Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
âSie wird wohl nicht mehr kommenâ, sagte GroĂmutter zum Wolf.
âHab noch etwas Geduldâ, erwiderte dieser. âRotkĂ€ppchen war lange nicht mehr hier. Vielleicht hat sie sich im Wald verlaufen.â Er schĂŒttelte den Kopf bis die grauen Spitzohren schlackerten.
Das brachte GroĂmutter sonst immer zum Lachen. Doch dieses Mal betrachtete sie traurig die festlich geschmĂŒckte Kaffeetafel. âSie will ihren Freund mitbringen. Bin gespannt, wer es ist. Aber sie ist ja ein hĂŒbsches und kluges MĂ€dchen.â
âOh ja! Ich habe sie auch zum Fressen gern. Aber dein Kuchen ist ebenfalls nicht zu verachten.â Er schleckte mit der Zunge ĂŒber die Schnauze.
âSchwĂ€tz nicht so, das ist geschmacklos!â, schimpfte die GroĂmutter.
âAch Oma! Ich bin der Wolf. Ich kann halt nicht anders. Komm, gib mir noch ein StĂŒckchen. Mein Bauch ist zwar voll, als hĂ€tte ich Wackersteine drin, aber ein Kleines passt noch rein.â
Plötzlich klopfte es.
GroĂmutter ging zur TĂŒr und öffnete sie. DrauĂen wartete eine junge Frau im schicken rotem KostĂŒm: âHallo Oma! Ich hab dir Kuchen und Wein mitgebracht.â Hinter dem MĂ€dchen stand ein smarter junger Mann im Nadelstreifenanzug. âUnd das ist mein Freundâ, ergĂ€nzte RotkĂ€ppchen.
GroĂmutter trat beiseite und lieĂ die beiden ein. Sie setzten sich an den Tisch, unterhielten sich ĂŒber die Neuigkeiten im MĂ€rchenland. RotkĂ€ppchen lobte Omas Kuchen, ihr Freund bewunderte die spitzen ZĂ€hne vom Wolf.
Irgendwann fragte die GroĂmutter: âWie haben sie meine Enkelin kennen gelernt?â
âBei der Arbeit.â
âEs hat sofort gefunktâ, ergĂ€nzte RotkĂ€ppchen und errötete.
âSie sind auch im Kuchen- und GetrĂ€nkehandel tĂ€tig?â
âNein. Nicht direktâ, erwiderte der junge Mann zaghaft. âEher universell ... psychologisch ... ich kĂŒmmere mich um die WĂŒnsche und BedĂŒrfnisse der Menschen ... An- und Verkauf ... sozusagen.â
âOh! Sie sind doch nicht etwa ...â GroĂmutter schluckte.
âNein, nein, nicht was sie denken!â, sagte er eilig. âObwohl manche glauben, ich sei der Teufel, so habe ich mit Seelen nur bedingt zu tun. Mein Name ist Mammon.â Er senkte beschĂ€mt den Kopf.
âMammon? Aber dann sind sie ein Gott! Was tun sie im MĂ€rchenreich?â
âIch versteh es selber nicht richtig. Da sitz ich gemĂŒtlich auf dem GötterhĂŒgel, sĂ€e ein wenig Neid und Missgunst und schau den Menschen beim Tanz ums Goldene Kalb zu. Und dann ... eh ich mich versehe ... bin ich hier.â
âWie konnte das geschehen?â
âNun ... wie gesagt ... ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, es hat was mit dem Geld zu tun. Anfangs dachte ich, es sei eine wirklich gute Idee. Die Menschen konnten handeln und raffen, ĂŒber Grenzen und Zeiten hinweg. Aber dann begannen sie, an das bedruckte Papier an sich zu glauben, an Markt und Gewinn und Zinseszins, ohne sich zu fragen, was dahinter steckt. Wie Sterndeuter und Kaffeesatzleser!â Mammon wurde zusehends lauter. âDie HĂ€user der Menschen bestehen nicht mehr aus Holz und Stein und Arbeit, sondern aus Aktienkursen und Gewinnprognosen.â
âWarum Ă€rgert dich das alles?â, mischte sich der Wolf ein. âDu mĂŒsstest der glĂŒcklichste und gröĂte Gott von allen sein!â
âDu verstehst es nicht! Sie glauben an das ewige Wachstum, obwohl sie wissen, dass ihre Welt eine Kugel - etwas endliches - ist! Sie glauben an Gewinn fĂŒr alle, obwohl offensichtlich ist, dass wo gewonnen wird auch verloren werden muss. Der Goldesel ist wertlos, wenn jeder einen hat. Das unerschöpfliche FĂŒllhorn ist ein MĂ€rchen. Ich bin der Gott eines MĂ€rchens geworden! Deshalb bin ich hier!â Mammon schluchzte. âUnd am aller schlimmsten: FrĂŒher waren die, die an mich glaubten, glĂŒcklich. Heute sind die meisten unglĂŒcklich und darben ... und trotzdem ... trotzdem glauben sie an mich!â
RotkÀppchen legte ihren Arm tröstend um den Freund.
âIch könnte dich fressen, wenn du es nicht mehr aushĂ€ltstâ, bot der Wolf an.
âAch was!â, rief RotkĂ€ppchen. âWie oft hast du die GroĂmutter und mich gefuttert? Das bringt uns nicht weiter.â
âWas wollen sie dann machen? Der Job des JĂ€gers wĂ€re freiâ, schlug GroĂmutter vor. âSeit Bambi und seit alle vom Tierschutz reden, ist er nicht mehr besonders beliebt.â
âUnd wie sollte er das machen?â, spottete der Wolf. âEr stellt sich vor mich hin und sagt: âHör zu! Ich bin der Mammon, und wenn du die Beiden nicht gleich wieder ausspuckst beschmeiĂ ich dich mit CentmĂŒnzen!â Ha! Die Kinder werden sich kringeln vor Lachen.â
âNeinâ, sagte RotkĂ€ppchen. âWir haben einen besseren Plan. Mit Mammon als Experte in der GeschĂ€ftswelt, meiner Erfahrung im GetrĂ€nkehandel und meinem Namen ... ich hab da eine Sektkellerei im Auge.â