Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
Opa Heiner sah sich als Familienoberhaupt, nicht nur weil er der Älteste war, sondern weil es sich so gehörte und er der Älteste war. Darin lag ein feiner Unterschied und er nahm es als selbstverständlich hin, dass er von seiner Verwandtschaft zum Essen eingeladen wurde. Denn seine Rente, er ließ keine Gelegenheit aus, um das zu betonen, war gelinde gesagt mickrig. Seinen Schilderungen nach zu urteilen, lebte er unterhalb der Armutsgrenze und konnte sich gerade noch mit Müh und Not Brot und Milch leisten. Solche Luxusgüter wie Bohnenkaffee, Schokolade und vielleicht sogar eine gute Zigarre gab sein schmaler Geldbeutel bei weitem nicht her. Also wurde Opa Heiner reichlich und zuverlässig von der gesamten Familie versorgt.
Zigarren beschaffte ihm Christoph, Hildes Mann. Die übrige Verwandtschaft wechselte sich wöchentlich ab und brachte ihm einen voll bepackten Esskorb vorbei. Oben auf lag der Bohnenkaffee und die heiß geliebte Tafel Schokolade, dazu kamen Plätzchen, etwas Wurst, Käse und eine Flasche Schampus für den Kreislauf. Brot und Milch konnte er sich ja, nach eigenen Angaben, gerade noch leisten und allzu verwöhnen wollte man ihn schließlich auch nicht. Da Opa Heiner nicht kochen konnte und es auch nicht wollte, da er schließlich ein Mann war und in der Küche nichts zu suchen hatte, außer sich einen Kaffee aufzubrühen, verbrachte er die Sonntage bei seinen Kindern und Kindeskindern. Es gab eine Liste, die einmal jährlich aufgestellt wurde und in die sich jeder einzutragen hatte, auch Hilde.
Hilde stand mit Opa Heiner auf Kriegsfuss, schon seit jeher. Hinter ihrem Rücken hatte er sie als aufgetakelte Schnepfe bezeichnet und verlauten lassen, dass sein Enkel Christoph, wohlgemerkt sein allerliebster Enkel, dieses doch sonst so schlaue Kerlchen, mit etwas Anstrengung eine bessere Frau hätte finden können.
Es gab kaum ein Familienfest bei dem sie nicht aneinander gerieten. Es genügte nur der Satz: „Frauen gehören nicht in die Politik, sondern an den Herd und sollen Kinder groß ziehen!“ Und Hilde explodierte. Jedes Mal. Egal, was Christoph ihr vorher eingeimpft hatte. „Nimm ihn doch nicht ernst! Er ist ein alter Zausel, bei dem die Zeit stehen geblieben ist. Lass ihn doch reden! Hör gar nicht hin!“
Hilde explodierte trotzdem und nächsten Sonntag sollte sie ihn auch noch bekochen. Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen und deshalb entschied sie sich kurzfristig für ein Raclette mit saftiger Rinderlende, Käse, etwas Gemüse und Stangenweißbrot. Der Aufwand war gering, denn Fertigsoßen gab es in jedem Supermarkt zu kaufen und es schmeckte trotzdem.
Opa Heiner bekam den bequemsten Sessel, besah misstrauisch das elektrische Gerät, das vor ihm auf dem Tisch stand und dann seinen leeren Teller.
Christoph zeigte ihm geduldig, was er zu tun hatte. Fleisch auf die heiße Platte legen, dann etwas würzen. Käse in das Pfännchen legen, unten hinein schieben und warten. Opa Heiner war einer von jenen Rentnern, die keine Zeit zu verschenken hatten und auf sein Essen warten, wollte er schon gar nicht. Also scheuchte er Hilde in die Küche, damit sie ihm schnell ein Wurstbrot machen sollte, denn er hatte gewaltigen Hunger und würde von dieser umständlichen Tischgrillerei nie im Leben satt werden. Hilde musste feststellen, dass es nichts Schlimmeres gab, als einen alten Mann, der nicht sofort und auf der Stelle seinem Wams voll- schlagen konnte. Zwei Tage später war er tot.
Zur Beruhigung, er war keineswegs verhungert. Auch starb er nicht an den Folgen einer Lebensmittelvergiftung. Opa Heiner fiel aus dem Fenster, als er eine Taube vom Dach schießen wollte, die am Schornstein seines Häuschens herumpickte. Es war nicht die erste Taube, die er so dem Garaus gemacht hatte, aber so viel stand fest, bestimmt seine Letzte.
Hilde musste auf jeder Beerdigung heulen wie ein Schlosshund, egal welchen armen Teufel es getroffen hatte, aber nicht diesmal. Während der Sarg eilig in das Erdloch rumpelte, als hätte er auch jetzt keine Zeit zu verlieren, sah sie immer wieder in Gedanken Opa Heiner aus dem Fenster fallen. Er segelte geradezu mit einer Leichtigkeit durch die Luft, ihm hinterdrein flogen die karierten Pantoffel und das Gewehr wirbelte ins Gebüsch, während eine graue Taube selig gurrend davon flog.
Hilde stand da und konnte nicht weinen, nicht einmal dann, als sie verkrampft versuchte an etwas Trauriges zu denken. Tierversuche zum Beispiel, oder Ölpest. Das tauchte immer wieder die Taube auf, die gurrend davon flog und sich ihres Lebens freute.
Doch die Rache folgte auf den Fuß, denn nach der Testamentseröffnung war Hilde stolze Besitzerin eines legendären Oldtimers, eines Motorrads der Marke Fochj NSU 250, Baujahr 1954. Christoph hingegen hatte eines seiner mageren Sparbücher geerbt, wie fast jeder, der zur Familie gehörte. Zusammengerechnet ergab das allerdings eine stattliche Summe, und das, obwohl sich Opa Heiner zu Lebzeiten doch nur Milch und Brot hatte leisten können. Christophs Schwester hingegen durfte sich nun Eigentümerin seines baufälligen Häuschens nennen und rätselte lange darüber nach, was günstiger kam, es abreißen zu lassen oder es kurzerhand anzuzünden.
Das einzig Wertvolle hatte Hilde bekommen, ein Sammlerstück, auf das ihr Ehemann schon lange erpicht gewesen war, und als sein Lieblingsenkel hätte ihm dieses Prachtstück auch zugestanden. Hilde konnte nicht einmal Motorrad fahren, sie besaß keinen Führerschein und würde nie im Leben einen Sturzhelm aufsetzen, weil dieser ihre Frisur ruinieren könnte.
Was also wollte sie damit anstellen? Sich damit fotografieren lassen? Es jedem zeigen und damit angeben? „Schaut her! Das gehört mir. Ich kann es zwar nicht fahren, aber ist das nicht ein wunderschönes Rot? Und das Chrom glitzert so hübsch, nicht wahr? Christoph darf die Maschine auch regelmäßig polieren. Nur fahren, nein fahren, darf er sie nicht.“
Opa Heiner! Du alter Zausel!
Da hatte er ihn immer wieder vor Hilde verteidigt. Ihn in Schutz genommen, und nun trieb er aus reiner Boshaftigkeit, selbst nach seinem Ableben, noch einen solchen Keil in ihre eheliche Zweisamkeit.
Was wenn sie das Motorrad einfach verkaufte? Den ideellen Wert einer solchen Rarität konnte sie wahrlich schwer erkennen. Es gab Streit. Natürlich gab es Streit und das Wort Scheidung bekam einen realen Hintergrund.
Hilde war zwar stur, aber nicht ohne Grips, und sie wusste, wann es Zeit wurde einen Kompromiss zu schließen. Fahren konnte sie dieses Gerät aus den Fünfzigern natürlich nicht, würde es wahrscheinlich nicht einmal anbekommen und hatte es auch nicht vor. Doch warum sollte sie das Motorrad nicht vermieten? Es gab genügend Liebhaber, die sich diese italienische Sportmaschine aus Bologna einmal ausleihen würden. Zu bestimmten Anlässen, wie Hochzeiten, Jubiläen und auch Geburtstagen. Hilde setzte eine Annonce in die Zeitung. Es dauerte nicht lange und das Geschäft florierte. Natürlich durfte sich Christoph den Oldtimer auch ausleihen, allerdings nur bei schönem Wetter, wenn es nicht regnete und der Asphalt trocken war. Gefahren wurde nur bei Tageslicht, und es sollten nicht viele Lkws auf den Straßen unterwegs sein. Bei zu kaltem oder zu heißem Wetter wurde ebenfalls keine Erlaubnis erteilt und selbstverständlich musste der Wind günstig stehen. Sonst noch was? Nein, das war es … dann doch.
Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 10.00 Uhr Dieser Text enthält 7394 Zeichen.