Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
Shandra blickte sich nach Verfolgern um. Gestern hatte sie Krishna am Bahnhof gesehen. Er sprach ein paar Kinder an und sie wusste sofort, er suchte nach ihr. Sie bedeutete schließlich viel Geld für ihn und hatte ihn mit ihrer Flucht lächerlich gemacht. Eines der Mädchen antwortete ihm und Krishna, der Narbengesichtige, drückte ihr etwas in die schmutzigen Hände. Auf seinem Gesicht hatte ein grausames Lächeln gelegen.
Hier würde Shandra nicht mehr betteln können.
Sie schlich weiter durch die Nacht, hielt inne, als sie Stimmen hörte und lugte um die Ecke. Zwei Frauen stritten sich heftig, wer von ihnen das Recht hätte, an dieser Kreuzung zu stehen. Knappe Röcke saßen über ihren Hintern. Als sich ein Wagen näherte, langsamer wurde und schließlich hielt, endete der Streit. Sie präsentierten ihre Reize und der Fahrer winkte beide heran. Die Tür des Fahrzeugs öffnete sich und eine von ihnen stieg ein. Schadenfroh musterte sie ihre Konkurrentin, bevor ihr Freier losfuhr.
Shandra setzte ihren Weg fort.
Endlich erreichte sie die Gasse, wo sie einen Schlupfwinkel gefunden hatte. Unauffällig trat sie an eine Plankenwand, schob ein Brett zur Seite und quetschte sich hindurch. Ihre Unterkunft war klein, aber besser als auf der Straße oder im Park zu schlafen. Zu viele Straßenkinder trieben sich dort herum, die sie verraten könnten oder mit Vorliebe ihre Schicksalsgenossen ausraubten. Auch Shandra hatte schon Prügel bezogen. Sie rollte sich zusammen. Ihr Magen knurrte, aber heute würde er leer bleiben. Es war nichts Brauchbares in den Abfällen zu finden gewesen. Nichts, was einen Verkauf an den Zwischenhändler wert gewesen wäre. Traurig schloss sie die Augen, dachte an ihre Freundin Matari und an ihr Zuhause. Manchmal wusste sie nicht einmal mehr wie ihre Mutter aussah. Unweigerlich stiegen Tränen in ihr hoch. Sie zog ihre Beine noch weiter an den Körper, legte die Arme darum und wiegte sich in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie immer wieder hoch schreckte, sobald sie ein Geräusch zu hören glaubte.
Geschrei weckte sie. Vorsichtig spähte sie aus ihrem Verschlag und erstarrte, als sie Polizisten sah, die einen Jungen fest hielten. Shandra kannte Anser vom Sehen. Er war ein Müllsammler wie sie. Auch wenn er ein Konkurrent im rauen Kampf ums Überleben war, tat er ihr leid. Lachend schlug einer der Männer zu, Anser sackte in sich zusammen und der andere trat ihm in die Rippen. Dann schleiften sie ihn weg. Nur sein Beutel blieb zurück, lag verlockend da. Behutsam schob sie das Brett zur Seite, huschte zu Ansers Sammeltasche, schnappte sie und zog sich zurück. Neugierig untersuchte Shandra den Inhalt: eine kleine geschnitzte Figur von Ganesha lag darin. Mit ihren Fingern zog sie die Umrisse des dickbäuchigen, elefantenköpfigen Gott des Glücks und der Weisheit nach. Die Figur würde ihr sicher einige Rupien einbringen, obwohl sie die Schnitzerei lieber behalten hätte. Vorsichtig wickelte sie Ganesha wieder in den Beutel und steckte ihn in ihre eigene Tasche.
Dann verließ sie ihr Versteck. Nervös strich sie mit wachsamen Blicken die Straßen entlang, auf der Suche nach etwas, das sich verkaufen ließe: Metalle, Gefäße, die jemand vergessen oder weggeworfen hatte und ähnliche Sachen. In den Touristengegenden war die Chance größer, aber auch Konkurrenz und Polizei waren hier verstärkt unterwegs. Die Straßenkinder passten nicht in das Bild, welches man in diesen Stadtteilen Bombays gerne vorgaukelte. Shandra wagte sich nur selten dorthin.
Ein ovales Gefäß erregte ihre Aufmerksamkeit. Es stand neben einem Arbeiter, der auf dem Boden hockte und offenbar frühstücken wollte. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen beim Anblick des Fladenbrotes; gierig sah sie zu, wie der Mann abbiss und kaute. Ein anderer rief nach ihm und er legte das Brot in die Schüssel bevor er zu seinem Kollegen ging. Gemeinsam trugen sie einen Balken in ein Haus. Ohne lange zu überlegen, schnappte Shandra die Beute und brachte sich in Sicherheit. In einer Ecke hockend verschlang sie das Brot. Die Schale schob sie in ihren Beutel. Bald gesellte sich ein Stück Kupferdraht hinzu, ein altes Stahlrohr und ein paar Rupien, die sie gestohlen hatte.
Ein guter Tag für sie. Ganesha hatte ihr Glück gebracht. Unsicher ging sie in Richtung Bahnhof. Der Händler hielt sich nur zu bestimmten Zeiten an diesem Ort auf. Wenn sie ihre Ware loswerden wollte, blieb ihr keine Wahl und sie musste ja nicht direkt in den Bahnhof. Ängstlich sah sie sich um, als sie über die Schienen schlich und den Treffpunkt ansteuerte. Alles schien normal. Baba stand da, sah ihr erwartungsvoll entgegen.
„Na, was hast du für mich?“, wollte er wissen.
Zaghaft holte sie ihre Schätze heraus. Seine grollende Art schüchterte sie immer ein. Er betrachtete die Sachen, machte auf jeden Kratzer und Fehler aufmerksam, bezeichnete alles als Tand. Dann bot er ihr 20 Rupien, eine Ausnahme, wie er betonte, so einen Müll bräuchte er nicht wirklich. Sie widersprach nicht. Baba hatte ständig etwas auszusetzen.
„Verschwinde!“, knurrte er.
Shandra ließ sich das nicht zweimal sagen, hörte aber noch, wie er ihr hinterher rief: „Und bring mir das nächste Mal etwas Besseres mit!“ Mit gesenktem Kopf beschleunigte sie ihre Schritte.
„Sieh an, sieh an. Wen haben wir denn da?“, fragte eine vertraute Stimme hinter ihr. Shandras Kopf schnellte hoch und sie starrte in Mister Schmierigs Gesicht. Der Freund ihres früheren Besitzers grinste sie anzüglich an. Sie fuhr herum, wollte lospreschen und lief direkt in Krishnas Bauch. Grob griff er nach ihrem Hals und schlug brutal zu, dann noch ein Mal. Blut schoss dem Mädchen aus der Nase, lief ihr Kinn herab und tröpfelte auf ihre Kleidung, vermischte sich mit Tränen. Es genügte ihm nicht. Seine Hand wühlte sich in ihre Haare, drückte ihr Gesicht in den staubigen Boden, bis sie hustete. Einen Moment gönnte er Shandra eine Atempause und wiederholte die Aktion. Weitere Schläge folgten, prasselten auf den zarten Körper ein.
„Beschädige sie nicht. Ich hab noch was mit der Kleinen vor“, nörgelte Krishnas Begleiter.
Der Angesprochene knurrte, hob drohend die Hand, als wollte er weiter auf Shandra einprügeln, besann sich dann aber und schleifte sie an den Haaren hinter sich her. Ein paar Kinder schauten zu, wagten nicht, sich einzumischen, auch nicht, als er das Mädchen in den Kofferraum des Wagens warf.
Als sie wieder zu sich kam, blinzelte sie irritiert in das trübe Zwielicht und es dauerte einen Moment, bis sie begriff wo sie war. Zwei Jahre ihres Lebens hatte sie hier verbracht, Teppiche geknüpft, die nach Krishnas Aussagen nie gut genug waren, um die Schulden ihrer Eltern abzuarbeiten. Verängstigte, zum Teil mitleidige Blicke trafen sie, bevor sich die müden Augen der anderen Kinder wieder auf ihre Arbeiten richteten. Shandras Hände waren mit einer Kette an einen Pfosten gebunden und schmerzhaft in die Höhe gezogen. Sie konnte Krishnas und Mister Schmierigs Stimmen aus dem kleinen Büro hören. Sie hörte sie bedrohlich lachen, ehe sie in die Ohnmacht zurücksank.
Kaltes Wasser schreckte sie auf, nur um in Krishnas Gesicht zu schauen, der, kaum dass er ihre Aufmerksamkeit hatte, ein Messer aus seiner Hose zog und mit der scharfen Klinge die Haut ihres Halses ritzte. Die blutige Messerspitze leckte er genüsslich ab. Anschließend bewegte er die Klinge langsam vor ihren Augen hin und her, genoss die Furcht, die in ihren gehetzten Blicken aufglomm und das Zittern ihres Körpers. Dann näherte sich die Spitze seines Messers ihrem Auge, kam immer näher und plötzlich krachte seine Faust in ihr Gesicht.
Als sie das nächste Mal aufwachte, schwankte der Boden unter ihr. Es war dunkel. Ihr Hals fühlte sich trocken an, die Zunge war pelzig und ein dumpfer Druck pulsierte hinter ihren Schläfen, zog sich bis in die Wangen herab. Sie glaubte ein Flüstern zu hören. Vielleicht war es ja die Schwarze Göttin Kali, die auf Shandras Tod wartete, um ihren Geist zu befreien. Schatten schienen sie zu umtanzen, ihre Klauen nach ihr auszustrecken. Vor Entsetzen entging ihr, wie das Schaukeln aufhörte. Unerwartet stach grelles Licht in ihre Augen und sie wurde grob aus dem Wagen gehoben. Mister Schmierig fluchte ungeduldig und ein seltsamer Unterton lag in seiner Stimme. Er kicherte hohl, strich ihr mit zittrigen Händen über den Körper, begrapschte sie und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Ein Versprechen auf den großen Spaß, der sie beide erwarten würde. Ekel und Angst erfüllten sie gleichermaßen, wurde gesteigert durch das, was sie sehen konnte, während sie auf der Schulter des einen Mannes getragen, mehrere Räume des Hauses durchquerten.
Männer liefen oder saßen herum, nackte Mädchen und manchmal auch Jungen in den Armen haltend. Einige verschwanden mit ihren widerstrebenden Opfern hinter Türen, aus denen Stöhnen drang. Schreie. Erneut wurde ihr schwarz vor Augen.
Shandra erwachte auf einem Bündel Stroh, ihre Hände waren mit Lederriemen gebunden. Sie schob sich an der Wand hoch. Sah andere Kinder schlafend auf dem Boden liegend, durch Gitter voneinander getrennt. Einige waren wach, mit trüben Augen, aus denen jede Hoffnung geschwunden war. Keins von ihnen trug Kleidung. Auch Shandras Sachen waren verschwunden. Sie fühlte sich beschämt und schmutzig. Nach wie vor hörte sie Schreie und wagte nicht sich vorzustellen, welches Grauen sie hier erwartete. Das Quietschen einer Tür weckte die Schlafenden, veranlasste die Kinder, sich so weit wie möglich an die Wand zurückzuziehen. Schwere Schritte kamen den Gang entlang. Leises Schluchzen erklang aus einigen der Zellen. Ein grinsender Mann schob sich vor die Eisenstäbe, hinter denen Shandra kauerte und ein Schlüssel stocherte im Schloss herum. Dann trat er ein und stierte sie an. Sie schloss die Augen, wollte nicht hinsehen.
Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 08.49 Uhr Dieser Text enthält 9891 Zeichen.