Liebesgeschichten ohne Kitsch? Geht das? Ja - und wie. Lesen Sie unsere Geschichten- Sammlung "Honigfalter", das meistverkaufte Buch im Schreiblust-Verlag.
Unser Mathelehrer, der alte Feldbusch, baute sich breit neben meinem Pult auf und zog seine Nasenwurzel kraus über dem Bügel seiner Nickelbrille zusammen.
Ich wusste allzu gut, was das zu bedeuten hatte. Leider.
Meine Knie begannen unter den weiten Beinen meiner Flanellhose zu schlottern. Eine Hitzewelle wogte den Hals hinauf bis über die Ohren zu den Haarwurzeln.
„Der Hansi wird wieder rot!“
Peter wurde nie rot. Hatte sich sogar getraut laut zu rülpsen, als der Feldbusch uns zu Stundenbeginn erzählt hatte, John F. Kennedy sei tot. Der Pauker hat schweigend auf den Boden geguckt und in sein kariertes Taschentuch geschnäuzt. „Das ist ein herber Verlust für die Ost-West-Politik“, flüsterte er und wischte sich über seine Augen. Der Feldbusch und Tränen? Auf den Peter hatte der nicht reagiert.
Aber nun stand er bedrohlich vor mir.
„Gleich pinkelt sich Hansi die Buxe voll!“
Ja, ja, der Klaus, der hatte gut reden. Der steckte alle Hiebe vom Pauker weg ohne mit der Wimper zu zucken.
„Ruhe!“, brüllte Feldbusch durchs Klassenzimmer und zog mich an meinem Ohr hoch. „Arm ausstrecken und Handfläche flach nach oben!“ Er drehte sich kurz zu Klaus und meinte, der sei auch gleich dran wegen einer Sechs und dem vorlauten Zwischenruf.
Ich schaute auf meine Schuhe, presste meine Oberschenkel aneinander und bemühte mich, den Arm ruhig zu halten. Mein Herzschlag dröhnte dumpf hinauf bis in die trockene Kehle.
Feldbusch holte den Rohrstock hinter seinem Rücken hervor: „Hans Jürgen! Wieder eine Fünf in der Mathematik-Klausur!“ Er grinste breit, fuhr sich mit der Zunge über seine gelben Zähne und zischte: „Meinen Stock freut `s, du fauler Nichtsnutz!“
Zscht! Zscht! Beim zweiten Hieb lief es mir warm an den Beinen hinab und durchnässte auch meine Socken.
Der Alte schlug oft zu. Und jedes Mal brannte sich der Stock heiß in meine Handfläche. Die Haut schwoll von Schlag zu Schlag mehr an. Ich kniff meine Augen zusammen. Bloß nicht weinen und als Feigling dastehen.
„Setzen! Und mitschreiben!“
Unser Lehrer stand an der Tafel und schrieb Formeln an.
Ich bebte und hatte Mühe, meinen Tintenfüller mit der schmerzenden Hand aufzunehmen. Feldbusch hielt inne und drehte sich herum: „Mitschreiben habe ich gesagt, Hans Jürgen!“
Er starrte auf mein Pult. Aber ich war nicht in der Lage, meinen Füller über die Kladdenseite zu führen.
Feldbusch kräuselte wieder seine Nasenwurzel, ging zum Lehrertisch, nahm den Rohrstock und ließ ihn mehrmals in seiner Handfläche hinauf und hinunter gleiten.
Trotz schneidender Schmerzen gelang es mir endlich, den Füllfederhalter aufzunehmen und krakelig zu schreiben. Mein Nacken schmerzte und meine Schultern waren steif, als wären sie in einem Panzer gepresst. Unter meinen Ponyfransen hatte sich eine große Schweißperle gebildet, die zwischen meinen Augenbrauen die Nase hinablief und auf meiner Nasenspitze hängen blieb. Ich wollte sie abwischen. Aber meine Hand gehorchte mir nicht. Da passierte es. Der Schweiß tropfte auf das Blatt und verschmierte das Geschriebene. Ich hörte das Quietschen von Feldbuschs Specksohlen, und hielt den Atem an. Die Spitze seines Rohrstockes zeigte auf die verschmierte Tinte. „So eine Sauerei!“ Ich spürte seinen festen Griff im Genick. Dann drückte er mein Gesicht hart auf das Blatt. Ein dumpfer Schmerz an Nase und Stirn ließ Tränen hervorschießen. Feldbusch zog meinen Kopf an den Haaren hoch und schrie: „Da ist ja eine noch viel größere Sauerei entstanden!“
Er zog mich an meinem linken Ohr hoch. Dieses Mal musste ich den anderen Arm ausstrecken: „Die Handfläche nach oben!“
. . .
Auf dem Heimweg trug ich schwer an der Fünf im Ranzen. Langsam bog ich in die Koloniestraße ein. Der Druck in meinem Magen wurde unerträglich. Ich betrat die Brücke über die Emscher, steckte mir einen Finger in den Hals und würgte das Schulfrühstück übers Geländer in die Kloake. Meine nassen Füße waren zu Eisklumpen gefroren. Eine Gänsehaut zog sich den Bauch hoch über meine Brust bis unter die Strickmütze.
Mutter wird wieder schimpfen und mir den Hintern versohlen. Wegen der Fünf in Mathe und weil sich ein großer Junge nicht in die Hosen pinkelt.
Diese Bauchkrämpfe! Ich kauerte mich auf den Bordstein, zog die Knie bis unters Kinn und umklammerte meine Beine.
Mir blieb die Luft weg! Ich sprang hoch, und rannte los, bis ich keuchend unser kleines Haus in der Zechensiedlung erreicht hatte.
Mutter sah an meiner Flanellhose hinunter. Ihr Gesicht lief rot an. Sie schüttelte den Kopf: „Und dann auch noch `ne Fünf! Wieder!“ Sie zog mich in die Wohnküche hinein. Ich bettelte, dass sie mich nicht verhauen solle. Aber sie holte kraftvoll aus und verpasste mir eine Backpfeife. Es war, als hätte sie meine Wange mit dem Wort `Versager´ gebranntmarkt.
„Du sollst es eines Tages doch besser haben als dein Vater, der sich unter Tage abrackern muss.“ Sie schluchzte und schüttelte mich. „Diese Rechnerei, das ist das Wichtigste, wenn du später einen anständigen Beruf erlernen willst.“
Dann zerrte sie an meiner Hose, zog sie hinunter und ich musste mich bäuchlings über den Küchenstuhl legen.
Zscht! Zscht!
Sie verpasste mir etliche Hiebe mit dem Teppichklopfer und schrie: „Was soll nur aus dir werden?“
Ich weinte und versprach, in Zukunft fleißiger zu sein.
. . .
Am nächsten Morgen saß ich immer noch auf dem Bordstein der Emscherbrücke, obwohl die Uhr bereits viertel vor Acht geschlagen hatte. Mathe beim Feldbusch. Meine feuchte Haut begann unter dem Wollpullover zu jucken. Ich zog mir die Mütze vom Kopf und wischte den Schweiß von der Stirn. Wieder nahmen mir die Bauchkrämpfe den Atem. Ich brauchte keine Phantasie um mir die Strafe fürs Schuleschwänzen vorzustellen.
Wie gerne würde ich erst zur zweiten Stunde hin gehen. Musik bei der Lachmann. Da hatte ich immer Einser und Zweier. Und in Bio beim Gunstinsky reichte es für Dreier.
Die Bauchkrämpfe lösten sich plötzlich. Ich spürte, wie es in meiner Hose klebrig warm wurde. Mein Herz klopfte, dröhnte, hämmerte und raste. Das leise Pfeifen in den Ohren wurde lauter und kreischte schließlich wie die neue elektrische Heckenschere meines Vaters. Ich drückte meine Handflächen gegen die Ohrmuscheln.„Ein so großer Junge scheißt sich doch nicht in die Hosen!“
„So eine Sauerei!“
„Aufhören!“, rief ich.
Aber das Pfeifen in meinen Ohren hörte nicht auf. Ich nahm meinen Ranzen von den Schultern und stellte ihn gegen das Geländer. Unten toste die stinkende, trübe Abwasserbrühe der Emscher. Dann stellte ich mich auf den Ranzen und klemmte den rechten Fuß zwischen die Sprossen, wollte das linke Bein über das Geländer schwingen ...
Plötzlich spürte ich, wie mich jemand kraftvoll an den Schultern fasste und zu Boden riss.
Über mir stand mein Mathelehrer, schüttelte den Kopf und hielt mir seine Hand entgegen. Warum tat er das? Mir wurde übel.
Er zuckte kurz mit der Hand. „Hoch mit dir!“
Ich ergriff sie und stand auf.
Feldbusch nahm den Ranzen und stellte ihn in den Korb seines Fahrrades: „So eine Sauerei!“, schimpfte er, „zieh dir bei Muttern flink `ne saubere Hose an und dann kommst du sofort zur Schule. Anlässlich des Attentates auf John F. Kennedy findet ein Gedenkumzug statt. Daran beteiligen wir uns alle. Beeil dich, sonst setzt es was mit dem Rohrstock!“
Anne Zeisig, März 2006
Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 21.57 Uhr Dieser Text enthält 7493 Zeichen.