Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Nur für einen kleinen Moment stutze ich. Mann oder Frau?
Jeden Morgen, auf dem Weg zur Frühschicht, gehe ich durch dieses Tor. Dass hier jemand übernachtet, einer von denen, wie man so unschön sagt, kommt im Sommer öfter vor. Aber heute, heute ist Anfang März.
Es hat gefroren über Nacht. Und es weht noch immer ein kalter Wind: durch die Straße, durch das Tor, über mein Gesicht. Wirklich nicht das richtige Wetter, um hier ein Schläfchen abzuhalten.
Meine Füße tragen mich zu der Gestalt am Boden. Ein alter, abgewetzter Armeeparka, schmuddelige Wollmütze, ebensolcher Schal. Habe ich wirklich was anderes erwartet? Soll ich ihn/sie einfach ansprechen?
„Hallo, Sie da! Da haben Sie sich aber einen miesen Platz zum Schlafen ausgesucht.“
Meine vorlaute Klappe hat die Regie übernommen. Die Hände rütteln an der Schulter, folgen meinem Mundwerk nur nach.
„Scheiße, der ist tot!“
Käsehaut, filziger Bart. Beides überzogen mit einer feinen Schicht Raureif. Das Gesicht hart und kalt wie Putenfleisch aus der Tiefkühltruhe. Spüre, wie ich zittere.
Die Hände greifen von alleine nach dem Handy; wählen automatisch die 110. Eine freundliche routinierte Stimme Polizistenstimme lotst mich durch den Fragebogen. Alles klar! Bitte warten Sie auf das Eintreffen der Polizeibeamten!
Zwei Minuten später ist der Streifenwagen da. Die Wache ist nur drei Straßen weiter, fällt mir ein. Die Polizeibeamten taxieren mich mit einem einzigen Blick, bitten mich zu warten, falls es noch Fragen gibt. Die Ambulanz ist auch schon da. Kurzer Blick des Notarztes auf die Gestalt am Boden, wenige Worte an die Polizisten. Der Arzt klettert zurück in den Rettungswagen und fährt wieder ab. Wenig später ist schon der Leichenwagen da.
Der ältere der beiden Polizeibeamten winkt den Männern mit der Zinkwanne. Sehe zum ersten Mal wie das gemacht wird, wenn einer abgeholt wird.
Die beiden Polizisten haben keine weiteren Fragen an mich. Ich bekomme noch die übliche Karte mit dem Namen des sachbearbeitenden Beamten, der Telefonnummer des zuständigen Reviers usw. Müssen weiter, die Beiden, winken mir zum Abschied kurz zu. Alles erledigt, meine Daten haben sie; ein Routinefall.
Die Männer mit der Zinkwanne sind jetzt auch fertig. Rein in den Wagen, Türe zu. Ich sehe den beiden Autos nach, wie sie durch das Tor fahren. Stille.
Schrecke zusammen, als ich die Turmuhr von St. Johann höre. Muss los, zur Frühschicht. Stecke die Visitenkarte des Polizisten ein, laufe das letzte Stück Weg.
Eigentlich wollte ich noch zum Einkaufen vor der Schicht. Das muss jetzt warten. Keine Lust, drinnen am Band blöde Fragen zu beantworten. Noch dazu, wenn mir die Antworten sowieso keiner glaubt. Wer findet auch einen Erfrorenen auf dem Weg zur Arbeit! Keinen Bock auf Abzug, wenn ich zu spät komme. Will den Alten nicht fragen, ob ich tauschen kann. Werde dem armen Kerl also nicht die „letzte Ehre“ erweisen können. In der Personalabteilung haben sie schon genug rumgezickt, als die Kleine krank wurde und ich unbezahlte Freistellung nehmen musste.
Nächste Woche ist Spätschicht. Morgens frei, wenn die Kleine in der Schule ist. Kann ja dann mal zum Friedhof hin und gucken gehen.
Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 08.39 Uhr Dieser Text enthält 3370 Zeichen.