Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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März 2006
Schatten der Angst
von Bernhard Röck

Das erste, was ich fühlte, als ich zu mir kam, war die Kälte der Steinfliesen, auf denen ich lag. Mein Rücken schmerzte. Mein Kopf brummte. In meinem Mund hing der abgestandene Geschmack von Zigarettenrauch und billigem Whiskey. Um mich herum war es dunkel und still. Es roch … fremd. Abgestanden, nach Moder, Staub.
Erschrocken fuhr ich auf. Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich konnte schemenhaft einen Schreibtisch, einen Stuhl und einen Schrank erkennen. An einer Wand drang schwacher Lichtschein durch eine halb geöffnete Tür. Ich rappelte mich auf, bewegte mich benommen darauf zu.
Vor mir lag ein großer, dunkler Raum. Durch kleine Öffnungen in der Decke fiel bläuliches Dämmerlicht, das die oberen Bereiche ein wenig erhellte. Aber es war zu schwach, um bis zum Boden vorzudringen. Eine Freitreppe führte hinab in ein Zwielicht, aus dem vage Umrisse gestapelter Kisten ragten. Ich stand in einer Lagerhalle, die ich nie zuvor gesehen hatte.

Ich versuchte, ruhig zu bleiben, überlegte, was das Letzte war, woran ich mich erinnern konnte – aber da war nicht die Spur einer Ahnung.
Die Halle wirkte, als sei sie seit Jahren verlassen. Der einzige Weg führte hinunter. Irgendwo dort unten musste ein Ausgang sein. Kein verlockender Gedanke. Mit einem flauen Gefühl betrat ich die Treppe.

Stufe für Stufe führte sie mich nach unten, und je tiefer ich kam, desto dunkler wurde es. Wenigstens warf mein Feuerzeug ein kleines Licht in die Schwärze. Die Konstruktion schwankte und ächzte unter meinem Gewicht. Ich umklammerte das Geländer, das sich rau anfühlte, wie rostiges Eisen. Mehrmals blieb ich stehen, weil mein Zippo heiß wurde und ich es abkühlen ließ.

Als ich unten ankam, umfing mich völlige Dunkelheit. Mein Herz schlug schneller. Ich musste einen Ausgang finden. Kistenstapel und vollgestellte Regale bildeten enge Gassen, die mal hierhin, mal dorthin führten. Immer wieder versperrten mir Haufen von Metallteilen und Palettenstapel den Weg. Es war wie in einem Labyrinth. Nach einer Weile kam es mir vor, als sei ich verflucht, in diesem Loch zu verrotten. „Blödsinn!“, sagte ich laut, um mir Mut zu machen. Meine Situation war zwar unheimlich, aber sie hatte nichts Unerklärliches.

Nach mehreren Anläufen erreichte ich die Außenwand der Halle, wo spärliche Lichtstrahlen durch schmale Ritzen drangen. Der Ausgang! Ich lief darauf zu, stolperte jedoch kurz davor über etwas und stürzte zu Boden. Mit meinen Händen fing ich den Sturz ab, wobei ich mir die Finger verbrannte. Mein Feuerzeug erlosch. Ich sah zurück. Ein Schatten hob sich von der blauschwarzen Fläche ab. Vorsichtig kroch ich zu dem Ding, das sich merkwürdig weich angefühlt hatte.
Erst als ich ganz nahe war, entzündete ich mein Zippo von neuem. Ein menschlicher Körper lag auf dem Boden. Ich beugte mich über die Gestalt. „Oh mein Gott!“ Im Schein des Feuerzeugs erkannte ich meinen Kollegen Miller.
Und mit diesem Anblick kehrte die Erinnerung zurück.
Am Abend zuvor hatten Miller, Tom, Walter Lang, genannt der Lange, und ich eine Kneipentour unternommen. Wie üblich floss der Alkohol in Strömen, und der übergewichtige Miller wurde das Ziel unserer derben Scherze. Danach hatte ich einen Filmriss.
Millers Augen starrten ins Leere, sein Mund war geöffnet. Mit einer Hand stützte ich mich auf dem Boden ab und mit der anderen leuchtete ich. So beugte ich mich über ihn, als ich etwas an meinen Fingern spürte. Etwas Klebriges … Feuchtes. Ich hielt meine Hand ins Licht. Blut. Ein Würgen kroch meinen Hals hoch. Unwillkürlich stöhnte ich. Entsetzt erkannte ich im Licht der flackernden Flamme, dass Millers Brustkorb zerfetzt war. Große Brocken waren aus seinen Armen und Beinen herausgerissen worden. Eine Blutlache hatte sich um ihn gebildet. Ich sprang auf, erbrach mich, taumelte die wenigen Meter zum Ausgang. Krachend stieß ich dagegen. Ich verlor mein Feuerzeug.
Die Tür war groß, ich brauchte lange, um sie abzusuchen. Ich konnte keinen Öffner finden. Verzweifelt drehte ich mich um. Vielleicht gab es einen anderen Ausgang … irgendwo in der Halle.

Geräusche ließen mich aufhorchen. Es klang, als würden Zähne an Holz nagen. Darunter mischten sich saftiges Schmatzen und ein Knacken. Etwas keuchte. Die Laute kamen von irgendwo hinten, doch in den Schatten zwischen dem Gerümpel war nichts zu erkennen. Etwas Grauenhaftes trieb sich da herum. Dann verstummten die Geräusche, aber ich sah undeutlich etwas vorüber huschen. Mein Herz trommelte. Das Blut raste durch meinen Körper. Angstschweiß tränkte mein Hemd. Ein salziger Geschmack legte sich auf meine Lippen. Da war wieder das Fressgeräusch! Irgendetwas schnaubte laut.
„Wer … ist da?“, rief ich. Statt einer Antwort hörte ich das Klirren einer Kette, ein Nagen, Rascheln. Plötzlich sprang etwas im Zwielicht vorüber. Hinter mir hörte ich deutlich, wie scharfe Krallen über den Beton kratzten. Ruckartig wandte ich mich um und sah, dass sich hinter mir ein Schatten anschlich. Ich drehte mich langsam im Kreis. Vor mir, hinter mir, überall umzingelten mich schemenhafte, schlanke Erscheinungen. Sie bewegten sich geschmeidig wie Panther. Ein widerlicher Fäulnisgeruch stieg mir in die Nase. Die Dunkelheit schien lebendig zu werden. Ein Meer von Schatten brandete mir entgegen. Ich sank auf die Knie. Ein Schluchzen schüttelte mich. Ich schlug die Hände vors Gesicht.

Auf einmal ging die Tür auf. Das Licht war grell und blendete mich. Als ich die Augen etwas öffnete, waren die Schatten verschwunden. Stimmen näherten sich, Leute kamen herein. Ich erkannte Tom und den Langen.
„Alles klar, Alex? Ein toller Streich, dich hierher zu schleppen, was?“ Der Lange sah mich an und grinste.
Ich konnte es nicht fassen. Auf einmal schlug meine Angst in Wut um.
„Ein Streich? Miller ist tot!“, kreischte ich.
Beide starrten mich verständnislos an.
„Miller? Der Fettsack ist gestern mit dem Taxi nach Haus. Beleidigt, wie immer“, sagte Tom.
„Er liegt dort, tot.“ Ich wies in die Richtung, wo der Körper lag. „Was waren das für Schatten?“, schrie ich.
„Schatten?“ Tom schien keine Ahnung zu haben, wovon ich sprach. Das Lachen meiner Freunde verstummte.
Ich führte sie an die Stelle. Doch die Leiche war verschwunden. Zurückgeblieben waren die Blutlache und Schleifspuren.
„Mein Gott, Alex, was ist passiert?“, fragte Tom.
„Ich weiß es nicht! Er lag hier. Genau hier! Überall waren … sonderbare … Kreaturen.“
Wir suchten die Halle ab, fanden aber nichts.

* * *

Miller blieb verschwunden. Wir beschlossen, niemandem von dieser Nacht zu erzählen. Wir sahen uns kaum noch, gingen getrennte Wege.
Diese Wesen … woher waren sie gekommen? Aus einer anderen Welt? Waren sie tatsächlich real?
Ich litt unter Alpträumen, aus denen ich schweißgebadet erwachte. Panisch tastete ich nach dem Lichtschalter. Erst wenn es hell war, beruhigte ich mich. Zumindest ein wenig. Die Angst wurde mein ständiger Begleiter. Sie jedenfalls war sehr real. Ich verließ kaum noch das Haus, und wenn, dann nur am Tage.


* * *

Etwa ein Jahr später erwachte ich nachts durch das Klingeln des Telefons. Zunächst hörte ich nur leises Atmen.
„Wer … ist da?“, fragte ich.
„Ich bin’s.“
Diese Stimme! Ich hätte sie unter tausend Anderen erkannt.
„Miller?“
„Da staunst du, was?“ Er kicherte. „Ich komme, um euch alles heimzuzahlen. Du bist der Letzte, der Schlimmste von allen …“
„Wieso? Was hab ich … dir getan?“, fragte ich stammelnd.
„Marie. Du hast sie mir weggenommen. Ausgespannt, aus purem Neid. Und bei all den Scherzen über mich warst du der Lauteste und Gemeinste. Dabei hast du gesagt, du seiest mein Freund.“
„Das stimmt so nicht, ich … hab nur …“
Miller fiel mir ins Wort.
„Du hast nie eine ausgelassen!“, fauchte er. „Nie!“
Marie. Ich erinnerte mich nur undeutlich an sie. Eines Tages war Miller mit ihr auf einer Party aufgetaucht. Wir fragten uns, wie ausgerechnet er an diese attraktive Frau gekommen war.
Als er Getränke holte, machte ich sie an. Mir war sofort klar, dass ich ihr besser gefiel als der Dicke. Kunststück, dachte ich und überredete sie noch auf ein Gläschen mit zu mir zu kommen.
Danach sah ich sie nicht mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und wegen dieser Sache hasste er mich so?
„Ich habe sie geliebt. Wenn du kein solches Egoschwein wärst, hättest du das bemerkt. Aber nun … komm zum Fenster!“
Ich tat es und sah hinaus. Am Fuße einer Straßenlaterne bemerkte ich eine Bewegung. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Mein Herz pochte wild. Die Angst war unvermittelt wieder da. Schemenhafte Körper strömten über die Straße und prallten wie eine Flut gegen mein Haus. Unter der Laterne stand der Dicke und schien die Schatten zu dirigieren. Sie existierten. Wie war das alles möglich? Mir war, als schütte jemand Eiswasser über meinen Rücken. Von der Haustür hörte ich das Kratzen scharfer Krallen und das Splittern von Holz. Miller lächelte.

© Bernhard Röck Oktober 2005 – März 2006




Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 22.01 Uhr
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