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Februar 2006
Die Wahrheitskugel
von Susanne Ruitenberg

Ziellos, ohne einen Blick für ihre Umgebung, schlenderte Lana durch die verwinkelten Gassen ihrer neuen Heimat. Sie fühlte sich verloren, eingehüllt in eine Wolke von Trauer. Der Neuanfang nach Peters Tod fiel ihr schwer. Plötzlich stand sie vor einem Schaufenster. Das Sammelsurium darin, weder Nippes noch Antiquitäten, erweckte ihre Neugierde, sie betrat den Laden. Ihre Augen mussten sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Alles war voll gestellt mit alten Büchern, Möbeln, Spielzeug, Küchenutensilien. Vorsichtig bahnte Lana sich einen Weg. Blaues Leuchten erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein einsamer Sonnenstrahl fiel durch das Schaufenster, genau auf eine durchsichtige Kugel. Lana nahm sie vorsichtig hoch. Sie war massiv, schwer, etwa apfelgroß. Die Oberfläche fühlte sich kühl und glatt an. Lana sah hinein. Bewegte sich da nicht etwas? Nein, im dunklen Blau verbargen sich helle Schlieren, wie Schönwetterwölkchen am Sommerhimmel.

„Gefällt Sie Ihnen?“, fragte eine raue Stimme. Lana wirbelte herum, ließ dabei beinahe den Glasball fallen.
„Ja“, hauchte sie. Eine alte Frau kam hinter der Kasse hervor. Ganz in Schwarz, das graue Haar zu einem Knoten gebunden.
„Kindchen, sie hat Sie erwählt. Das habe ich am Leuchten gesehen. Sie wird Veritas genannt. Besonderen Menschen zeigt sie Dinge.“
„Dinge?“
„Manchmal Vergangenes, manchmal die Zukunft. Nehmen Sie sie, nur fünf Euro.“
Wie ferngesteuert holte Lana einen Geldschein aus der Tasche.
„Behüten Sie sie wohl. Schönen Tag.“
„Danke.“
Mit den langsamen Bewegungen einer Schlafwandlerin packte Lana die Kugel vorsichtig in ihren Rucksack und ging.
Einige Zeit später stand sie auf dem Marktplatz. Sie wusste nicht, wie sie dort hingekommen war. Den Abstecher im Laden hatte sie fast vergessen. Nach einem Cappuccino im Markcafé ging sie heim.

Vorsichtig packte Lana die Kugel aus. Das Blau war heller als im Laden! Nein, das kam sicher durch die Lichtverhältnisse. Sie legte sie vorsichtig auf den Schreibtisch.
Am Abend kuschelte sich Lana mit einem Buch auf das Sofa. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder sah sie zum Schreibtisch hinüber. Ein blauer Lichtschimmer auf ihren Buchseiten ließ sie aufblicken. Die Kugel leuchtete. Lana nahm sie in die Hand. Gebannt sah sie auf die sich eindeutig bewegenden Lichtschlieren. Waren das Figuren? Das war Peter! Auf seiner letzten Dienstreise, von der er nicht zurückgekehrt war. Der kleine blaue Peter in der Kugel setzte sich hinter das Steuer seines Sportwagens. Lana stutzte. Eine Frau stieg hinzu. Das Bild flackerte. Der Wagen brauste jetzt über die Landstraße. Die Frau saß nicht mehr aufrecht. Wo war sie? O Gott, sie hatte den Kopf in Peters Schoß. Lana wurde übel. Sie musste sich am Schreibtisch festhalten. Der Wagen streifte etwas Großes, Dunkles, und überschlug sich, blieb als zerstörtes Wrack liegen. Die Frau wurde hinausgeschleudert. Dass eine zweite Person beteiligt war, hatte die Polizei ihr verschwiegen. Bestimmt steckten Peters Kollegen dahinter. Ohne nachzudenken, warf Lana mit einem angewiderten Aufschrei die Kugel auf den Fliesenboden. Sie hinterließ eine Delle und zersprang in Tausende blaue Scherben. Schluchzend fegte Lana die Reste zusammen und warf sie in den Mülleimer.
In dieser Nacht schlief sie schlecht. Sie träumte von Peter und der Fremden.

Sie erwachte davon, dass blaues Licht auf ihre Augen fiel und schreckte hoch. Die Kugel lag unversehrt auf ihrem Nachttisch. Lana stieß einen spitzen Schrei aus und warf ihr T-Shirt darüber. Das Leuchten drang durch den Stoff.

Vorsichtig packte sie T-Shirt und Kugel in den Rucksack.
Der Laden war nicht mehr da. Den ganzen Tag suchte sie vergeblich. Resigniert schloss sie am Abend ihre Wohnung auf. Sie würde den Rucksack im Schrank deponieren.
Ohne, dass sie es beeinflussen konnte, packten ihre Hände stattdessen die Kugel aus und legten sie wieder auf den Schreibtisch. Als Jana es merkte, floh sie in die Küche. Lustlos knabberte sie eine trockene Brotscheibe und überlegte, wie sie das Ding loswerden könnte.

Wenig später stand sie vor dem Schreibtisch, den Glasball in der Hand. Sie hatte keinerlei Erinnerung daran, hierher gegangen zu sein. Gebannt starrte sie auf die Schlieren. Zwei Figuren wurden sichtbar. Ihre Eltern. Vor zehn Jahren waren sie spurlos verschwunden, nachdem die jahrelangen Unterschlagungen ihres Vaters ans Licht gekommen waren. Was taten sie? Sie standen an einer Klippe, Hand in Hand. Wie auf Kommando drehten sie ihre Köpfe zueinander, gaben sich einen Kuss und sprangen in die Tiefe. Lana bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und sank in sich zusammen.

Nach einiger Zeit stand sie auf und holte ein vorfrankiertes Postpäckchen aus dem Schreibtisch. Sie bettete die Kugel mit Zeitungspapier umwickelt hinein. Aus dem Internet suchte sie eine Adresse in Alaska als Adressat, als Absender eine in Russland. Bevor sie zu Bett ging, wollte sie die Kugel aus dem Haus haben. In der nächsten Stadt war ein Päckchenbriefkasten. Nachdem sie den Karton dort eingeworfen hatte, fühlte sie sich befreit.

Drei Tage später war Lanas erster Arbeitstag an ihrer neuen Stelle. Voll freudiger Erwartung betrat sie das Gebäude.
Herr Schwarz, ihr Abteilungsleiter, holte sie am Empfang ab.
„Guten Tag, Frau Ebert. Willkommen bei Heinbach Getriebe. Ich bringe Sie an Ihren Platz.“
Er führte sie in den zweiten Stock und klopfte an einer Tür mit der Aufschrift ‚Sekretariat’.
„Frau Blumenroth, hier ist Ihre neue Kollegin. Darf ich sie Ihnen anvertrauen, ich muss in eine Besprechung. Frau Ebert, ich wünsche Ihnen einen guten Start bei uns.“
„Vielen Dank, Herr Schwarz.“
Lächelnd kam Frau Blumenroth auf Lana zu.
„Dem schließe ich mich an. Das ist Ihr Schreibtisch. Ich sehe, jemand hat Ihnen bereits eine Firmentasse hingestellt. Nehmen Sie Platz, ich koche Kaffee. Nein, das zeige ich Ihnen später, richten Sie sich erst ein.“

Lana stellte ihre Handtasche ab. Sie griff zur Schachtel, auf der ein Kaffeebecher abgebildet war. ‚Heinbach Getriebe’ stand in gelben Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Sie war ungewöhnlich schwer.

Frau Blumenroth ließ die Kaffeekanne fallen, als sie die gellenden Schreie hörte, und rannte los. Die neue Kollegin kniete am Boden, starrte in die aufgerissene Pappschachtel.

Ihr blasses Gesicht reflektierte blaues Licht.

Letzte Aktualisierung: 19.07.2011 - 14.47 Uhr
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