine Lebensretterin“, meinte die Frau.

Ein paar Monate später stach die glänzend lackierte Schiffstreppe einer Yacht in See, die mit Champagner auf den Namen Wandertreppe getauft worden war. Zu einer Fahrt rund um die Welt.



© Silvia Both

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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