Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Januar 2006
Papiermechanik
von Bernhard Röck

Rainer war unterwegs, um einem neuen Kunden eine Pizza auszuliefern. Das Haus unter der genannten Adresse entpuppte sich als etwas baufällige Villa. Er klingelte. Als sich nichts tat, versuchte er es erneut. Schließlich drehte er sich um und wollte zu seinem Auto zurückgehen, als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde.
„Was wollen Sie?“ Das Gesicht eines älteren Mannes zeigte sich im Türspalt.
„Ich bringe Ihre Pizza.“
„Ach, ja.“ Der Kunde, ein Herr Buffler, schien ein wenig zerstreut. Seine Haare standen wild zu Berge und er war unrasiert.
„Kommen Sie rein“, sagte er und drehte sich um. Merkwürdiger Kerl, dachte Rainer, während er ihm folgte. Der Typ schlurfte durch den Korridor und verschwand in einem Zimmer. Rainer schaute sich um. Alles war ziemlich chaotisch und überall lagen Papierstückchen auf dem Boden.
„Ich muss rasch meinen Geldbeutel suchen“, rief ihm der Mann zu. Rainer ging zögernd weiter und es verschlug ihm die Sprache, als er den Raum betrat. Dieser war über und über mit unzähligen kleinen Figuren voll gestellt. Jede freie Fläche auf Tischen, Schränken, Stühlen, ja sogar dem Fußboden war mit ihnen bedeckt. Mit einem unguten Gefühl blieb er stehen. Er war durch seinen Job schon in manchem merkwürdigen Haushalt gelandet, aber dieser war bisher mit Abstand der Merkwürdigste von allen. Der Kerl hatte etwas von einem Künstler, fand Rainer. Sein Kunde saß an einem Tisch, wo er die Gebilde herzustellen schien, denn darauf lagen Skalpelle, Lineale, Scheren, Klebstoffflaschen und andere Utensilien. Er kramte in einer Schublade, währenddessen guckte sich Rainer die Figürchen genauer an: sie schienen vorwiegend aus Papier zu bestehen, nur manchmal waren auch Fäden und Holzstäbchen verwendet worden. Manche besaßen Kurbeln, mit denen sie sich bewegen ließen. Er sah Hunde, Vögel, Fahrradfahrer, Jockeys auf Pferden, Elefanten, Drachen, surfende Hunde, rudernde Schafe. Da konnte er nicht widerstehen und berührte ganz sacht einen der Drachen.
„Nicht anfassen!“, fuhr ihn eine aufgebrachte Stimme an. „Die Modelle sind sehr empfindlich.“
Rainers Hand zuckte zurück.
„Sind Sie Künstler?“, fragte er. Sein Gegenüber sah ihn verständnislos an.
„Was wollen Sie noch mal? Ach ja … das Geld für die Pizza. Künstler? Ja, für Papiermechanik.“ Er stand auf und nahm eine Figur hoch, stellte sie auf den Tisch und betätigte die Kurbel. Sogleich bewegte sich der Drachen: er schlug mit den Flügeln, öffnete das Maul, stieß eine kleine Feuerwolke aus Papier aus und schaukelte dabei mit dem Körper, als ob er flöge. Der Bewegungsablauf war perfekt nachgeahmt und für einen Moment vergaß Rainer völlig, dass es sich lediglich um eine Papierfigur handelte. Es schien, als habe sie tatsächlich Leben in sich, ja Rainer glaubte sogar zu sehen, wie sich die Augen des Drachen hin und her bewegten und ihn schließlich fixierten.
„Ich versuche, das Wesentliche einer Bewegung so realistisch wie möglich zu gestalten“, erklärte Herr Buffler. Sobald er aufhörte, den Mechanismus zu betätigen, verschwand die Illusion. Ein wahres Kunstwerk! , dachte Rainer.
„Wow, so was hab` ich noch nie gesehen“, sagte er beeindruckt. Gerne hätte er eine der Figuren besessen.
„Verkaufen Sie die?“, fragte er.
„Nein. Sie sind nur für mich, zu meiner Freude.“ Der Mann kramte wieder in der Schublade. Sein Geldbeutel schien unauffindbar zu sein.
„Wie machen Sie die?“, wollte Rainer wissen. Es störte ihn eigentlich nicht, dass sein Kunde so lange brauchte, um ihm sein Geld zu geben. Schließlich gab es sehr viel zu sehen.
„Ich entwerfe sie, zeichne manches von Hand und erstelle per Computer Schnittmuster, die ich dann ausdrucke. Aus den Bögen werden anschließend die Teile ausgeschnitten, gefalzt und entsprechend zusammengeklebt. Und meist funktioniert es so, wie es soll. Aber es ist eine Heidenarbeit.“ Er sah inzwischen ein wenig freundlicher drein.
„Wollen Sie nicht doch eine Figur verkaufen? Sie haben doch so viele.“
„Es sind Tausende. Aber ich gebe sie nicht weg. Mein Herz hängt an jeder einzelnen von ihnen. Allerdings könnte ich Ihnen einen Bausatz für eine eigene zusammenstellen.“
„Das wäre toll.“
„Welche hätten Sie denn gern?“
Rainer brauchte nicht lange zu überlegen.
„Den Drachen, bitte.“

* * *


Zu Hause baute Rainer die Figur zusammen, was schwieriger war, als er gedacht hatte. Mehr als einmal verspürte er den Impuls, alles hinzuschmeißen, aber schließlich schaffte er es, das Modell zu vollenden. Leider schien er etwas falsch gemacht zu haben, denn es bewegte sich einfach nicht so gut wie das des Künstlers. Es quietschte schwerfällig in der Kurbelachse und seine Bewegung war ruckartig und unnatürlich. Enttäuscht beschloss er, noch einmal zurück zu fahren, um den Papierkünstler zu Rate zu ziehen.

* * *

An der alten Villa läutete er vergebens. Erst nach einer ganzen Weile bemerkte Rainer, dass die Tür nur angelehnt war. Er ging hinein und rief: „Hallo? Herr Buffler? Sind Sie zu Hause?“ Als er keine Antwort erhielt, ging er ins Wohnzimmer, wo es ihm den Atem verschlug. Durch die Luft flogen Papierdrachen und spieen kleine Feuerwolken aus. Elefanten trampelten den Flokati platt. Mehrere Schafe ruderten in Booten durch die Lüfte. Ein Papierhund surfte auf einer unsichtbaren Welle direkt an seinem Kopf vorbei und ein Schwarm Fische schwamm vorüber und verschwand ins Nebenzimmer. Von dort drangen seltsame, schwache Geräusche an Rainers Ohr: ein Rascheln, das mit Blöken, Bellen, Blubbern, Brüllen vermischt war. Die Figuren ignorierten Rainer, der sie mit offenem Mund anstarrte. Realistischer ging es wohl kaum, fand er. Der Künstler war nirgends zu sehen. Sollte Rainer also die Gelegenheit nutzen? Buffler würde das Fehlen einer Figur doch sicher gar nicht bemerken, wo er doch so viele hatte. Kurz rang Rainer mit seinem Gewissen. Dann schnappte er sich einen fliegenden Drachen, der widerstrebend zappelte, steckte ihn in eine Plastiktüte und ging nach Hause.

* * *

Dort zog er seine Beute vorsichtig aus der Tüte und stellte sie neben sein selbst gebautes Modell. Beide zeigten kein auffälliges Verhalten, schienen ganz gewöhnliche Papierfiguren zu sein. Rainer betätigte die Kurbel des gestohlenen Drachen. Sofort bewegte dieser sich mit derselben Lebendigkeit, die Rainer schon einmal so verblüfft hatte. Doch dieses Mal war seine Vorstellung noch verblüffender, denn auf einmal zischte er: „Du Dieb!“ und erhob sich in die Lüfte. Das Seltsame war, dass nun auch die andere Figur Anstalten machte, sich zu bewegen. Sie startete flatternd, obwohl Rainer ihre Kurbel gar nicht berührt hatte. Fliegend umkreisten sie ihn, während er mit großen Augen da saß, und spuckten Feuer. Erst waren es nur vereinzelte, kleine Flammen, aber dann stießen sie immer größere hervor. Rainer sprang entsetzt auf und versuchte, die Papiergebilde einzufangen. Aber vergeblich, denn sie waren zu flink. Wie wild gewordene Hornissen kreisten sie durch seine Wohnung, schwärzten seinen Fernseher, die Schrankwand und versengten sein Sofa. Sie flogen von einer Ecke des Zimmers zur anderen. Eine Lampe zersprang mit lautem Klirren, als sie ihr Feuer darauf richteten. In seiner Not griff Rainer nach einer Zeitschrift und schwang sie wie eine Keule. Doch leider traf er nur die Wanduhr sowie zwei Bilder, die mit einem Scheppern zu Boden fielen. Die Uhr landete genau auf einem seiner Füße. Vor Schmerz stöhnte er laut auf. Fluchend setzte er seine Jagd auf nur einem Bein fort. Währenddessen wurde die weiß gestrichene Tapete schwarz und löste sich Blasen bildend von der Wand. Bei der weiteren Verfolgung der Papierdrachen stolperte Rainer über den Tisch und warf ihn um. Dadurch fiel dieser gegen die Schrankwand, die mit einem lauten Krachen in sich zusammen brach. Dabei meinte er, ein höhnisches Kichern zu hören. Anschließend richteten die kleinen Feuerteufel ihre Flammen auf ihn. Sein Haar kräuselte sich und seine Kleidung wurde angekokelt. Zum Schutz hielt er die Zeitschrift vor sein Gesicht, woraufhin die Drachen ihr Feuer darauf richteten. Men’s Health verwandelte sich in eine Fackel. Kreischend warf er die Zeitschrift in den Papierkorb, sprang zum Fenster, riss es auf und rief um Hilfe. Die Drachen nutzten die Gelegenheit und flogen hinaus. Rainer warf eine Decke über den Papierkorb, dessen Inhalt in Flammen stand, und erstickte das Feuer. Mit rußgeschwärztem Gesicht und beinahe kahlem Kopf besah er sich das Schlachtfeld, das die Figuren in seiner Wohnung hinterlassen hatten. Rauchschwaden hingen in der Luft und es roch entsetzlich. Seine ganze Einrichtung inklusive Fernseher, Surroundanlage und der geliebten Plattensammlung lag zerstört vor ihm. Mit Tränen in den Augen stand er da. Wie sollte er das bloß der Versicherung erklären?

* * *

Schon am nächsten Tag erhielt Rainer Besuch von einem Gutachter. Der Mann sah sich um und begutachtete die Brandschäden, als er plötzlich etwas auf dem Fußboden entdeckte: Zwischen einem Lineal, einer Schere und einem Skalpell lagen angesengte, zugeschnittene Papierstückchen, von denen er nun eins aufhob und eingehend betrachtete. „Papierkunst?“ fragte er gedehnt. Rainer nickte verblüfft. Sie setzten sich in das, was vom Wohnzimmer übrig geblieben war und besprachen den „Unfall“. Nach Aufnahme der üblichen Daten wie Namen, Beruf des Versicherungsnehmers, Ort und Zeit des Unfallgeschehens kamen sie zum Vorfall selbst. Rainer bekam ein mulmiges Gefühl.
„Unfallhergang …mmh“, sagte der Gutachter und musterte Rainer abwägend. „Schreiben wir doch einfach: ausströmendes Gas.“ Rainer schaute erstaunt auf.
„Aber ich hab doch gar kein Gas …“, stammelte er. Der Versicherungsmensch sah ihn an und zwinkerte ihm zu. „Das geht schon in Ordnung. Sehen Sie … ich hatte auch mal solche Schäden in meiner Wohnung … ich meine, genau solche Schäden.“
„Und?“ Rainer verstand nicht.
„Bevor ich zur Versicherung kam, war ich Pizzafahrer. Und einmal, da musste ich auch zu Herrn Buffler ...“

© Bernhard Röck Dez./Jan. 2005



Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 23.28 Uhr
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