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Februar 2006
Tante Amalies Vermächtnis
von Bernhard Röck

Heinz-Rüdiger blickte Tante Amalie an. Sie lag mit Nachthaube im Bett und wirkte, als schliefe sie. Einen Moment zuvor hatte er ihren Puls befühlt und mit einem Taschenspiegel vor ihrer Nase geprüft, ob sie atmete. Aber sie hatte kein Lebenszeichen von sich gegeben. Sie war tot. Vor seinem geistigen Auge sah er sich in einem nagelneuen Sportwagen mit mehreren wohlgeformten Strandschönheiten die Côte d’Azur entlang brausen und in den Sonnenuntergang verschwinden. „Endlich!”, jubelte er und begann, nach ihrem Testament zu suchen, das er sehr bald in ihrem Kleiderschrank fand. Nachdenklich betrachtete er den Umschlag. Wem hatte Amalie wohl ihren Besitz vermacht? Schließlich las er das Schreiben. Seine Augen wurden größer und größer. Wutentbrannt starrte er seine Tante an, murmelte: „Du hast wohl `nen Vogel!“ ununund steckte das Schreiben in seine Manteltasche.





Ein paar Monate später hatte er sich in ihrem Haus eingelebt, die restlichen Wohnungen vermietet und genoss sein Dasein als Erbe. Vor dem Haus stand ein nagelneuer Porsche und verkündete allen die Botschaft von Heinz-Rüdigers Glück. Er begann, gesund zu leben. Schließlich wollte er seinen Reichtum möglichst lange genießen. Er ernährte sich probiotisch, trieb Sport und schlief viel. Meistens ging er schon um neun zu Bett.



Eines Nachts weckten ihn Geräusche. Er sah auf den Wecker. Es war fünf nach zwölf. Er horchte in die Dunkelheit. Da klopfte es auf einmal. „Wer um Himmels willen …”, murmelte er schlaftrunken, als ihm die restlichen Worte auf den Lippen erstarben. Vor dem Fenster zeigte sich eine Nachthaube, die langsam höher stieg. Dann wurde das zerfurchte Gesicht seiner Tante sichtbar und zu guter Letzt schwebte sie im geblümten Nachthemd vor seinem Schlafzimmer. Sie vollführte mit dem Finger eine mahnende Geste, wie sie es in Heinz-Rüdigers Kindheit getan hatte. Anschließend hämmerte sie wieder an die Scheibe. In Panik zog er die Decke über den Kopf. Die alte Frau veranstaltete einen Mordsradau. Angstschweiß trat auf seine Stirn. Als endlich Ruhe einkehrte, war es eins.



In den folgenden Nächten veranstaltete seine Tante zur Geisterstunde immer das gleiche Spektakel. Eines Morgens klingelte es sehr früh. Draußen stand Fräulein Morgenroth, eine Mieterin, und sah Heinz-Rüdiger giftig an. „Herr Stenzel, was war das schon wieder für ein Krach heute Nacht?”

„Äh …”. Er wusste nicht so recht, was er antworten sollte.

„Das Eine sag’ ich Ihnen, wenn das so weitergeht, kündige ich. Sorgen Sie für Abhilfe. Ich brauche meinen Schlaf. Dringend.” Damit drehte sie sich um und ging.

„Selbstverständlich, Fräulein Morgenroth, ich kümmere mich darum”, rief er ihr hinterher. So hatte er sich den Job als Vermieter nicht vorgestellt. Er verfluchte seine Tante. Sogar tot machte sie ihm nichts als Ärger.





Heinz-Rüdiger öffnete die Haustür. Ein eleganter Herr im Anzug um die Fünfzig stand vor ihm.

„Graf Morlock.” Er übersah Heinz-Rüdigers ausgestreckte Hand. „Wir sind verabredet.”

„Kommen Sie bitte herein.” Heinz-Rüdiger führte den Grafen ins Wohnzimmer und bot ihm einen Sessel an.

„Sie sagten am Telefon etwas von einer Präsenz … Wer ist es? Jemand, den Sie kennen … pardon … gekannt haben?”

Heinz-Rüdiger nickte. „Meine Tante. Dieses Haus hat ihr gehört.”

„Ich verstehe. Wahrscheinlich ein purer Routinefall. Eine Verstorbene, die ihr angestammtes Territorium nicht verlassen will.”

„Können Sie ihren Geist verscheuchen?”, fragte Heinz-Rüdiger.

„Gar keine Frage, mein Herr”, erwiderte Morlock gekränkt. „Sie werden das Haus sehr bald für sich haben.”







Nachts, gegen zwölf, wartete der Neffe im Wohnzimmer, wie der Graf ihm befohlen hatte. Dieser war nach oben gegangen, um im Schlafzimmer seiner Arbeit nachzugehen. Punkt zwölf begann ein wildes Poltern. Es waren Schreie zu hören und Geräusche, die wie Schläge klangen. Heinz-Rüdiger sah wie gebannt an die Decke, von der sich plötzlich Putz zu lösen begann. Auf einmal fiel jemand mit lautem Getöse die Treppe herunter. Wie von der Tarantel gestochen rannte Morlock zur Haustür. Heinz-Rüdiger folgte ihm. Er bekam gerade noch die Jacke des Fliehenden zu fassen, ehe dieser das Haus verlassen konnte.

„Lassen Sie mich gehen!”, kreischte der Graf vollkommen hysterisch. Seine Lippe war angeschwollen, was seine Aussprache undeutlich machte. „Ich bleibe keine Sekunde länger in diesem schrecklichen Haus!”

„Aber … Sie haben mir versprochen …”, begann Heinz-Rüdiger.

„Nichts da, Sie Erbschleicher! Ihre Tante hat mir alles erzählt. Sie ist sehr wütend auf Sie. Und an mir, Ihrem `Komplizen´, ließ diese Furie ihre Wut aus. Sehen Sie sich meinen Anzug an!” Dieser hing in Fetzen. Morlocks rechtes Auge war blau geschlagen und sein Gesicht wies blutende Kratzer auf.

„Ich bitte Sie, helfen Sie mir … Was soll ich tun?” Der junge Erbe war verzweifelt. Der Graf starrte ihn wütend an. „Ich kann Ihnen nicht helfen. Diese Suppe haben Sie sich selbst eingebrockt. Man sollte die Toten nie erzürnen.”

„Und wenn ich Ihr Honorar verdopple?”, lockte der junge Mann. Morlock überlegte kurz, fasste sich an einen Schneidezahn und wackelte daran. Der Zahn löste sich aus dem Kiefer und purzelte dem Grafen in die Handfläche. Beide Männer starrten darauf. Da ließ Heinz-Rüdiger die Jacke los. Morlock eilte zu seinem Auto.



Fräulein Morgenroth hetzte in den folgenden Tagen sämtliche Mieter auf und kündigte. Es dauerte nicht lange bis alle ausgezogen waren. Der nächtliche Krach hatte sie immer wieder um den Schlaf gebracht. Ihr Vermieter selbst schlief ebenfalls kaum noch.



Der Filialleiter der Bank sah Heinz-Rüdiger mürrisch an. Kurz nach der Erbschaft hatte sich der Kerl noch schier überschlagen vor Freundlichkeit. „Herr Stenzel, es gibt da ein paar … Unklarheiten.“

„Die wären?“, fragte Heinz-Rüdiger scheinheilig.

„Die Mieteinnahmen waren Voraussetzung für Ihren Kredit. Nun sehe ich in den Unterlagen … keine Einnahmen, keine Miete. Was ist los?“

Der Erbe fühlte sich unbehaglich. „Ich arbeite daran“, sagte er.

Der Filialleiter sah ihn skeptisch an. „Im Interesse der Bank muss ich Ihnen leider sagen: es ist kurz vor zwölf.“

Heinz-Rüdiger schauderte.



Er ließ sich nicht unterkriegen. In der Folge tat er so, als gäbe es den nächtlichen Spuk nicht. Aber er unterschätzte die Wirkung der Erscheinungen. Je länger er sie ignorierte, desto schlechter ging es ihm. Dunkle Augenringe und ein ungepflegtes Äußeres zeigten seine wahre Verfassung. Sein Konto wies ein immer größeres Defizit auf. Der heiss geliebte Porsche wurde abgeholt, weil Heinz-Rüdiger die Raten nicht mehr zahlte. Dann, eines Nachts, war der Erbe so zermürbt, dass er seine Angst überwand.

„Na endlich, das wurde auch Zeit”, meckerte Amalie, als er das Fenster öffnete.

„Was willst du?”, fragte ihr Neffe müde.

„Das weißt du genau.”

„Nein, tu’ ich nicht”, log er.

„Ich will, dass du mein Vermächtnis erfüllst.”

„Ich hab’ keine Ahnung, wovon du sprichst. Ich bin dein einziger Verwandter, daher steht mir dein Besitz zu. So bleibt alles in der Familie.”

„Du Lügner. Ich wusste immer, dass du einen schlechten Charakter hast. Aber deine Mutter, Gott hab sie selig, hat mir ja nie geglaubt. Nun sieht sie selbst, was für ein mieser Gauner in dir steckt. Wo ist der Umschlag, den du Verbrecher hast verschwinden lassen?”

„Schlag dir das aus dem Kopf. Ich bin dein Erbe und sonst niemand.”

„Du hättest ein schönes Sümmchen erhalten.”

„Aber nicht alles. Ich habe jetzt alles und gebe es auch nicht mehr her!”

„Betrüger!”, rief sie.

„Alte Ziege!”, schimpfte er.

„Erbschleicher!”

„Ich gebe das Haus nicht her, niemals, nie, nie, nie!” Wutentbrannt schlug Heinz-Rüdiger ihr das Fenster vor der Nase zu, dass es nur so schepperte.





Alle Nachbarn hatten sich vor Tante Amalies Haus eingefunden, um dem Schauspiel beizuwohnen. Wortlos lauschte Heinz-Rüdiger dem Beamten, der den Vollstreckungsbescheid in Begleitung von zwei Polizeibeamten verlas. Dann begannen die Möbelpacker ihre Arbeit. Stück um Stück trugen sie seine Sachen aus dem Haus und beluden einen LKW. Neben dem Beamten stand der gegnerische Anwalt.

„Das Dokument ist eine Fälschung”, sagte Heinz-Rüdiger zu diesem. Der sah ihn mitleidig an. „Herr Stenzel, das hatten wir schon vor Gericht. Die Echtheit der Schenkungsurkunde mit der Unterschrift Ihrer Tante wurde von mehreren Gutachtern zweifelsfrei bestätigt. Sie hat ihren Besitz dem Waisenhaus in Argentinien bereits zu Lebzeiten überschrieben. Das Gericht hat Ihnen daher alle Erbrechte aberkannt. Ohnedies haben Sie davon gewusst. In meinen Augen sind Sie ein ganz plumper Erbschleicher.”

„Ich hab’ nichts davon gewusst!”, zischte Heinz-Rüdiger.

„Wie kommt dann Ihre Unterschrift auf das Dokument? Als Zeuge? ”

Seine Tante hatte diese Urkunde irgendwie herbeigezaubert. So etwas sah der Alten ähnlich.

„Wissen Sie, wenn man sich ein Erbe ergaunern will, sollte man es geschickter anstellen.”

Heinz-Rüdiger musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut los zu schreien: Ich war raffiniert! Dieses Dokument habe ich noch nie gesehen und unterschrieben hab’ ich’s schon gar nicht! Das war meine Tante. Sie hat alles gefälscht, um mich zu ruinieren.

„Weitere rechtliche Schritte in Bezug auf das von Ihnen widerrechtlich angeeignete Barvermögen behalten wir uns vor”, sagte der Anwalt, reichte Heinz-Rüdiger seine Karte und ging.

„Diese alte Ziege”, murmelte der Neffe. Plötzlich vernahm er ein wildes Klopfen. Erschrocken blickte er auf und meinte, das Lachen seiner Tante zu hören. Er musste sich eingestehen, dass Amalies Vermächtnis erfüllt war. In diesem Moment kam einer der Möbelpacker zu ihm.

„Wo sollen die ganzen Sachen hin? Haben Sie irgendjemand, der Sie aufnimmt?”

Blitzartig fiel Heinz-Rüdiger etwas ein und seine finstere Miene hellte sich auf. „Ich schreibe Ihnen die Adresse auf”, sagte er. Onkel Heinrich würde sich bestimmt freuen, seinen Neffen wieder zu sehen. Er hatte ein geräumiges Haus, das er allein bewohnte.

Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 10.32 Uhr
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