Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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März 2006
Leben
von Stephanie Braun

Wenn Lea mittags nach Hause kam, wartete ihre Mutter meistens schon mit dem Essen und wollte wissen wie es in der Schule gewesen war.
Die fünfzehnjährige Tochter antwortete meist gleich: „Alles bestens Mama.“
Später, nach den Hausaufgaben machte es sich Lea gern bequem und las – sie las alles was ihr in die Hände fiel. Beim Lesen tauchte sie ein in fremde Welten, träumte und war glücklich.
Lea liebte ihr ruhiges Leben, sie hatte keine Freunde, aber die vermisste sie auch nicht.

Eines Tages, als eine neue Schülerin in ihre Klasse kam, sollte sich das alles ändern:
„Das ist Ana. Sie ist gerade erst hergezogen“, stellte der Lehrer das Mädchen vor. „Schau mal Ana, dort drüben, neben Lea ist noch ein Platz frei. – Lea, könntest du ihr in der Pause die Schule zeigen und vielleicht auch deine Hefte leihen?“
Ana setzte sich neben Lea. „Hallo, danke, dass du mir hilfst.“
‚Habe ich ja gesagt?’, fragte sich Lea.
Trotzdem zeigte sie der Neuen in der Pause die Schule, anstatt sich wie sonst ein ruhiges Plätzchen zum Lesen zu suchen.
Ana war anstrengend, sie wollte alles wissen, nur nicht das was Lea ihr erzählen konnte. Besonders interessierte sie sich für die Mitschüler:
„Sag mal, wer ist denn das?“, fragte sie ständig. Lea nannte ihr die Namen, aber was sollte sie über die Leute erzählen? Sie kannte sie ja kaum.
„Du bist auch noch nicht lange hier was?“
„Doch eigentlich schon ...“
„Oh, ich dachte, na ja egal. Sag mal, hättest du heute Nachmittag Zeit? Ich könnte zu dir kommen, dann zeigst du mir deine Hefte.“
„Äh, ja klar.“
Auch das noch!
Aber was hätte sie sagen sollen? Daheim wartete ihr spannendes Buch darauf, zu Ende gelesen zu werden. Aber wahrscheinlich war Ana auch schnell wieder weg. Sie machte nicht den Eindruck, als wolle sie Klassenbeste werden. Dann hätte sie wieder ihre Ruhe.

Leas Mutter war begeistert gewesen, als sie angerufen und gefragt hatte, ob sie jemanden zum Essen mitbringen könne. Ana war der Meinung es wäre praktischer direkt mitzukommen, sie kenne sich noch nicht aus in der Stadt.

Es wurde für Lea ein ungewöhnlicher Nachmittag. Selten hatte sie so viel geredet. So wenig sie über ihre Mitschüler wusste, umso mehr konnte sie über den Unterricht erzählen.
Das hingegen interessierte Ana wenig.
„Wo kann man denn hier so weggehen?“
„Weggehen?“
„Ja, was trinken, Leute treffen oder einkaufen?“
Lea ging nie etwas trinken oder traf Leute. Einkaufen musste sie schon ab und an mal. Dann ging sie meist mit ihrer Mutter oder besuchte ihren Lieblingsbuchladen ein paar Strassen weiter.
„Vielleicht könntest du dir mal das neue Einkaufszentrum ansehen“, schlug sie unsicher vor.
„Au ja, komm.“
„Was jetzt gleich?“ Hilflos schob Lea einige Dinge auf ihrem Schreibtisch hin und her. Was sollte sie denn in einem Einkaufszentrum?
„Klar, die Hefte nehme ich einfach mit nach Hause und schau mal rein. Das schaffe ich schon.“
„Wenn du meinst ...“ Gegen Anas Begeisterung kam sie einfach nicht an. Sie war so mitreißend.


„Mama, wir fahren zum Einkaufszentrum.“ Die Mutter staunte, freute sich aber. Schon oft hatte sie gedacht, wie schön es doch wäre, wenn Lea sich mal verabreden würde.
„Warte, hier nimm das. Kauf dir was schönes.“
Lea nahm zögernd das Geld. Was sollte sie denn kaufen? Sie hatte doch genug. Fragend schaute sie in das strahlende Gesicht ihrer Mutter, die zwinkerte ihr zu und schob sie zur Tür hinaus.
„Mensch, hast du ein Glück, bei meiner Mutter muss ich immer stundenlang betteln, bis sie mal Kohle für Klamotten rausrückt.“

Unterwegs erzählte Ana ihr von den tollen Boutiquen in Hamburg, wo sie vorher gewohnt hatte. Es klang alles so aufregend und passte ganz und gar nicht in Leas Welt.
Unsicher dachte Lea darüber nach, was sie zusammen im Einkaufszentrum machen sollten? Sie konnte unmöglich Anas alte Freundinnen ersetzen. Wollte sie das überhaupt? Ana bestimmt nicht. Sie kannte hier nur noch niemanden.
Sie hoffte darauf ein paar andere aus der Schule zu treffen, denen Ana sich anschließen könnte. Dann würde sie sich in den Buchladen verdrücken.
„Was schaust du denn so traurig?“
„Was? Ach, ich war gerade in Gedanken.“

Ana war begeistert von dem Einkaufsparadies. „Wo gehen wir zuerst hin? Boutique? Parfümerie? Schuhe?“
„Wie du magst“, Buchladen stand ja nicht zur Auswahl.
„Schau mal da vorne, Mensch die haben eine tolle Jacke im Schaufenster.“
Lea lieĂź sich von Ana mitziehen.
„Mist, meine Größe ist nicht dabei. Probier du mal, dir passt sie bestimmt.“
Schon zog sie Lea die Jacke über. „Du hast eine tolle Figur, das solltest du mehr betonen.“
Noch während Lea sich der Jacke entledigte, nahm Ana einige andere Kleidungsstücke und schob Lea vor sich her zu den Umkleidekabinen.
„Nun genier dich nicht. Runter mit den Klamotten, komm zieh das Top mal an. Ich helfe dir mit den Schnüren.“
Entsetzt starrte Lea auf das Stückchen Stoff. Da waren die Putzlappen ihrer Mutter ja größer.
„Das sieht klasse aus!“
Lea starrte in den Spiegel.
„Was ist mit dir?“
Ăśberrascht bemerkte Ana, dass Lea ihre Begeisterung offenbar nicht teilte.
„Ich trage so was nicht.“
„Nicht? – Dann wird es Zeit, dass du es ausprobierst. Die Jungs werden sich alle nach dir umdrehen.“
Das wollte Lea bestimmt nicht. Was machte sie hier ĂĽberhaupt? Warum konnte sie nicht einfach wieder zu Hause im Bett liegen und lesen?

Eine halbe Stunde später, Lea hatte sich mehrfach von Ana an und ausziehen lassen, bezahlte sie an der Kasse für einen Rock und ein Oberteil. Für das Geld hätte sie bestimmt Lesestoff für zwei Monate bekommen. Wenigstens hatte Ana sich erfolgreich gegen den Schnürlappen gewehrt. Allerdings war das Oberteil bauchfrei und der Rock endete ein gutes Stück oberhalb Kniekehlen.
„So, jetzt brauchst du noch ein paar Highheels dazu.“
„Bitte was?“
Ana erklärte nicht, stürmte ins nächste Schuhgeschäft.
„Anprobieren“, hielt sie ihr begeistert ein paar schwarze Schühchen hin. Viele Riemchen auf einem hohen schmalen Absatz.
„Super, dazu den neuen Rock. Fantastisch!“
Hilflos stöckelte Lea den Gang entlang.
„Na das Laufen üben wir noch, aber mach dir keine Sorgen. Das lernst du schnell.“
Lea machte sich inzwischen über gar nichts mehr Sorgen, sie freute sich nur noch darauf, abends wieder in Ruhe lesen zu können – falls sie bis dahin nicht zu müde sein würde.
Sie ahnte aber nicht, dass Ana noch lange nicht mit ihr fertig war.

Zu Hause zerrte sie die inzwischen völlig wehrlose Lea ins Bad, frisierte und schminkte sie.
Lea erkannte sich im Spiegel nicht wieder, aber Ana war begeistert. Auch ihre Mutter staunte: „Wer ist denn diese junge Dame hier?“

Lea reichte es. Sie lieĂź die Beiden stehen, rannte in ihr Zimmer und warf sich auf das Bett.

Sanft streichelte Ana ihre Schulter und fragte unsicher: „Was ist denn?“
„Das bin nicht ich!“, schrie sie wütend. Ana zuckte zurück.
„Und wer bist du dann? – Du siehst doch fantastisch aus. Ich wollte dir doch nur helfen.“
„Danke, aber ich brauche deine Hilfe nicht! Ich will einfach nur meine Ruhe!“
Traurig ging Ana nach Hause, sie hatte sich doch nur eine neue Freundin gewĂĽnscht.

Von zu Hause aus rief sie an:
„Hey Lea, es tut mir leid, ich wollte dich nicht kränken. Wenn ich einkaufen gehe, vergesse ich alles um mich herum. Du hast wirklich eine tolle Figur, du kannst Sachen tragen, Mensch, da macht es einfach Spaß für dich etwas auszusuchen. – Lea? Sag doch was,“
„Was soll ich sagen? Wenn du redest komme ich ja gar nicht dazwischen.“
Erleichtert lachte Ana. „Du bist mir nicht mehr böse?“
„Nein, schon gut.“ Auch sie musste lachen. Irgendwie gefiel es ihr, dass Ana sich um ihre Freundschaft bemühte. Vielleicht war es gar nicht so schlecht eine Freundin zu haben?
„Super – Auf dem Heimweg habe ich nämlich Nadine getroffen. Gehen wir am Samstag auf ihre Party?“
„Ich bin gar nicht eingeladen:“
„Ach Blödsinn, lass uns hingehen. Bitte. Und du ziehst deine neuen Sachen an. Ich komme auch vorbei und helfe dir beim stylen. Oh, meine Mutter ruft. Wir sehen uns morgen in der Schule.“ Eine Freundin zu haben war auf jeden Fall anstrengend. Erschöpft legte Lea sich and diesem Abend schlafen: Wollte Ana wirklich ihre Freundin sein? Was würde Nadine sagen, wenn sie einfach zu ihrer Party kam? Nie wurde sie von ihren Mitschülern eingeladen. Sie fragten sie höchstens mal nach den Hausaufgaben.
Aber was hatte sie zu verlieren? – ‚Meine Ruhe!’, seufzte sie und kuschelte sich ins Kissen.
„Probier es aus!“, flüsterte eine innere Stimme.

Samstag Abend stand Lea vor dem Spiegel. „Ich kann das nicht.“
„Klar kannst du. Komm, ich bin ja auch noch da“, ermunterte sie Ana.
Unsicher drehte sie sich in den neuen Sachen hin und her. Sie hatten bereits eifrig geĂĽbt auf den hohen Schuhen zu laufen. Sie knickte nicht mehr um, aber die FĂĽĂźe schmerzten vom Ăśben.

„Sag mal, was hast du denn vorher so gemacht, bevor ich hergezogen bin?“
„Gelesen.“
„Gelesen? Hast du dich nie mit den anderen getroffen? Keine Freunde ...“

Lange schaute Ana ihre Freundin an. „Weißt du was? Du hast Angst.“
„Angst?“
„Ja, Angst zu leben. Du verkriechst dich hier zu Hause und lebst in deinen Büchern. Wach auf Prinzessin, das Leben ist schön! –
Komm, lass uns zu dieser Party gehen und Spaß haben. Wenn es dir nicht gefällt fahren wir wieder.“
Verwirrt lieĂź sich Lea mitziehen. Angst? Wovor sollte sie Angst haben?
Ja, sie hatte Angst, Angst so auf diese Party zu gehen, aber Angst zu leben? Sie war bisher eigentlich sehr zufrieden gewesen mit ihrem Leben.

Auf der Party staunten alle. Kaum jemand erkannte Lea sofort. Ana schob sie durch, bis zum Buffet und drĂĽckte ihr ein Glas Bowle in die Hand.
Nie war Lea auf einer Party gewesen, nie hatte sie getanzt, sie hatte Angst sich zu blamieren.
Ana zog sie mit sich, sie tanzten. Lea bewegte sich zu der Musik, erst zögerlich, aber dann bekam sie Spaß daran.
Mit dem Tanzen wich ihre Unsicherheit einem unheimlichen Glücksgefühl. Ein Gefühl, dass sie am liebsten nie mehr los gelassen hätte.

’Das wäre doch ein schöner Anfang für einen Roman mit dem Titel „Tanz des Lebens“’, dachte Lea bei sich und strahlte Ana an.

© Stephanie Braun

Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 08.35 Uhr
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