Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Januar 2006
Die Perle auf dem Blechdach
von Marion Pletzer

Erschöpft von einem anstrengenden Tag öffnete ich die Tür zum Hühnerstall.

„Dies wird meine letzte Amtshandlung heute.“ Ich gähnte herzhaft und begann die kotverschmierten Sitzstangen zu schrubben. Jeden Tag das Gleiche. Pingelig durfte man bei dieser Arbeit nicht sein.

Die Hühner ließ es kalt. Sie scharrten zwischen meinen Füßen nach Körnern.

„Ich wollt’, ich wär’ ein Huhn. Ich hätt’ nicht viel zu tun“, sang ich leise, um die Müdigkeit zu vertreiben.

„Ihr führt ein feines Leben. Kein stressiger Job, kein nörgelnder Ehemann, keine lästige Hausarbeit“, murrte ich und schob Hahn Artus zur Seite.

Empört plusterte er das tiefschwarze Gefieder auf und streckte den kräftigen Körper bis in die Zehenspitzen. Dann schüttelte er seine dichte Halskrause, die ihm wie eine Löwenmähne bis auf die Brust fiel.

„Ja, schon gut. Du bist der King“, sagte ich beschwichtigend.

Eine Stunde später knirschte frische Streu unter meinen Füßen, der beißende Hühnergeruch war verschwunden. Zufrieden hockte ich mich zwischen das Federvieh und kramte eine Handvoll Haferflocken aus der Jackentasche.

Sofort kam meine Lieblingshenne Clarissa angelaufen, um die Leckerei aus meiner Hand zu picken.



Plötzlich begann mein Körper wie Feuer zu brennen, so als zöge mir jemand die Haut ab. Mir wurde schwindelig und im nächsten Moment verlor ich das Bewusstsein.



Benommen blinzelte ich ins Licht. Die verschwommenen Umrisse bekamen Schärfe. Ich drehte leicht den Kopf und blickte in ein fremdartiges Gesicht mit schwarzen Augen. Faltige, weißliche Haut bedeckte den Schädel wie eine dicke Schicht Theaterschminke und ein furchterregender, roter Schnabel zielte direkt auf mich.

Entsetzt sprang ich auf.

„Tschekerekekek!“ Hektisch flatterte das merkwürdige Wesen davon. Ich sammelte meine Sinne. Dieses Geschrei kam eindeutig von meinem afrikanischen Wildhuhn Perle. Aber seit wann besaß sie die Ausmaße eines Emus?

Irgendetwas stimmte nicht. Ich sah an mir herunter und schrie auf.

Ich war geschrumpft, überall sprießten rostbraune Federn und die bis zu diesem Zeitpunkt stets sorgfältig rasierten und eingecremten Beine - schuppig und zudem gelb wie ein Eidotter.

‚Bitte lieber Gott, bereite diesem Spuk ein Ende. Lass mich aufwachen!’, flehte ich inbrünstig, kniff schnell die Augen zusammen, um sie gleich darauf langsam wieder zu öffnen.

Gott schien anderweitig beschäftigt zu sein, denn nach wie vor saß ich Auge in Auge mit meinen Hühnern in der Streu.

„Wie ist das möglich?“, stammelte ich und fuchtelte unbeholfen mit den Flügeln herum.

„Du hast dir doch gewünscht ein Huhn zu sein, Valerie.“ Clarissa setzte sich neben mich.

„Du kannst sprechen?“ Vor Verblüffung vergaß ich für einen Moment den Schock über meine Verwandlung.

„Was dachtest du denn?“

„Menschen! Ihr wisst gar nichts“, krächzte Perle verächtlich von der Sitzstange herunter.

„Das stimmt nicht. Ihr habt alles, was wichtig für euch ist. Einen sauberen Stall, ein herrliches Freigelände und nur das beste Futter“, widersprach ich heftig.

„Ha, als ob das reichen würde.“ Perle wackelte mit dem federlosen Kopf.

„Hör auf. Sie sorgt wirklich gut für uns. Also, ich könnte Sachen erzählen. Damals als ich noch in der Legebatterie lebte, mussten wir uns zu viert einen winzigen Käfig teilen. Freilauf? Nicht im Traum daran zu denken. Wir leben hier im reinsten Luxus“, schwatzte Flo.

„Ja, ja. Wir kennen die Geschichte. Dennoch bin ich völlig deiner Meinung.“ Clarissa nickte.

„Du hast gut Reden. Bist schließlich Valeries Liebling. Was ist denn mit Henni und Rolf passiert? Na?“ Fragend sah Perle in die Runde. „Plötzlich waren sie verschwunden und wir sahen sie nie wieder.“

„Genau!“, riefen ein paar andere.

„Bleib bei der Wahrheit, Perle. Henni hat der Habicht geholt und Rolf war krank. Das weißt du genau. Hack nicht auf Valerie herum.“ Clarissa zupfte leicht an meinen Federn.

„Leb dich erstmal ein. Perle ist ein wenig aufbrausend, aber sie beruhigt sich schnell.“

„Einleben?“ Meine Stimme klang schrill. Wieso passierte mir so etwas?

Clarissa wandte sich zur Tür und hüpfte nach draußen. Eilig folgte ich ihr, denn sie schien meine einzige Freundin zu sein.

Staunend sah ich mich im Freien um und kam mir vor wie Gulliver im Land der Riesen. Der Zaun, der mir sonst bis zur Brust reichte, war in den Himmel gewachsen. Die Tannen glichen Mammutbäumen.



Auf einmal dröhnte lautes Trompeten in meinen Ohren. Die Gänse hatte ich ja völlig vergessen. Ganter Swiss watschelte mit vorgestrecktem Hals auf mich zu. Aus seinem geöffneten Schnabel drangen bedrohliche Zischlaute. Seine Familie folgte ihm dicht auf.

‚Mein Gott, wie Dinosaurier’, dachte ich entsetzt. ‚Raptoren.’

Mit den neu gewonnenen Hühnerbeinen flüchtete ich so schnell es ging unter den nächsten Busch.

Zu meiner Erleichterung folgten die Gänse mir nicht. Sie hatten bereits die Köpfe gesenkt und zupften Gras.

„Benutze doch deine Flügel. Dann geht es schneller“, riet Clarissa mir, die ebenfalls das Weite gesucht hatte.

„Daran muss ich mich wohl erst gewöhnen. Ganz schön gefährlich hier.“

„Du meinst Swiss? Ach, nein. Der verteidigt nur seine Weiber. Habicht, der will dir an den Kamm.“

Richtig, den gab es ja auch noch. Erschrocken suchte ich den Himmel nach seiner Silhouette ab.

„Keine Angst.“ Clarissa deutete mit dem Kopf Richtung Stall. Perle hockte auf dem Blechdach, reckte den dünnen Hals und bewegte ihren kleinen Kopf aufmerksam in alle Richtungen. Ihr fransiges Gefieder fiel wie eine feine Spitzengardine an ihrem Körper herab. „Von da oben sieht sie ihn rechtzeitig und warnt uns. Wenn sie Alarm gibt, musst du allerdings fix sein. Sonst schlägt Habicht dir seine Krallen in den Rücken, ehe du einmal gackern kannst.“

Ich schluckte und glaubte bereits einen brennenden Schmerz im Kreuz zu fühlen.

Die Beine gaben unter mir nach. Von dem geschützten Platz aus beobachtete ich das geschäftige Treiben im Auslauf und allmählich löste sich meine Anspannung.

Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch die Blätter. Wohlig grub ich mich ein wenig tiefer in die warme, lockere Erde, rubbelte genüsslich die Federn und alle Ängste lösten sich in Nichts auf.

So ein Hühnerleben bot durchaus reizvolle Seiten. Nach dem Bad schritt ich beschwingt über die Wiese. Der Boden federte und kleine Insekten tanzten vor meinem Schnabel. Wie von selbst schnappte ich danach und eine Fliege verschwand in meinem Kropf.

‚Gar nicht mal schlecht’, dachte ich.



Unvermittelt blieb ich stehen.

Hatte ich nicht eine wichtige Frage vergessen?

„Konzentriere dich, Valerie und schwelge nicht im Müßiggang.“

Während ich versuchte, mir über meine Situation klar zu werden, lenkte mich eine volltönende, gurrende Stimme ab.

„Hübsches Küken.“ Artus stolzierte um mich herum, scharrte mit den Krallen und spreizte die Flügel.

Zugegeben, er war schon ein fescher Bursche. Das üppige Gefieder glänzte wie frisch polierte Lackschuhe und der prachtvolle, blutrote Kopfschmuck ließ bestimmt so manches Hennenherz dahin schmelzen. Doch so weit, mich in seinen Harem einzureihen, war ich noch lange nicht.

„Lass mich bloß in Ruhe!“, fuhr ich ihn an.

Vermutlich ist es zuviel verlangt, von einem Hahn die Manieren eines Kavaliers zu erwarten. Ehe ich mich versah, drückte Artus mich mit einem gekonnten Schnabelgriff zu Boden und kletterte auf meinen Rücken. Ich wollte protestieren, aber sein Körper wog schwer und die spitzen Sporen an seinen Beinen drückten schmerzhaft in mein Fleisch. Ich ergab mich. Eilig presste er seine Kloake auf meine, zappelte ein wenig und stieg wieder herunter.

„Warte nur! Wenn das hier vorbei ist, kommst du in den Ofen“, murmelte ich und eilte zurück zum Stall, wo ich mich vor weiteren Übergriffen sicherer fühlte.

„Überfällt Artus euch auch so ohne Vorwarnung?“, fragte ich die anwesenden Hennen.

„Ach, der.“ Sie winkten ab. „Ein Hahn eben.“

„Wenn ihr meint...“ Ich begann es ihnen gleich zutun und pickte am Boden nach Körnern. Fressen beruhigt.



Die entspannte Mahlzeit wurde jäh von einem unangenehmen Druckschmerz unterbrochen.

Meine Güte, was passierte denn jetzt?

„Ich glaube, ich sterbe!“, rief ich voller Angst, erntete von meinen Stallkolleginnen aber nur verständnislose Blicke.

Gehetzt sah ich mich nach einem ruhigen, dunklen Platz um. Eilig kroch ich in eines der gepolsterten Nester und drehte mich solange im Kreis, bis ich eine bequeme Position gefunden hatte. Die Schmerzen wurden erträglicher. Erleichtert schloss ich die Augen und wartete darauf, dass sie vollständig verschwanden. Wie viel Zeit verging, kann ich nicht sagen. Auf einmal verstärkte der Druck sich wieder.

Ich riss die Augen auf und begann unwillkürlich zu pressen. Mit einem tiefen Stöhnen quetschte ich etwas aus mir heraus. Ein feuchtes, wie Porzellan schimmerndes Ei lag im Stroh.

„Ein Ei!“, kreischte ich entzückt. „Mädels, seht mal, ein Ei!“

„Ihr erstes.“ Die Hennen nickten nachsichtig.

„Eure Eier sind so dunkel. Meins glänzt wie Perlmutt. Es ist wunderschön“, schwärmte ich.

Vielleicht barg es sogar neues Leben in sich. Sicherheitshalber blieb ich darauf sitzen und hielt es warm.

Allmählich legte sich Dunkelheit über unsere kleine Welt. Die Hühner suchten ihre Ruheplätze auf und sangen sich leise gurrend in den Schlaf. Die sanfte Melodie lullte mich ein.



Als ich die Augen öffnete, tauchte die Abendsonne den Stall in schummriges Licht.

Erstaunt stellte ich fest, dass ich meine menschliche Form zurück gewonnen hatte, einschließlich meiner rasierten Beine.

„Alles nur ein Traum, Clarissa?“, fragte ich sie und kraulte ihren Hals. „Es wirkte so real.“

Sie gluckste, sah mich aus bernsteinfarbenen Augen an und schüttelte kurz den Kopf.

„Wie auch immer. Euer Leben scheint weniger beschaulich zu sein, als ich dachte. Schlaft schön“, sagte ich.



In Gedanken versunken sammelte ich die Eier aus den Legenester – fünf braune und ein perlmuttfarbenes, dessen Schale seidig schimmerte.

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 23.24 Uhr
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