Anja lässt den Blick durch die überfüllte U-Bahn schweifen. Ein Mann liest Zeitung, eine Gruppe Jugendlicher mit Bierflaschen in der Hand, ein knutschendes Pärchen. Sie sieht sich die Beiden genauer an. Das Mädchen ist noch sehr jung, viel jünger als ihr Freund. Was passiert wenn er mehr will als die Kleine? Zwingt er sie? Schlägt er sie? Oder lässt er sie einfach sitzen? Wenn sie nicht will, dann eben eine Andere.
Anja spürt die feinen Schweißperlen auf der Stirn, wendet den Blick ab und versucht ruhig durchzuatmen. Sie schaut sich weiter um. Nichts Ungewöhnliches fällt ihr auf. Großstadtalltag.
Niemand beachtet sie. Dennoch, sie fühlt sich beobachtet. Anja sieht ihr Spiegelbild in der verschmierten Scheibe. Die Augen tief in den Höhlen, eingefallene, bleiche Wangen. So stellt sie sich einen Junkie auf Entzug vor.
Anja erträgt die stickige Luft im Wagon nicht mehr und steigt an der nächsten Haltestelle aus. Das Licht flackert und ihre Tritte klingen hohl auf den Fliesen. In einer Ecke kauert ein Obdachloser, vor sich ein Schälchen für Münzen.
Armes Schwein, denkt sie. Pass auf deine paar Cent auf, kommt ein Stärkerer hast du gar nichts mehr. Und es kommt immer ein Stärkerer!
Anja verlässt die U-Bahn Station und eilt über das Pflaster. Schritte, sie kommen näher, ihr Herz rast. Sie dreht sich um – nichts.
Sie ringt nach Atem und geht langsam weiter.
Die Auslagen sind festlich geschmückt, aus der Ferne erklingen Weihnachtslieder und Stimmengewirr. Panik krabbelt über Anjas Arme und wandert hinauf zum Nacken. Gehetzt wirft sie einen Blick in die Schaufensterscheibe, die gleiche grauenhafte Fratze wie in der U-Bahn schaut ihr entgegen. Dann ein Blick über die Schulter – nichts. Sie ist alleine.
Mit großen Schritten hastet sie weiter. Die dünnen Absätze stochern in den Pflasterritzen. Anja geht etwas langsamer, um nicht zu stürzen. Wenn sie fällt ist sie eine leichte Beute – sie weiß es!
Nieselregen setzt ein und düstere Wolken jagen über den Himmel. Die Lust an einem Weihnachtsmarktbummel ist endgültig vergangen.
Der Gedanke wieder in die U-Bahn zu steigen bereitet würgende Übelkeit. Jemand könnte ihr zu nahe kommen, könnte sie berühren.
Die Schultern hochgezogen, verlässt sie die beleuchtete Innenstadt und taucht in die Dämmerung der Seitengassen. Einen Moment genießt sie das Dunkel, das sie verschluckt, fühlt sich unsichtbar.
Dann hört Anja wieder Schritte hinter sich. Ihr Herz rast, Schweiß rinnt über ihren Hals, sickert in den BH. Direkt unter einer Laterne bleibt sie stehen, dreht sich um. Sie atmet stoßweise, weiße Wölkchen steigen auf. In der Ferne sieht sie einen Mann, er geht in die andere Richtung.
„Glück gehabt“, murmelt sie und tastet nach dem Messer in der Manteltasche. Fest hält sie den Griff umklammert.
„Nur noch ein paar Minuten“, spricht sie sich Mut zu. „Der Weg durch den Park, dunkler – aber kürzer. Ich schaffe das, ich bin stark!“
Anja schlägt den Mantelkragen hoch und läuft weiter. So schnell, dass sie nach wenigen Metern Seitenstechen bekommt. Sie presst die Hand gegen die Taille, schnappt nach Luft und hastet weiter. Etwas sitzt ihr im Nacken, sie spürt es. Wieder sieht sie sich um. Nichts.
„Durchatmen und weitergehen!“, befiehlt sie sich. Ihre Beine zittern, wollen sie kaum noch tragen. Einsame Enten drehen im Teich ihre Runden im schwachen Lichtschein. Anja läuft weiter. Immer weiter.
Sie wird schneller, immer schneller, rennt fast. Die letzte Ecke, dann hat sie es geschafft.
Schließlich erreicht sie die Haustür. Ihre verkrampfte Hand löst sich vom Messergriff. Im Schein der Lampe öffnet sie die Handtasche und greift nach den Wohnungsschlüsseln. Eiskalter Schweiß rinnt über Rücken und Brust, die Nackenhärchen vibrieren. Sie sieht einen Schatten und schreit. Anjas Hand zittert, als sie versucht den Schlüssel ins Schloss zu schieben. Endlich gelingt es ihr, die Tür aufzuschließen und hinter sich zuzuwerfen. Anja lehnt sich dagegen. Tränen rinnen über ihre Wangen. Noch immer sieht sie Schatten, noch immer das Keuchen im Nacken.
Sie geht die Treppe hinauf, öffnet die Wohnungstür und geht sofort ins Badezimmer. Achtlos wirft sie ihre Kleidung auf den Boden und stellt sich unter die Dusche. Anja genießt das heiße Wasser stechend und brennend auf der Haut.
In ein dickes Handtuch gewickelt geht sie ins Schlafzimmer und sieht die blinkende Lampe des Anrufbeantworters. Sie spult das Band zurück und schaltet es ein.
„Frau Seidel, hier spricht Doktor Kern, bitte denken Sie an Ihre Tabletten. Ich erwarte Sie morgen um neun Uhr in meiner Praxis.“
„Das hättest du gerne“, zischt sie und reißt das Kabel aus der Steckdose. Dann geht sie zum Nachttisch und wirft die ganzen Schachteln mit den bunten Pillen in den Mülleimer.
Mechanisch zieht Anja die Vorhänge zu und legt sich auf das Bett. Ohne Licht, die Augen geschlossen, versucht sie die Erinnerungen abzuschütteln.
Ihre Kehle wird eng. Etwas wie klebrige Marmelade breitet sich in ihrem Hals aus, raubt den Atem. Anja beginnt zu wimmern.
Sie richtet sich auf und schaltet das Licht ein.
Aus dem Spiegel gegenüber an der Wand sehen ihr leblose Augen entgegen, ihre Augen. Sie ist allein und ist es doch nicht. Sie weiß es ganz genau!
Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 08.20 Uhr Dieser Text enthält 5280 Zeichen.