Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Herr Schmidt sah sich gezwungen eine Vollbremsung hinzulegen und brachte sein Auto etwa zwanzig Meter vor dem Mann zum Stehen. Er hatte es zwar eilig, aber alles andere wäre fahrlässige Tötung. In seine knappe Zeitplanung hatte er die Wahrscheinlichkeit nicht mit einberechnet, dass ein nackter Mann auf einer karierten Picknickdecke die Landstraße blockieren könnte. Wieso auch? Noch nie ist ihm so etwas untergekommen. Und Herr Schmidt fuhr viel.
In den Seminaren „Ich werde Staubsaugervertreter – für Anfänger“ und „Ich war Staubsaugervertreter, jetzt probiere ich es mit Versicherungen“ hatte er gelernt, dass „ungewöhnliche Umstände entschlossene (...), respektive ungewöhnliche Handlungen (...) erfordern.“
Also hupte er erst mal.
Nachdem der Nackte auch auf das immer energischer werdende Gehupe nicht reagierte, beschloss der erfolglose Vertreter, mit seinem Aktenkoffer bewaffnet, das Gespräch zu suchen:
„Mit Verlaub, ist Ihnen noch zu helfen?“
„Ich hoffe schon“, antwortete das Verkehrshindernis. „Mein Name ist Saldit, Joachim Saldit.“
„Angenehm, Schmidt, Wolfgang Schmidt“, stellte er sich vor und reichte ihm, aus Gewohnheit, seine Visitenkarte. Der Nackte nahm sie nickend entgegen und wusste scheinbar nicht wohin damit. Schließlich setzte er sich mit seinem Hintern darauf, denn es war windig.
„Dürfte ich einmal fragen, was Sie vorhaben?“
„Ich habe eine Lebenskrise. Ich sitze nackt auf meiner Piknickdecke und weigere mich zu sterben.“
„Nun, dann würde ich Ihnen doch dringend vorschlagen einen ungefährlicheren Ort als diesen Verkehrsweg aufzusuchen, um ihre Lebenskrise zu zelebrieren. Außerdem pressiert es mir. In einer Viertelstunde habe ich einen wichtigen Termin.“
„Das verstehe ich sehr gut, aber ich kann jetzt hier nicht weg. Ich bin gerade dabei, ein neues Leben anzufangen. Das will gut überlegt sein. Da kann ich nicht so einfach mir nichts, dir nichts aufstehen und umziehen.“
„Aber Sie könnten sich zumindest etwas anziehen“, meinte Herr Schmidt und kämpfte mit sich, ihm nicht aufs Genital zu schauen. Das gelang ihm allerdings nicht, dafür saß der Mann zu lasziv da.
Es war recht kühl.
„Ich habe nichts mehr anzuziehen. Alles verbrannt“, gestand Herr Saldit.
„Und was soll ich jetzt Ihrer Meinung nach tun?“
„Auf meiner Decke ist genug Platz für zwei. Machen Sie es sich bequem.“
„Schluss jetzt mit diesen Albernheiten. Ich habe genug. Wollen wir doch mal sehen, was die Polizei zu Ihren Spinnereien sagen wird. Die können direkt einen Psychologen mitbringen. So etwas Krankes.“, rief Schmidt und ging schnellen Schrittes zu seinem Auto um sein Handy zu holen. Seine Arme schlenkerten dabei so energisch, dass er sich mit seinem Aktenkoffer, den er noch immer in seiner rechten Hand hielt, sein Knie stieß. Er ließ sich den Schmerz allerdings nicht anmerken. „Zeigen Sie Ihrem Gegenüber keine Schwäche.“ Das hatte er ebenfalls in den Verkaufsseminaren gelernt.
Am Auto angekommen nahm er sein Telefon aus der Freisprecheinrichtung – kein Empfang. „So ein Ärger, heute will mir gar nichts gelingen. Dabei muss ich doch auch noch dringend die alte Frau Sursmeier anrufen um zu fragen, ob sie sich inzwischen entschlossen hat, eine private Möbeltransportversicherung abzuschließen.“
„Sie haben Sorgen. Seit fünf Minuten stehen Sie hier rum und heulen mir einen vor. Es scheint Sie nicht im Geringsten zu interessieren, warum ich so verzweifelt bin“, beschwerte sich der Nackte.
Schmidt wollte gerade sagen, dass es ihn tatsächlich kein bisschen interessiert - doch dann kam er auf die Idee, mit geheucheltem Interesse, ein baldigeres Ende der Sitzblockade herbei führen zu können.
„Dann erzählen Sie schnell. Ich verschiebe meine Kaffeepause etwas nach vorne“, sagte der Vertreter in einem Ton, der es einem schwer machte, zu glauben, er meine es aufrichtig. Er stellte seinen Koffer auf den Boden, öffnete ihn, holte eine silberne Thermoskanne und eine, mit einem belegten Aufbackbrötchen befüllte Tupperdose heraus, schloss den Koffer wieder und setzte sich darauf.
„Ich kam nach Hause und meine Frau war verschwunden“, begann der Nackte. „Alles, was sie mir da ließ war ein Brief, in dem, abgesehen von üblen Beleidigungen stand, sie würde sich jemanden suchen, der Zeit für sie und wirkliches Interesse an ihr hätte.“
„Naja, wir wurden alle mal verlassen, das ist doch kein Grund so ein Nudisten-Theater zu veranstalten“, unterbrach ihn Herr Schmidt mit vollem Mund.
„Es geht nicht darum, dass sie mich verlassen hat. Mir war klar, dass es eines Tages passieren würde. Nein, sie hat mich endlich aufgeweckt. Ich habe nur gegessen um satt zu werden, habe nur durch die Nase geatmet um Luft zu kriegen, habe meine Ohren nur dazu benutzt, mich selber zu hören, nur gesehen, um Hindernissen aus dem Wege gehen zu können. Es gab nur mich und meine Arbeit. Inmitten von Menschen war ich isoliert. Und trotzdem habe ich nicht das getan, was ich tun wollte, sondern nur dass, was ich musste. Ich hab bisher so gut wie nichts von meinem Leben gehabt. Das konnte doch nicht alles sein. Jetzt will ich endlich anfangen zu leben. Und Sie müssten in mir eigentlich Ihr Spiegelbild sehen. Sie machen mir auch nicht den Eindruck glücklich zu sein. Das einzige, was Sie die ganze Zeit quält ist Ihr Zeitdruck und Ihre Arbeit. Ich bin Ihnen vollkommen egal.“
Dann schwiegen beide. Mindestens fünf Minuten saßen sie einfach so da. Sogar als es anfing zu regnen sagten sie nichts.
„Warum haben Sie Ihre Kleidung verbrannt?“ unterbracht der Vertreter schließlich die Stille.
„Keine Ahnung, ich hab mal gelesen, wie befreiend es sein soll, sich von seinen Sachen zu trennen. Ich dachte, dass wäre eine passende Aktion, um neu zu beginnen. Immerhin können sie jetzt nicht mehr nass werden.“
„Und Ihre Piknickdecke?“
„Die ist wasserabweisend.“
„Ganz normal scheinen Sie mir immer noch nicht. Aber egal“, meinte der Vertreter und warf sein halbes, durchweichtes Brötchen weg. „Und dieses Brötchen schmeckt absolut scheiße!“ schrie er und riss sich dabei sein nasses Hemd vom Leib.
Zehn Minuten später:
Ein Auto kam die Straße entlang, blieb stehen und hupte. Dann stieg der Fahrer aus und fragte, was das Ganze soll.
Herr Schmidt schrie: „Wir haben eine Lebenskrise. Wir sitzen nackt auf einer Piknickdecke und weigern uns zu sterben.“
Letzte Aktualisierung: 05.11.2013 - 21.57 Uhr Dieser Text enthält 6421 Zeichen.