„Suchen Sie meinen Neffen Alfred. Er ist mein einziger Erbe.“ Notar Norbert Ganterbein saß an seinem Schreibtisch und dachte darüber nach, wie er den Mann finden könnte. Sein Auftraggeber, der vor einer Woche verstorbene Karl Runkel, hatte ihm kurz vor seinem Tod mitgeteilt, dass sein Neffe vor fünfzehn Jahren verdächtigt wurde, an einem Banküberfall beteiligt gewesen zu sein, bei dem eine junge Frau ums Leben gekommen war. Beweise fehlten, aber es gab eine schlüssige Indizienkette. Alfred nutzte damals einen Vernehmungstermin zur Flucht und tauchte unter. Die Ermittlungsbehörden konnten ihn nie ausfindig machen. Seinem Onkel hatte er kurz vor dessen Tod geschrieben, dass er mit dem Bankraub nichts zu tun habe. Der Brief war in Sao Paulo aufgegeben worden.
Norbert Ganterbein griff zum Telefonhörer und beauftragte seinen Detektiv, nach Brasilien zu fliegen und Alfred Runkel zu suchen. Dass es sich bei der Zielperson möglicherweise um einen Mörder handelte, verschwieg er ihm.
Die Tage verstrichen ohne Ergebnis. Der Notar wurde nervös. Sollte der Neffe nicht gefunden werden, würde das große Vermögen an den Tierschutzverein fallen. Bei dieser Vorstellung wurde ihm übel. Nach mehr als drei Wochen rief endlich sein Detektiv an und teilte ihm mit, dass er den Gesuchten gefunden habe. Ganterbein machte sich Notizen, gab seinem Mitarbeiter Anweisung, zurück zu kommen, beauftragte ein Reisebüro mit der Buchung eines Fluges und eines Hotelzimmers in Sao Paulo und war zwei Tage später dorthin unterwegs.
Diese riesige Stadt, das Kraftzentrum Brasiliens, verursachte ihm Beklemmungen. Wolkenkratzer, wohin das Auge schaute. Das Taxi brauchte fast drei Stunden vom Flughafen bis zum Hotel. Der Fahrer raste, hupte immer wieder und wie es dem Notar schien, oftmals vollkommen unmotiviert. Einmal hatte er den Eindruck, das Taxameter sei beim Hupen weitergesprungen. Von da an beobachtete er den Chauffeur, der nun an roten Ampeln aufs Gaspedal trat und den Motor aufheulen ließ, was denselben Effekt hatte, wie Ganterbein glaubte. Er seufzte und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Sollte er sich wegen dieser Geldschneiderei aufregen? Seine Kosten wurden doch vom Erblasser bezahlt.
Sie fuhren vor dem Hotel vor, das das Reisebüro gebucht hatte. Der Notar zahlte, ließ sich eine Quittung geben, stieg aus, trat durch die Drehtür in ein mit rotem Samt ausgestattetes Foyer, in dem er sich sofort wohlfühlte. Die Sesselgruppen wirkten einladend und die weichen Teppiche dämpften angenehm die Geräuschkulisse. Hinter dem Empfangstisch stand ein Asiate. Es schien also zu stimmen, dass in Sao Paulo eine große japanische Volksgruppe zu Hause war, wie es in einem Bericht über Brasilien gestanden hatte. Der Portier sprach fließend englisch und konnte sogar ein paar Brocken deutsch. Ganterbein war erfreut. Er bat den Mann, für den nächsten Tag einen englisch sprechenden Taxifahrer zu besorgen.
Nach dem Frühstück verließ der Notar das Hotel, traf draußen seinen Chauffeur und gab ihm einen Zettel mit der Anschrift, unter der der gesuchte Neffe wohnen sollte. Dann fuhren sie fast zwei Stunden, bis der Wagen vor einem gepflegten achtstöckigen Wohnhaus hielt. Ganterbein stieg aus, ging auf das Gebäude zu, drückte gegen die Eingangstür. Sie öffnete sich, so dass er eintreten konnte, ohne klingeln zu müssen. Sein Blick fiel auf die Briefkästen. Er suchte den Namen Alfredo Ruebo, wie sich Runkels Neffe hier nannte. Als er ihn sah, holte er einen braunen Briefumschlag aus seinem Jackett und warf ihn ein. Dann wandte er sich um und ging zurück zu dem wartenden Taxi.
In dem Kuvert befand sich ein Schreiben, mit dem sich der Notar vorstellte und mitteilte, wo er in Sao Paulo zu erreichen war. Hinzugefügt hatte er Kopien seines Personalausweises und des Vermächtnisses von Karl Runkel. Zurück im Hotel wartete er dann mit Spannung auf einen Anruf.
Am frühen Nachmittag klingelte das Telefon in seinem Zimmer. Der Erbe meldete sich mit seinem richtigen Namen und schlug ein Treffen in der Nähe seiner Wohnung vor. Dort gab es einen kleinen Park. Ganterbein sollte sich auf eine der Bänke setzen und als Erkennungszeichen eine Postkarte neben sich legen. Die beiden Männer verabredeten sich für den nächsten Tag gegen elf Uhr.
Der Notar nahm wieder den Taxifahrer vom Vortag. An dem Park stieg er aus und bat den Chauffeur zwei Stunden später zurückzukommen. Mit einem breiten „Okay“ brauste der Mann davon.
Kaum saß Ganterbein auf einer der Parkbänke und hatte die Postkarte neben sich gelegt, erschien ein dunkelhaariger, braun gebrannter schlanker Mann, setzte sich zu ihm und fragte: „Sind Sie der Herr aus Deutschland?“
„Ja“, rief der Notar erfreut und fuhr fort: „Und Sie sind Alfred Runkel?“
„Genau.“
„Gut. Dann unterbreite ich Ihnen jetzt meinen Vorschlag zur Abwicklung der Erbschaft, die sich insgesamt auf drei Millionen Euro beläuft, angelegt in Festgeldern, Aktien und Sparzertifikaten. Darüber hinaus gibt es noch vier Immobilien sowie das übliche Mobiliar samt Hausrat und zwei Fahrzeuge...“
Ganterbein senkte seine Stimme, denn er kam nun zum wichtigsten Teil seiner Mitteilung. Die bestand darin, dass er fünfzig Prozent der Erbschaft beanspruchte. Dafür würde er sicherstellen, dass niemand vom Aufenthaltsort Alfred Runkels erfahren würde.
Der Erbe ließ sich bei dieser Erklärung keine Gefühlsregung anmerken. Er nickte und sagte dann: „Ich brauche Bedenkzeit. Die ganze Sache ist überhaupt sehr überraschend für mich.“
„Selbstverständlich“, rief der Notar eilfertig. „Ich wollte sowieso ein paar Ausflüge machen, wenn ich schon einmal in Brasilien bin. Morgen reise ich zu den Wasserfällen des Iguacu und werde erst in fünf Tagen wieder zurück sein.“
„Gut“, nickte der Neffe des Erblassers. „Dann treffen wir uns in einer Woche um 11.00 Uhr in meiner Wohnung.“
„Nein, mir ist lieber, wenn wir uns in meinem Hotel treffen. Dort gibt es einen sehr angenehmen kleinen Konferenzraum. Außerdem brauche ich dann nicht wieder die lange Fahrt durch die Stadt zu machen, sondern Sie“, entgegnete der Notar augenzwinkernd, worauf der Erbe stumm nickte, sich erhob, Ganterbein die Hand reichte und förmlich sagte: „Auf Wiedersehen. Ich wünsche Ihnen eine vergnügliche Reise.“
Bis zur Rückkehr seines Taxis ging der Notar in dem kleinen Park auf und ab. Am liebsten hätte er Luftsprünge gemacht, so erleichtert war er. Nun war alles so arrangiert, dass ihm nichts zustoßen konnte. Den gefährlichen Vorschlag, in die Wohnung des Erben zu kommen, hatte er locker und unauffällig abgewehrt. Nach dem Ausflug würde er das Hotel nicht mehr verlassen und dann vorzeitig abreisen.
Alfred Runkel kehrte in seine Wohnung zurück. Jetzt war er noch aufgewühlter als nach dem Erhalt des braunen Umschlags. Er musste weg, wieder flüchten, eine neue Identität annehmen.
Er würde zunächst zu seiner langjährigen Vertrauten Judith in die Berge fahren und dann weitersehen. Er warf ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer auf dem Bett. Sollte er auch die schöne Katze aus Muranoglas mitnehmen? Sie erinnerte ihn an den Kater, den er bei der Flucht aus Deutschland zurückgelassen hatte.
Er ging zur Abstellkammer, nahm ein paar Zeitungen von einem Packen, der dort gestapelt war, kehrte zurück ins Schlafzimmer, drehte die Skulptur ein, legte sie zwischen die zusammengefalteten Kleidungsstücke, wusch sich die Druckerschwärze von den Händen ab, ließ sich dann aufs Bett neben den Koffer fallen und schlief vom Stress erschöpft ein. Im Traum erlebte er seine Flucht aus Deutschland noch einmal, dann die Begegnung mit dem Notar. Wut über diesen Mann ergriff ihn, so dass er erwachte. Er ging ins Wohnzimmer, holte zwei Bücher und packte sie in den Koffer. In dem Augenblick elektrisierte ihn ein Wort auf dem Zeitungspapier, mit dem er die Katze eingewickelt hatte. Er faltete es vorsichtig auseinander. Es war ein Teil der Rheinischen Post, die ihm ein Freund ab und zu kaufte, um ihm eine Freude zu bereiten. Alfred hatte kein Interesse an dieser Zeitung und überschlug daher immer nur die Schlagzeilen der ersten Seite. Jetzt aber las er im Lokalteil: „Banküberfall nach vierzehn Jahren aufgeklärt. Täter geständig“. Als er mit dem Artikel fertig war, umfing ein Lächeln seine Lippen. Er begann, den Koffer wieder auszupacken. Dieser Notar sollte sein blaues Wunder erleben.
Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 10.29 Uhr Dieser Text enthält 8441 Zeichen.