Die Angst lässt dich nicht los von Sonja B.-Hoffmann
„Reebeekkaaaa!“ Die Stimme donnerte über ihren zarten Körper hinweg. Sie zuckte zusammen. Mit beiden Armen zog das Mädchen ihre Beine fest an sich heran. Seit einer Stunde kauerte sie in der Ecke der sechs Quadratmeter großen Küche. Sie bewegte sich nicht. Sie wartete.
Er war noch immer nicht eingeschlafen. Ihre tränenverschmierten Wangen berührten die Knie. An der Wand über dem Kühlschrank klebten zwischen Ketchupresten Glassplitter und auf dem Boden lag neben leeren Bier- und Schnapspullen die zerbrochene Flasche. Sie wusste, gleich würde er kommen. Instinktiv schloss sie ihre Augen. Jetzt ganz winzig sein, wie die Staubfussel zwischen den Essensresten.
„Wo bist du, du Schlampe!“ Die Küchentür knallte gegen die Wand und hinterließ ein weiteres Loch in der vergilbten Tapete. Nur mit Unterwäsche bekleidet torkelte ihr Vater in den Raum. Der bekannte Geruch von Alkohol und altem Schweiß stach ihr in die Nase. Sie duckte sich. Ihr Vater packte Rebekka an den Haaren und zerrte sie aus dem Winkel. Die kleine Schnittwunde auf ihrer Stirn platzte auf. Wimmernd verzog sie ihr Gesicht: „Das tut weh, Papa!“
„Halts Maul!“, brüllte er sie an. „Wo ist deine Mutter. Hurt sie wieder in der Gegend herum?“ Mit einem Ruck stieß er Rebekka von sich und klatschte sie gegen die Mauer. Er öffnete den Kühlschrank. Rebekka ließ dabei ihren Vater nicht aus den Augen. Langsam rutschte sie entlang der Wand zurück in die Küchenecke.
“Wieder nichts zum Fressen da!“ Mit beiden Händen fegte er leere Flaschen und ungewaschenes Geschirr von der Anrichte.
„Such gefälligst deine Mutter! Ich schlag dich tot, wenn du ohne sie kommst!“
Heute Morgen, als Rebekka kurz vor acht die Wohnung verlassen hatte, schlief ihre Mutter im Schlafzimmer, das nur noch aus einer Matratze mit Decke und einem Kleiderhaufen bestand. Ihr Vater schnarchte nebenan im Wohnzimmer. Der Fernseher lief. Der überfüllte Aschenbecher lag auf dem mit kleinen Brandlöchern übersäten Teppich. Eine verrußte Stelle zeigte das Unheil, das Rebekka vor ein paar Tagen gerade noch verhindert hatte. Rebekka selbst besaß nur zwei leichte Kleider und eine warme zerflederte Strickjacke von ihrer Mutter sowie zu große Turnschuhe aus der Altkleidersammlung. Eigentlich stand ihnen vom Sozialamt Sommer- und Winterkleidung zu. Ihre Eltern versoffen jedoch das ganze Geld. Zusätzlich ging Rebekkas Mutter in der Kneipe um die Ecke anschaffen. Hier war sie vermutlich zu finden.
Rebekkas Vater wankte zurück ins Wohnzimmer und kippte dort auf die Couch. „Geh endlich und bring Bier mit!“
Schnell schloss Rebekka die Wohnungstür und sprang die alte Steintreppe hinunter. Sie sah nicht die Graffiti-Schmierereien an den Wänden und die alten Kaugummireste auf den Stufen. Sie roch nicht das frisch Erbrochene eines Hausbewohners. Sie wollte weg.
„Rebekka?“ Sie lief ihrer Klassenlehrerin direkt in die Arme. Geschickt wand sie sich aus der Umklammerung und rannte.
„Bleib stehen!“ Rebekka reagierte nicht. Seit Wochen war sie nicht mehr in der Schule gewesen. Regelmäßig verließ sie morgens das Haus, vergammelte jedoch den Vormittag im Park, bis sie die Schulkinder nach Hause gehen sah. Sie hatte Angst vor den Fragen ihrer Lehrerin. Ihre Eltern bestanden aber darauf, dass sie zur Schule ging. Wegen dem Jugendamt sagten sie und dem Kindergeld. Das verstand Rebekka jedoch nicht.
*
„Rebekka, deine Mutter ist nicht da“, begrüßte sie der Wirt. Seine Haut glänzte wie frisch ausgelassener Schweinespeck. Er grinste.
„Aber vielleicht willst du mir eine Freude machen. Dein Papa …“
„Halt die Schnauze!“, lallte die Frau, die mit zerzausten Haaren die Kneipe betrat. Sie zerrte ihre Bluse zurecht, die nur noch zum Teil im Rock steckte.
„Schickt dich dein Vater?“, herrschte sie die Kleine an. „Was will er? Bier, Schnaps oder beides?“ Sie lachte laut.
„Sag ihm, er muss warten“, zischte sie dann. „Ich habe noch zu tun.“
“Genau Süße, erst die Arbeit …“, bestätigte der Mann im blauen Overall hinter ihr „… und das Vergnügen.“ Seine Mundwinkel zogen sich breit über sein stoppeliges Gesicht. Er fand sich sehr witzig.
„Mama …!“ Das Mädchen blickte auf den Unrasierten und dann zur Mutter. „Ich soll …“
„Geh!“ Die Frau nahm die Hand des Mannes hinter sich und zog ihn zu einer Tür, aus der Rebekka sie schon öfters hat kommen sehen. Mit einem kurzen „Klick“ war sie verschlossen.
„Na Mädchen, jetzt sind wir wieder alleine. Wie wär´s mit uns zwei, vielleicht hast du die gleichen Qualitäten wie deine Mutter …“
Rebekkas Augen weiteten sich. Sie rannte los und hinter ihr schallte das Gelächter des Wirts.
*
Sie stand eine Weile vor der Wohnungstür, bis sie sie zaghaft öffnete.
„Wo ist das Bier?“ Er war nicht eingeschlafen.
„Papa, ich ...“
„Bring´s her und verschwinde dann.“
„Die Mama …“
“Verdammt noch mal, bring es her habe ich gesagt.“
Das Mädchen zitterte. Sie überlegte, ob sie davon laufen sollte, aber da war schon der Schatten über ihr.
„Du Flittchen!“ Seine Faust sauste herab und es wurde Nacht.
*
„Frau Dr. Veit? Geht es Ihnen gut?“ Ich starrte noch immer auf das kleine dürre Etwas, das auf dem Bett in der Ecke kauerte. Es zitterte.
„Frau Doktor?“ Der Assistenzarzt klang besorgt.
„Es geht schon wieder!“ Ich kniff kurz die Augen zusammen und schluckte.
„Wer hat sie hergebracht?“
„Die Lehrerin.“
„Wann?“
„Letzte Woche. Seitdem sitzt sie hier. Sie isst nicht, sie trinkt kaum. Sie wehrt alles ab. Wir wussten uns nicht mehr zu helfen.“
„Lassen Sie mich mit ihr allein −, bitte.“
Der junge Arzt verließ den Raum und ich setzte mich auf das Bett.
Augenblicklich drängte das Mädchen sich noch mehr an die Wand.
„Wie heißt du?“, fragte ich vorsichtig. Sie beobachtete mich.
„Willst du mir deinen Namen nicht verraten?“ Langsam schob ich mich in ihre Richtung. Das Mädchen fixierte mich. Ihr ganzer Körper bebte.
„Du hast keine Tränen mehr, nicht wahr?“ Wieder schob ich mich näher. Sie trat nach mir, um gleich wieder die Beine an ihren Körper zu pressen.
Ich blieb unbeirrt. Ich wusste nur zu gut, was sie fühlte. Gleich hatte ich es geschafft.
„Ruhig Kleine!“ Besänftigend hob ich die Hand. Mit einem wimmernden Laut schlug sie dagegen. Ich packte sie an beiden Armen und zog sie zu mir. Wild schlug die Kleine um sich, drehte sich, doch ich hielt sie fest, ganz fest.
„Es ist alles okay, du bist sicher.“ Sie wand sich, zerrte an meinem Kittel. Ich ließ nicht locker. „Du musst keine Angst mehr haben, ich tu dir nichts.“ Sie hörte nicht zu, versuchte zu treten, doch ihre Kräfte schwanden. Sie erschlaffte und weinte.
„Ist gut meine Kleine“, beruhigte ich sie. „Ist gut.“ Sanft streichelte ich über ihr Gesicht. Ich spürte, wie ihr Beben nachließ.
„Niemand tut dir mehr weh. Niemand, das verspreche ich dir. Ich kenne die Angst. Glaub mir, sie wird weniger, aber sie bleibt ein Teil von dir.“
Das Mädchen schaute mich an und flüsterte: „Janine, ich heiße Janine.“
„Und ich Rebekka, Rebekka Veit.“ Ich lächelte und drückte sie fest an mich.
Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 08.14 Uhr Dieser Text enthält 7157 Zeichen.