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März 2006
Neuröschen
von Gisa M. Zigan

Als die U-Bahn einmal lange im Tunnel steckte, kriegte ich es mit der Angst.
Als die Taxirechnungen nicht mehr tragbar waren, ging ich zum Psychodoktor.

“Ich habe eine Phobie”, begann ich, und er blickte mich strafend an, weil ich solch ein Wort kannte.

Dann stellte er mir fünfundachtzig Fragen, die ich schon auf einem Merkblatt im Wartezimmer erspäht hatte:

“Welche Begründung für den Ausbruch der Erkrankung haben Sie, wie hat sie sich angekündigt, welche Arten der Therapie sind bisher versucht worden –“
“Nun, unsere Stadt hat ja erst seit sechs Monaten eine U-Bahn”, versuchte ich zu erklären, “vorher konnte ich damit ja keine Probleme haben –”, aber er war schon weiter:

“Wie hat Ihre Familie auf die Erkrankung reagiert, haben Sie jemals einen Selbstmordversuch unternommen, welche Kinderkrankheiten hatten Sie, wogegen sind Sie geimpft?”
Als ich Masern, Windpocken und Röteln zusammengesucht hatte, stieß er nach:
“Wie waren Ihre Eltern, die Eltern Ihrer Eltern, der Erziehungstil bei Ihnen zuhause?”
“Wir bekamen zum sechsten Geburtstag ein Fahrrad”, fiel mir zu meiner Erleichterung ein, denn er brachte mich mit seinen Fragen allmählich in Panik, ich schwitzte im Gesicht und sah sicher tomatenrot aus.
“Und dann, nach dem Krieg, kaufte der Vater das erste Auto –“
Doch er wollte Intimeres.

“Wann haben Sie laufen und sprechen gelernt, wann wurden Sie sauber, haben Sie am Daumen gelutscht oder sind Sie jemals schlafgewandelt?”
Ich versteckte schnell meine abgekauten Fingernägel in den Taschen meiner Leinenhosen, aber sein scharfer Blick ließ mich stottern, als ich versuchte, irgendeine Antwort auf die bohrenden Fragen nach Spielverhalten, Schulausbildung und Berufswahl zu finden.

Von der Freizeitgestaltung und der Zugehörigkeit zu Clubs und religiösen Vereinigungen schwenkte er unvermittelt auf mein Verhältnis zur Selbstbefriedigung und zur Sexualität überhaupt.
Da endlich fasste ich mir ein Herz und wurde laut.
“Es geht doch nicht darum, sondern nur um meine Angst im Tunnel, weil diese blöde Bahn immer stehen bleibt, wenn irgendein Nichtskönner die Signale falsch gestellt hat!”

Aber da wurde der Herr Doktor ganz, ganz milde und väterlich und monologisierte längere Zeit (liebe Krankenkasse, sei nicht böse und übernimm bitte die Kosten dafür!) über den Zusammenhang zwischen Psyche, sozialem Umfeld und Essverhalten.

Ziemlich zerknirscht gab ich danach weiter Auskunft über gescheiterte und bestehende Partnerschaften, Wohnsituation und Stuhlgang, verneinte guten Gewissens Seh- und Hörstörungen und gab gelegentlichen Weinkonsum zu.

Nach langer, langer Zeit – nie hatte sich ein Arzt soviel davon genommen für mich, das machte entweder mein interessanter Fall oder die kürzlich abgeschlossene Privatversicherung – schien er zufrieden, blickte mich wohlwollend an und verschrieb mir Benzoediazepine.

Die trage ich nun immer in einem Etui bei mir, gleich neben den Streifenkarten für die städtische U-Bahn, die sich langsam rosa färben, weil die Pillen zerbröseln. Ich drücke das Etui nämlich immer ganz, ganz fest, wenn die Bahn mit einem plötzlichen Ruck zum Stehen kommt ...

© Pearl aka Gisa

P.S. Ich schwöre: dies ist ein Tatsachenbericht!

Letzte Aktualisierung: 29.06.2006 - 08.11 Uhr
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